Von Martin Engelberg
Auch wenn viele Menschen in unserer Gemeinde von der Materialschlacht und dem zum Teil tiefen emotionalen Niveau im Vorfeld der vergangenen IKG-Wahlen irritiert waren, eines ist sicher: Diese Wahl hat die Menschen in unserer Gemeinde beschäftigt wie seit Langem nichts mehr, und sie hat einige bemerkenswerte Trends für die Zukunft hervorgebracht.
Allein die Personalien der 24 neuen Vorstandsmitglieder sprechen eine deutliche Sprache: Sie sind allesamt bereits nach der Shoa geboren. Ihr Durchschnittsalter beträgt nicht einmal 45 Jahre – das ist nachgerade sensationell für eine solch altehrwürdige Institution. Als ich vor rund 30 Jahren zum ersten Mal in diesen Vorstand gewählt wurde, war ich wahrscheinlich das jüngste je gewählte Vorstandsmitglied. Das Durchschnittsalter betrug damals gefühlte 75 Jahre.
Ein Armutszeugnis stellt leider die Zusammensetzung nach Geschlechtern dar: Erschreckenderweise stehen im neugewählten Vorstand vier Frauen einer Übermacht von 20 Männern gegenüber. Auf diesem Gebiet haben die orthodoxen Wahllisten und jene der Zuwanderer gehörigen Nachholbedarf. Sie haben keine einzige Frau in ihren Reihen.
Die Gruppen der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, also insbesondere die bucharischen Juden und jene aus Georgien, verzeichneten ordentliche Zugewinne. Sie nehmen künftig ein Drittel der Vorstandssitze ein. Den Anspruch, den Präsidenten der Gemeinde zu stellen, erhoben sie nicht. Der Trend ist jedoch offensichtlich: Unter Kindern und Jugendlichen stellen diese Gruppen bereits jetzt die Mehrheit.
Hinter vorgehaltener Hand wurde unter Aschkenasim bereits eine Machtübernahme in der Gemeinde durch diese Zuwanderer der letzten Generation herbeigefürchtet. Die Wahrheit ist: Wenn die Gemeindeführung weiterhin versucht, diese Gruppen als Bittsteller und willfährige Mehrheitsbringer zu behandeln, werden sich diese das – mit geballter Faust in der Tasche – vielleicht noch eine Legislaturperiode gefallen lassen.
Der richtige Weg ist jedoch ein anderer: Durch engeren Kontakt miteinander, aufgrund des Arbeitens an gemeinsamen Projekten, ist es uns von der Gruppe CHAJ-Jüdisches Leben bereits gelungen, die Zusammenarbeit mit der jüngeren Generation der Bucharen, Georgier, Kaukasier usw. auf eine völlig neue Basis zu stellen. Durch das Verstehen und Eingehen auf die jeweiligen Bedürfnisse aller Gruppen im Rahmen einer ehrlichen gemeinsamen Tätigkeit wird es gelingen, die Arbeit in und für unsere Gemeinde auf eine gemeinschaftliche Ebene zu bringen. Dann wird der befürchtete Putsch ausbleiben.
Die Wahllisten der „alteingesessenen“ Wiener Juden, also jener, deren Eltern bzw. Großeltern sich nach dem Ende der Nazizeit, vor allem aus den ehemaligen Kronländern der Monarchie kommend, in Wien niederließen, stellen noch immer die Mehrheit von 13 der 24 Vorstandssitze. Diese verteilen sich jedoch auf vier Parteien. Zwei von diesen, die Liste CHAJ-Jüdisches Leben, mit der ich kandidierte, und die Initiative Respekt, traten bei dieser Wahl zum ersten Mal an und erreichten aus dem Stand drei bzw. zwei Sitze. Das Signal ist mehr als deutlich: Die Menschen in unserer Gemeinde wollen eine Kultusgemeinde, in der sie sich zu Hause fühlen können und die sich nicht nur auf immer neue Immobilienprojekte konzentriert. Gewünscht ist eine Gemeinde, wo respektvoll miteinander umgegangen wird, wo Demokratie gelebt wird und Transparenz herrscht. Mit dieser Agenda sind letztlich diese beiden Gruppen angetreten, und ihr Wirken wird in den nächsten Jahren sicher spürbar werden.
Atid, die Partei von Ex-Präsident Muzicant und des von ihm favorisierten Nachfolgers Deutsch, verlor ein Drittel ihrer Stimmanteile. Das ist einerseits als deutliches Zeichen für den Wunsch nach Veränderungen bei den Inhalten, dem Stil und der Gebarung der jüdischen Gemeinde zu verstehen. Andererseits ist es auch als ein Zeichen des Dankes und der Anerkennung für die Leistungen von Muzicant zu sehen, sonst hätten die Stimmverluste noch viel deutlicher ausfallen können. Sehr bedauerlich ist das Ausscheiden der Misrachi-Liste. Nach vielen Jahrzehnten Präsenz und aktiver Arbeit im Kultusvorstand fehlten der Misrachi keine zehn Stimmen zum Erreichen eines Mandates.
Die Koalitionsverhandlungen nach geschlagener Vorstandswahl verliefen sehr intensiv und schwierig. Atid hatte zumindest Teile der Bucharen und die Georgier bereits lange vor der Wahl in Koalitionsvereinbarungen gedrängt, aus denen sich diese nicht mehr befreien konnten. Es ist vor allem dieser Vorgangsweise zu verdanken, dass Ossi Deutsch wohl zum Präsidenten gewählt wird. (Die Wahl des Präsidenten ist zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses noch nicht erfolgt.) Er wird jedoch mit einem Kultusvorstand konfrontiert sein, der seine Aktivitäten viel kritischer und aufmerksamer beobachten und hinterfragen wird.