Die von der israelischen Regierung geplante Annexion des Westjordanlandes sorgt international für Diskussionen. Falls Israel seine Pläne wahrmacht, hat der Frieden in Nahost keine Chance, sagen die einen. Das Festhalten an Maximalforderungen seitens der Palästinenser steht einer solchen friedlichen Lösung auf lange Sicht im Weg, so die anderen. Zwei gegensätzliche Positionen als aktueller Kommentar zur Lage.
Gefährlich und dumm
Von Eric Frey
Es war kein Zufall, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu seine Ankündigung, am 1. Juli mit der Annexion von Gebieten im Westjordanland zu beginnen, nicht wahrgemacht hat. Es ist nicht sicher, ob es überhaupt zu einem solchen Schritt kommt. Und dafür gibt es gute Gründe: In der langen Geschichte politischer Irrungen im israelisch-palästinensischen Konflikt findet man wenige Vorhaben, die unsinniger sind als die Annexionspläne der israelischen Rechtsparteien.
Dass die sogenannte Ausweitung der Souveränität, wie es in der offiziellen israelischen Sprachregelung heißt, gegen das Völkerrecht verstößt, ist dabei noch das geringste Übel. Israel hat sich seit seiner Gründung nur wenig um die Einhaltung völkerrechtlicher Regeln gekümmert, wenn es um nationale Interessen ging. Die Verletzung ist allerdings unbestritten: Auch wenn man die traditionelle israelische Position vertritt, dass die 1967 eroberten Gebiete nicht besetzt, sondern rechtlich umstritten sind, gibt es keine Rechtfertigung für eine einseitige Annexion ohne Friedenslösung.
Aber dieser Völkerrechtsverstoß wäre ein besonders provokantes Signal, das weltweit auf Ablehnung und Empörung stoßen würde. Auch wenn israelische Politiker gerne so tun, als müssten sie sich um die Meinung anderer nicht kümmern, braucht das Land Verbündete und leidet unter internationaler Isolation.
Der Schritt wäre wohl auch für jene arabische Staaten, die sich gerne mit Israel arrangieren, ein Schritt zu viel. Der Beginn der Annexion würde die ohnehin schon wackelige Position, dass ein Friedensschluss mit Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates irgendwann in der Zukunft möglich ist, ad absurdum führen. Israel würde damit viel politisches Kapital verspielen, das es auch in der Konfrontation mit dem Iran benötigt.
Die einzige Regierung von Bedeutung, die eine Annexion unterstützen könnte, wäre die in Washington. Aber auch da läuft die Zeit ab. Angesichts der Umfragen ist die Wiederwahl von Donald Trump zunehmend unwahrscheinlich, und eine Regierung unter dem Demokraten Joe Biden würde sich hier nicht an fragwürdige Zusagen des Vorgängers gebunden fühlen.
Aber selbst mit Trump könnte es sich Netanjahu verscherzen. Denn der von diesem ausgearbeitete Nahostplan sieht die Annexion von ungefähr 30 Prozent des Westjordanlands (vor allem Gebiete mit jüdischen Siedlungen und das Jordantal) als Teil eines Verhandlungsprozesses mit den Palästinensern vor. Und den gibt es nicht und wird es nach dem absoluten Nein der Palästinenserführung zu dem Plan noch viel weniger geben. Aber eine Annexion ohne Friedensprozess wäre auch für die Trump-Regierung ein Problem, weil dadurch die Beziehungen zu Saudi-Arabien und anderen US-Verbündeten in der Region schwer belasten werden könnten.
Es ist dieser Aspekt, der auch die radikalen Siedler gegen die Annexionspläne aufbringt. Denn sie sehen in dieser Änderung des Status quo einen Schritt zur Gründung eines Palästinenserstaates, wie ihn auch Trumps Nahostplan formal vorsieht. Und das lehnen sie vehement ab.
Doch diese Sorge dürfte unbegründet sein. Denn ein Palästinenserstaat, wie Trump und sein Schwiegersohn Jared Kushner ihn vorgesehen haben, wäre weder lebensfähig noch für die Palästinenser und die arabische Welt akzeptabel. Die Annexion würde viel eher dazu dienen, die israelische Kontrolle über das gesamte Westjordanland langfristig einzuzementieren.
Das aber bringt ein Szenario näher, vor dem sich die Israelis am meisten fürchten – den binationalen Staat. Dass Israel mehr als zwei Millionen Palästinensern, die de facto unter seiner Herrschaft leben, grundlegende Bürgerrechte verwehrt, lässt sich nur rechtfertigen, wenn man es als Provisorium auf dem Weg zu einer Friedenslösung sieht. Doch die Annexion zerstört den Mythos des Provisoriums. Und für einen Staat, der sich als Demokratie definiert und so von der Welt gesehen werden will, gibt es keinen legitimen Grund, große Teile der Bevölkerung rechtlos zu halten. Denn sonst verwandelt sich Israel tatsächlich in das, was viele Kritiker der Besatzungspolitik schon lange behaupten: einen Apartheid-Staat.
Die Annexion würde den internen und externen Druck, allen Bewohnern volle Bürgerrechte zu verleihen, deutlich erhöhen. Das ist auch der gewichtigste Grund, warum ein dezidierter Falke wie der US-Politologe Daniel Pipes trotz seiner grundsätzlichen Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik die Annexion ablehnt.
Eine Ausdehnung der israelischen Souveränität auf Teile des Westjordanlandes gehört in die Kategorie von Handlungen, vor der Hans Morgenthau, der Vater der modernen Schule des Realismus, stets gewarnt hat: eine Politik der Symbolik, die Israel keine strategischen Vorteile, aber viele Nachteile bringt. Man muss kein Peacenik sein, um das für gefährlich und dumm zu halten.
Eine komplizierte Geschichte
Von Martin Engelberg
Erstens geht es um eine Frage des Völkerrechts: Wer hat einen legalen Anspruch auf das Westjordanland? Ist die Frage wirklich so einfach zu beantworten? Nein, mitnichten! Die völkerrechtliche Situation ist gar nicht so eindeutig. Dessen letzter legaler Souverän war nämlich Großbritannien. Als das Vereinigte Königreich das Mandat des Völkerbundes 1948 beendete, okkupierte Jordanien – ohne Rechtsanspruch – das Westjordanland und hielt dieses bis zum Sechstagekrieg 1967 besetzt. Da war keine Rede von der Einrichtung eines palästinensischen Staates.
Die nach dem Waffengang 1967 beschlossene, richtungweisende UN-Sicherheitsratsresolution 242 legte zwei Dinge fest: Alle Staaten (Anmerkung: gemeint war insbesondere Israel) hätten das Recht, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen frei von Androhungen oder Akten der Gewalt in Frieden zu leben.
Weiters müsse sich Israel aus Gebieten zurückziehen, die es erobert hatte. Von großer Bedeutung ist hier, dass bei der Formulierung ganz bewusst die unbestimmte Bezeichnung „aus Gebieten“ und nicht „aus den Gebieten“ gewählt wurde. Dies ließ also offen, aus welchen Teilen des Westjordanlandes Israel sich zurückzuziehen hätte – vor allem unter dem Aspekt der Etablierung sicherer Grenzen. Und solche sicheren Grenzen waren die Waffenstillstandslinien von vor 1967 ganz sicher nicht. Der Nahost-Thinktank „mena-watch“ hat übrigens vor kurzem zu diesem Thema eine ganz hervorragend recherchierte und fundierte neunteilige Serie veröffentlicht.*
Genau darauf basiert das Narrativ Israels, dass es sich im Fall des Westjordanlandes um „umstrittene Gebiete“ (disputed territories) handle. Dieser Position hat sich zuletzt die US-Regierung angeschlossen.
Zweitens gibt es bei dieser Frage eine politische Ebene. Da geht es um eine wirksame Verhandlungsstrategie. Als ausgezeichnetes Vorbild könnten die österreichischen Gerichte dienen: Hier schaffen es Richter und Mediatoren immer öfter und höchst erfolgreich, die Streitparteien zu einem vernünftigen Vergleich zu bringen. Das Rezept? Sie führen beiden Streitparteien sehr plastisch vor Augen, dass die Streitfrage nicht weiß oder schwarz ist, dass auch der Schiedsspruch letztlich immer ein Kompromiss sein wird, die beiden Parteien bis dahin aber so viel Zeit, Energie und Geld verlieren werden, dass es viel sinnvoller wäre, gleich jetzt einen Kompromiss zu finden. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie gut das funktioniert.
Was geschieht nun im Fall des israelisch-palästinensischen Konflikts? Die USA und zuletzt auch einige arabische Länder machen den Palästinensern zunehmend klar, dass sie das Festhalten an Maximalforderungen (Überlassung des gesamten Westjordanlandes, Teilung Jerusalems, Rückkehrrecht von Flüchtlingen, auch solchen, die seit Generationen nicht mehr in Israel gelebt haben usw.) einer Lösung keinen Schritt näherbringt. Die Palästinenser müssten sich mit Israel an den Verhandlungstisch setzen, den sie 2010 verlassen haben.
Einige EU-Staaten wie Frankreich, Belgien, Schweden, Irland und andere machen jedoch genau das Umgekehrte: Bildlich gesprochen, drohen sie einer und sanktionieren eine Streitpartei (Israel) immer wieder aufs Neue, während sie der anderen Streitpartei (den Palästinensern) ständig versichern, dass ihr Anspruch gerechtfertigt sei. Und sie unterstützen Letztere dabei auch noch politisch und finanziell, damit diese ihr Narrativ nur ja nicht aufgibt. In einer merkwürdigen Verdrehung wird plötzlich von Israel verlangt, den Status quo aufrechtzuerhalten, nachdem man es jahrzehntelang gedrängt hat, nicht daran festzuhalten.
Die EU hätte es derzeit sogar (wieder einmal) in der Hand, zu einem effektiven Mitakteur im Nahen Osten zu werden, wenn sie die Israel-Politik nicht notorischen Israel-Kritikern wie dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell überlässt. Dessen Vorgängerin Federica Mogherini wurde in Israel nicht einmal empfangen, und Borrell wird es wohl nicht anders ergehen.
Einige europäische Länder wie insbesondere Österreich, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Zypern, Lettland, Rumänien und Bulgarien gehen zunehmend neue Wege. Mit einem größeren Verständnis für die schwierige Sicherheitssituation Israels und der Bereitschaft, den Palästinensern zu signalisieren, dass auch sie zu Kompromissen bereit sein müssen. Mit der klaren Botschaft – wie auch bei den österreichischen Gerichten –, dass die Zeit nicht für, sondern gegen sie arbeitet.
Die Palästinenser hätten keine Gelegenheit verpasst, eine Gelegenheit zu verpassen, sagte der ehemalige israelische Außenminister Abba Eban schon vor vielen Jahren. Es ist genau hundert Jahre her, dass der Vertrag von Sèvres einen autonomen Staat für die Kurden vorsah. Heute weiß das kaum noch jemand, und die Kurden gelten inzwischen als eines der größten Völker ohne eigenen Nationalstaat.
Sollen die Palästinenser nicht das gleiche Schicksal erleiden wie die Kurden, dann gäbe es jetzt eine weitere historische Chance, einen solchen am Verhandlungstisch zu erlangen. Natürlich mit Abstrichen an ihren bisherigen Erwartungen.
Genau dabei könnten die Europäer die Palästinenser unterstützen und damit zu einem Mitakteur im Nahen Osten werden. Sicher gelingt das nicht mit Drohungen und Sanktionen gegenüber Israel, sondern mit dem Einfordern des Realitätsprinzips, dem Verständnis für die Narrative beider Seiten, dem Drängen auf eine kompromissbereite Haltung und nicht zuletzt: der Zusage an Israel und an das entstehende palästinensische Staatsgebilde, diesen die volle wirtschaftliche Unterstützung und Integration Europas zukommen zu lassen.
Dies könnte eine tragfähige Brücke Europas in den Nahen Osten bilden, die zu einer Allianz des Friedens, der Freiheit und Prosperität werden könnte.
*abrufbar unter https://www.mena-watch.com/israels-souveranitat-und-volkerrecht-9-9-illegale-siedlungen