Der Chanukka-Kalender meiner Mutter oder wie deutsches Wirtschaftswunder und jüdisches Selbstbewusstsein für ein Jahr miteinander verschmolzen.
Von Miriam Tenner
Volksschule 1966 in Deutschland. „Was? Du feierst kein Weihnachten? Wie kann das denn sein?“ Etwas beschämt sage ich: „Wir sind Juden und feiern kein Weihnachten.“ „Aha“, ist die Antwort.
Am nächsten Tag. „Das kann nicht sein. Ich habe meinen Papa gefragt und der sagte mir, es gibt keine Juden in Deutschland. Die sind alle weg. Fort.“ „Aber ich bin doch nicht weg, ich bin doch da.“
Jetzt war es heraus – von dem Moment an haben es alle in der Schule gewusst. Ich bin die Jüdin und ich feiere kein Weihnachten. Unfreiwillig machte mich diese Tatsache zu einem exotischen Aushängeschild. Als Achtjährige wurde ich von Klasse zu Klasse gereicht, um Referate über das Judentum und seine Bräuche zu halten. Ungläubig wurde ich bestaunt und mit unzähligen Fragen bombardiert. Aber die Frage, die mich als Kind am meisten beschäftigte – „Wieso haben wir nicht wenigstens einen klitzekleinen glitzernden Weihnachtsbaum?“ –, konnte ich nicht schlüssig beantworten.
Also begann ich über unser Chanukkafest zu reden und triumphierend erzählte ich meinen Klassenkameraden: „Ihr feiert nur einen Heiligen Abend. Wir haben aber acht Tage Chanukka.“ Das hatten die anderen nicht! Nun, die Retourkutsche kam schnell und heftig: „Aber was ist mit Advent? Gibt es bei euch auch so einen schönen Schokokalender mit 24 Fenstern?“ Jetzt musste ich passen. Was mache ich jetzt? In dieser Konkurrenz unter Kindern hatte ich ganz offensichtlich den Kürzeren gezogen, was mich unendlich traurig machte, denn ich spürte instinktiv, dass ein Nachgeben in dieser Frage meine „Exklusivposition“ in der Schule (an die ich mich mittlerweile gewöhnt hatte) sicherlich geschwächt hätte.
Was ich nicht wusste: Meine Mutter machte sich offensichtlich zu dieser Zeit auch Gedanken, wie ein Gegengewicht zu dem Weihnachtsrummel aussehen könnte, der in den Sechzigerjahren im Wirtschaftswunderland Deutschland bereits begann und dem man sich nicht so einfach entziehen konnte. Die Idee, einfach auch Weihnachten zu feiern, kam uns nicht in den Sinn, da die religiöse Bedeutung dieses Festes nichts mit uns zu tun hatte – auch wenn das Drumherum so verlockend schien.
Genau 24 Tage vor Chanukka überraschte sie mich mit einem Chanukka-Kalender. Es waren 24 fein säuberlich eingepackte und mit Nummern versehene Geschenke, die an einer langen Schnur aufgefädelt waren. So konnte ich mir jeden Tag ein Päckchen herunterschneiden. An diesen Kalender erinnere ich mich noch sehr genau. Es gab ihn nur einmal und er kam für mich zur richtigen Zeit.
Für meine Kinder wollte ich ihn auch basteln, aber mit steigendem jüdischem Selbstbewusstsein und öffentlich wirksamem Anzünden der Chanukkiot sind meine Kinder dann ohne diesen Kalender aufgewachsen. Aber die Frage, wie gehen wir mit dem „Schwergewicht Weihnachten“ um, ist geblieben. Auch an der Frage: „Was? Du feierst kein Weihnachten?“ hat sich nichts geändert.