Der Historiker Rutger Bregman will in „Im Grunde gut“ eine neue Geschichte der Menschheit erzählen. Gelingt ihm der Versuch, ein pessimistisches Menschenbild angesichts von Terroranschlägen, einer Pandemie und Verschwörungsmythen zu korrigieren? Eine Betrachtung aus jüdischem Blickwinkel.
Von Ronni Sinai
Zugegeben, anfangs fiel es mir schwer, mich auf die Ausführungen Bregmans einzulassen. Worauf will er hinaus? Vorangestellt findet sich ein Zitat von Anton Tschechow: „Der Mensch wird erst dann besser, wenn Sie ihm zeigen, wie er ist.“ Folgend steigt er im Prolog in Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs ein. Hitler – so wie auch Stalin, Mussolini, Churchill und Roosevelt – habe sich Gustave Le Bons Buch Psychologie der Massen bedient, wonach der Mensch in Ausnahmesituationen mehrere Stufen der Zivilisation herabfalle und Gewalt sowie Panik um sich griffen.
Bregman widerlegt dies anhand mehrerer historischer Ereignisse. Eine der für ihn wichtigsten Erkenntnisse ist die Beobachtung, dass Menschen bei Bedrohung eher zusammenrücken als in Panik verfallen. Und er zitiert den Biologen Frans de Waal: Es sei „ein hartnäckiger Mythos, der Mensch sei von Natur aus egoistisch und aggressiv“. De Waal nannte diesen Mythos Fassadentheorie.
Bemerkenswert finde ich im Übrigen die 45 (!) Seiten kleingedruckter Quellenangaben, die dem Buch hintangestellt sind. Ich denke, Bregman wollte seine penible Recherche belegen, um dem Verdacht der Spekulation zu entgehen.
Etwas langatmig gestaltet sich die fiktionale Erzählung Der Herr der Fliegen von William Golding, in der sich eine Gruppe von Kindern, ausgesetzt auf einer Insel ohne Zivilisation und Regeln, in Bestien verwandelt. Die beliebte Jugendlektüre war in den 1950er Jahren ein Bestseller. Bregman entlarvt den Autor allerdings als depressiven Alkoholiker, der seine Kinder schlug.
Später auch auf Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau eingehend, gelangt Bregman zur Erkenntnis, dass die Menschheit in ihrem Ursprung äußerst friedliebend war – bis zum Zeitpunkt des Sesshaftwerdens und der Ressourcenverteidigung, also bis zur Verteidigung des Besitzes. Man neigt spätestens an dieser Stelle dazu, den Autor links zu verorten. Kann man, muss man aber nicht – und darf über Sinn und Unsinn des Kapitalismus nachdenken, ohne freilich zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen.
Der zweite Teil des Buches nennt sich Nach Auschwitz und lässt bereits die Erklärung erahnen, wie die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes möglich sein konnten, dazu in einem zivilisierten Land, das Kant und Goethe hervorgebracht hat, wenn doch der Mensch im Grunde gut sei. Bregman analysiert das berühmte Experiment des damals erst 28-jährigen Psychologen Stanley Milgram mit seiner Schockmaschine: 65 Prozent der vermeintlichen Tutoren folgten den „Anweisungen“ des Übungsleiters, den Schülern Stromschläge für falsche Antworten zu versetzen, bedingungslos; daraus schloss Milgram – übrigens selbst Jude –, dass die meisten von uns in der Lage wären, Menschen in ein Konzentrationslager zu schicken und zu töten, weil sie ja nur Befehlen gehorchten. So verteidigte sich auch Adolf Eichmann bei seinem Prozess in Israel. Die jüdische Philosophin und Prozessbeobachterin Hannah Arendt war schockiert über dessen „Normalität“ und prägte den Begriff von der Banalität des Bösen.
Nun erzählt Bregman aber eine andere Geschichte, nämlich die vom Interview des niederländischen SS-Mannes Willem Sassen in Argentinien, wo sich Eichmann bis zu seiner Entführung durch den israelischen Geheimdienst versteckt hielt. Und da war keine Rede von Reue oder blinder Befehlsausführung, Eichmanns fanatische Überzeugung trat offen zutage: „Ich werde lachend in mein Grab springen, weil ich weiß, dass ich sechs Millionen Feinde des Reiches in den Tod getrieben habe.“ Er war überzeugt davon, auf der richtigen Seite gestanden und Gutes getan zu haben, so Bregman. Die Befehle Hitlers wären gar nicht so präzise und formell gewesen, eher vage. Auschwitz wäre der Endpunkt eines langen historischen Prozesses gewesen, in dem sich das Böse immer besser als das Gute tarnte. Schuldig bleibt der Autor allerdings die Erklärung, was denn an Eichmann und seinen Wegbegleitern nun „im Grunde gut“ gewesen sein soll.
Dennoch ist dies für mich eine der wichtigsten und hochaktuellen Erkenntnisse des Buches. Ich war lange Zeit der Ansicht, es handle sich bei Attentätern, Diktatoren und all den Verschwörungstheoretikern wahlweise um Monster oder Irre. Bregman präsentiert uns eine andere Sichtweise auf das vermeintlich Böse, geizt jedoch nicht mit ermutigenden Erzählungen, wie sich Menschen gerade in Krisensituationen von ihrer besten Seite zeigen können – solidarisch und erkennend, dass Zusammenhalt und Gruppenzugehörigkeit nicht Ausgrenzung und Verfolgung des jeweils Anderen bedeuten.
Im Grunde gut
Rowohlt, Hamburg 2020
480 S., EUR 24,–