Der Jubel über Massenmorde, Vergewaltigungen und Entführungen ist ein Missbrauch von Demokratie und Meinungsfreiheit. Auch Relativieren und Abwiegeln nervt.
von Andrea Schurian
Noch waren in Israel die unter Allahu Akbar-Rufen ermordeten und geschändeten Menschen nicht einmal beerdigt, schon kamen die Versteher und Verharmloser mit Relativierungsprosa und Whataboutismus daher. So wie der Typ im Kaffeehaus. „Na“, sagte er in die Runde und nickte dabei, offenbar ergriffen von der Rafinesse seiner Argumentation, selbstbeifällig mit dem Kopf: „Wenn wir schon über Terror reden, den gibt’s dort wie da. Weißt eh, wer Dr. Goldstein war?“ Ja, weiß ich eh, Baruch Goldstein war ein jüdischer Rechtsradikaler, der 1994 am Grab des Patriarchen in Hebron 29 Palästinenser tötete. Abgesehen von rechtsextremen-religiösen Spinnern verurteilte die überwiegende Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Bluttat. Und mit den Worten, er sei als Israeli zutiefst beschämt, erwies der damalige Ministerpräsident Jitzchak Rabin, dem palästinensischen Volk und dessen Führer, Jassir Arafat, seine Anteilnahme. Ein Jahr später wurde Rabin selbst Opfer eines Attentats. Der religiöse Fundamentalist Jigal Amir erschoss ihn aus Wut über die Osloer Friedensabkommen. Goldstein und Amir: Zwei furchtbare Verbrecher, gewiss. Aber, fragte ich den Typen zurück, weißt du auch alle Namen islamistischer Attentäter, die Busse, Bahnhöfe, U-Bahnen, Flughäfen, Zeitungsredaktionen, Konzerthallen, Kaffeehäuser, Syngogen, Kirchen, Menschen in die Luft gesprengt, mit Flugzeugen die Türme des World Trade Center zum Einsturz gebracht, Städte wie London, Paris, Brüssel, Madrid und Kopenhagen ins Chaos gestürzt, Schrecken und Tod auch in Wien verbreitet haben?
Und während am Wiener Ballhausplatz Solidarität mit Israel bekundet und um die Opfer getrauert wurde, skandierten bei einer illegalen Pro-Palästina-Kundgebung vornehmlich junge Leute, viele davon Migranten der dritten Generation, „From the river to the sea, Palastine will be free“. Menschenrechte? Sind vorgeschoben. Tatsächlich wollen die Hamas und ihre Fans Israel ratzeputz von der Landkarte tilgen. Laut US-State Department liefert das Mullah-Regime, das die Vernichtung des Judenstaates zur Staatsräson erklärt hat, nicht nur Waffen und Technologie, sondern subventioniert mit hundert Millionen Dollar jährlich radikal-islamistische Terrorbanden wie die vom Libanon aus operierende Hisbollah und die Hamas. Die beherrscht seit 2007 den Gaza-Streifen mit einer 30.000 Mann starken, Miliz und missbraucht muslimbruderschaftlich die Zivilbevölkerung als lebende Schutzschilde. Menschenleben sind wertlos, Wahlen gibt es seit einem Vierteljahrhundert nicht, politischen Widerstand ebenfalls nicht. Immerhin wurde am Stephansplatz nicht, wie im australischen Sydney, „Gas the Jews“ gebrüllt, wohl aber „Tod Israel“. Auch Pro-Hamas-Banner tauchten auf. Das ist so pervers, als würden nach rechtsradikalen Massakern Neonazis mit Heil-Hitler-Schildern aufmarschieren. Nach einer Nachdenkpause von sechs Tagen hat sich die Muslimische Jugend Österreichs (mjö) auf Instagram zu Wort gemeldet. „Wir sind sprachlos und bestürzt über die Bilder und Berichte, die uns in den letzten Tagen aus dem Heiligen Land erreicht haben“, heißt es da. Eine klare Distanzierung von den Hamas-Terroristen gibt es nicht, aber: „Für das Töten von ZivlistInnen, Unschuldigen, Alten, Frauen und Kindern darf es niemals eine Rechtfertigung geben – weder politisch noch religiös – nicht in Israel und nicht in Palästina. […] Wir stehen unseren Jugendlichen bei, die Familienmitglieder verloren haben und in Sorge um ihre Familien sind, und fühlen mit unseren jüdischen FreundInnen, die Verwandte & geliebte Menschen in der Region haben.“ Immerhin. Die jungen Kommunisten (KJÖ) hingegen erklärten ihre uneingeschränkte Solidarität mit den „palästinensischen Kampfverbänden“ und deren „Überraschungsangriff auf israelische Militärposten und zionistische Siedlungen“, denn Israel sei nicht „das Opfer in dieser Situation.“ Ähnlich tönte Vorarlbergs Sozialistische Jugend: Sie bekundete kein Entsetzen über den tausendfachen Mord, die Enthauptungen von Babies, die Entführung von unschuldigen Menschen, sondern Israel, das einen „erbarmungslosen Krieg gegen die gesamte palästinensische Bevölkerung“ führe: „Nieder mit der Heuchelei – für die Verteidigung von Gaza!“ Das erinnert an linksbewegte Antifaschisten, die aus Verehrung und Verklärung von PLO-Chef Jassir Arafat das Palästinensertuch zu ihrem modischen Erkennungszeichen machten. Kleiner historischer Exkurs: 1974 hatten die Vereinten Nationen die PLO als alleinige Vertretung der Palästinenser anerkannt, noch im selben Jahr durfte Arafat vor der UN-Vollversammlung sprechen. Im Jahr darauf wurden in Wien während einer Ministerkonferenz der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) von einem sechsköpfigen Terrorkomando 62 Geiseln, darunter elf Erdölminister, genommen, drei Menschen wurden erschossen. Auftraggeber und Initiator war der damalige libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi, ebenfalls ein Schwarm revolutionsberwegter, europäischer Wohlstandskinder. Der vom damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky geleitete Krisenstab stellte Bedingungen für den freien Abzug der Terroristen: Alle Geiseln müssten sich damit einverstanden erklären, ausgeflogen zu werden, alle Österreicher sowie in Österreich lebenden OPEC-Mitarbeiter müssten vor dem Abflug freigelassen werden. Vor dem Abflug schüttelte Innenminister Otto Rösch (SPÖ) nicht nur allen Geiseln, sondern skandalöserweise auch dem Terroristen Ilich Ramírez Sánchez vulgo Carlos die Hand. Arafat und Gaddafi betrieben bekanntlich ein gut frequentierte Terroristen-Trainingslager, wo lernwillige Flugzeugentführer und (Selbstmord-) Attentäter geschult wurden, ehe der PLO-Chef Israels Existenzrecht anerkannte und gemeinsam mit Jitzhak Rabin und Shimon Peres zum Brückenbauer und Friedensnobelpreisträger avancierte.
Doch am 7. Oktober ist der Nahostfriede in weitere Ferne gerückt denn je.
Dass das Blutbad der Hamas eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen offenbar in Feierlaune versetzt, istzutiefst verstörend, dass sich Jüdinnen und Juden – auch in Österreich – wieder unsicher fühlen, erschütternd. Und nein, da gibt es nichts zu relativieren.