Der Einfluss der Ultraorthodoxen in Israels Politik bleibt groß. Dennoch wird die Gesellschaft liberaler – und das hat auch mit Handys zu tun.
Von Maria Sterkl
Der Zorn war groß. „Das ist ein Angriff auf die Heiligkeit der Familie“, ereiferte sich die Partei Vereinigtes Thora-Judentum in ihrer Presseaussendung, und einer ihrer Abgeordneten schäumte: „Das wird Folgen haben!“ Was die Gemüter der ultraorthodoxen Parlamentarier derart erhitzte, war ein Votum, das „schädliche Behandlungen“ an Homosexuellen verbieten sollte. Denn in Israel, anders als in Österreich, ist es immer noch rechtens, Schwule und Lesben einer sogenannten Konversionstherapie zu unterziehen, oft auf Druck von deren Eltern.
Dabei bläuen Psychologen, Rabbiner oder selbsterklärte Heiler den Betroffenen ein, dass ihre sexuelle Orientierung erstens eine Sünde und zweitens etwas sei, das sich einfach per „Therapie“ beseitigen lasse. Mediziner warnen seit Jahren davor, dass solche Methoden zu schweren Schäden führen können und das Suizidrisiko erheblich steigern. Mit einer knappen Mehrheit sprach sich das israelische Parlament deshalb im Juli in erster Lesung für ein Verbot solcher „Behandlungen“ aus – möglich war das nur, weil auch Abgeordnete der Regierungsparteien dafür stimmten.
Ob das Verbot auch die weiteren Abstimmungen übersteht, ist unklar. Trotzdem war schon dieses erste Votum den ultraorthodoxen Vertretern in der Knesset Anlass für ihre Drohung, die Koalition platzen zu lassen. Warum dieser Eifer, warum der Druck? Eine Antwort lautet: Because they can – weil sie es können. Die Ultrafrommen stellen im Parlament zwar nur 16 von 120 Abgeordneten, ihre Bedeutung für die israelische Politik ist aber ungleich größer. Niemand kann an ihnen vorbei regieren. „Ihr Einfluss ist auch in der aktuellen Regierung nicht geringer geworden“, sagt Yedidia Stern vom Israel Democracy Institute. Weiterhin sind es die Ultraorthodoxen, die vorgeben, wer in Israel einwandern oder heiraten oder beerdigt werden darf, welche Tage arbeitsfrei sind und welche Tiere gezüchtet werden dürfen – und alle müssen sich daran halten.
Liberalisierungsschub
Trotzdem scheint es, als beginne der Schleier der allgemein verordneten Frömmigkeit rissig zu werden. In Tel Aviv touren plötzlich auch am Schabbat Busse herum, ein Pilotprojekt, das sich nach und nach zum Regelbetrieb auswachsen könnte – zum Graus der Ultraorthodoxen. Laut Umfragen ist eine breite Mehrheit der Israelis entschieden dafür, dass künftig auch im Regelbetrieb Busse und Züge am Schabbat fahren dürfen. „Früher oder später wird das kommen“, glaubt Anat Hoffman vom Israel Religious Action Center, einer NGO von Reformjuden, die sich für eine Liberalisierung des Rechts einsetzt – unter anderem, was das Heiraten betrifft. Was stimmt sie hoffnungsfroh?
Auch wenn die Frommen im Parlament weiter Zünglein an der Waage spielen, merke man, dass durch Israels Gesellschaft ein Liberalisierungsschub gehe, meint Yedidia Stern. Paradoxerweise gehe dieser Trend von den Orthodoxen aus. „Globalisierung und Internet macht auch vor den Ultraorthodoxen nicht halt“, sagt Stern. Diese seien viel heterogener, als es das säkulare Israel wahrhaben möchte. Da gibt es jene Eltern, die zwei Handys haben: ein Koscher-Phone, das sie dann verwenden, wenn die Kinder zuschauen – und ein reguläres Smartphone, mit allerlei Spielen und sonstigen Apps, das sie aus der Tasche ziehen, wenn die Kinder schlafen. Die Corona-Krise habe den Digitalisierungsschub in den orthodoxen Kreisen noch beschleunigt: „Viele haben gesehen, dass Handys nicht nur zur Unterhaltung da sind, sondern auch helfen, am Leben zu bleiben“ – weil die täglich neuen Infos über Ausbreitung und Gefahren des Virus und den Schutz vor einer Ansteckung auch in frommen Kreisen via WhatsApp verschickt wurden. „Und wer sich in Covid-Zeiten ein Handy zugelegt hat, gibt es auch danach nicht mehr her“, sagt Stern.
Klientelpolitik
Wie sich die Digitalisierung auf die Orthodoxen auswirkt? Sie werden nicht weniger fromm, sagt sie. Aber eine Öffnung nach außen sei spürbar, wenn etwa mehr Orthodoxe Mathematik oder Englisch studieren, Jobs in der Hightech-Branche annehmen oder aber Frauen weniger Kinder bekommen. Letztlich wirke sich das auch auf die Politik aus. Der Einfluss der Orthodoxen nehme andere Formen an. Schon heute würden Ultraorthodoxe zum Teil weniger Energie darauf verwenden, die gesamte Gesellschaft an ihre Regeln zu binden: „Sie konzentrieren sich darauf, Klientelpolitik für ihresgleichen zu betreiben“, also bestimmte Privilegien zu behalten, wie etwa die Befreiung vom Militärdienst. „Sie sehen mehr und mehr ein, dass es keinen Sinn hat, den Säkularen etwas vorzuschreiben.“ Bei Fragen des öffentlichen Lebens, die weniger tief in das ultraorthodoxe Leben eingreifen, wie etwa der Öffnung des Verkehrs am Schabbat, sei es dann nicht mehr so wichtig, sich dagegen zu stemmen.
„Es gibt Früchte, die höher, und Früchte, die niedriger hängen“, sagt Anat Hoffman. Und auch sie ist überzeugt: Öffis am Schabbat – diesen Granatapfel werde man bald pflücken. Schlechter sehe es bei der freien Wahl bei Ehe und Scheidung aus. „Das ist eine Frucht“, fürchtet sie, „die sehr hoch hängt.“ Die Widerstände seien einfach zu groß. Wie hitzig die Debatte geführt wird, illustriert ein Zitat des aktuellen Bildungsministers Rafi Peretz, der die Zunahme interreligiöser Ehen einmal als „zweiten Holocaust“ bezeichnete. Solange die Widerstände so groß sind, müssen sich interkonfessionelle Paare, Nicht-Orthodoxe und Homosexuelle auch weiterhin ins Ausland begeben, um sich dort vermählen – oder scheiden – zu lassen.
Stern ist überzeugt davon, dass man in der Frage, ob auch Ultraorthodoxe den Militärdienst ableisten müssen oder nicht, nur gemeinsam eine Lösung finden werde können, gegen den Willen der stramm religiösen Minderheit gehe nichts. Wie eine solche Lösung aussehen könne? Stern hält ein Modell für denkbar, in dem Ultraorthodoxe den Militärdienst in ihrer Gemeinde leisten. Und darauf trainiert werden, sich im Ernstfall „als schützende Engel für die eigene Community“ zu präsentieren. In diesem Szenario könnten sich modern-orthodoxe Fromme durchaus motiviert fühlen, einen Beitrag zur Verteidigung zu leisten, glaubt sie. Längerfristig könnte dieses Modell bewirken, dass der Wehrdienst nicht mehr als gar so abschreckend empfunden wird. Und davon profitieren letztlich alle.