Intrige, der neue Roman von Robert Harris, ist ein historischer Thriller, der in die abgezirkelte Welt der Geheimdienste führt und die Geschichte faktentreu und extrem spannend erzählt. Es geht um die Dreyfus-Affäre, die Frankreich an der Wende zum 20. Jahrhundert erschütterte.
Von Herbert Voglmayr
Als 1894 bekannt wurde, dass militärische Geheimnisse an den deutschen Feind verraten worden waren, fand man den Schuldigen im hochrangigen Militär Alfred Dreyfus, einziger Jude im Generalstab. Er wurde in einem Geheimprozess als Landesverräter verurteilt, öffentlich degradiert und lebenslang auf die Teufelsinsel vor Französisch- Guyana verbannt. Die Verurteilung wurde durch gefälschte Dokumente erreicht, die ihm und seiner Verteidigung vorenthalten wurden, da deren Bekanntgabe angeblich zu einem Krieg hätte führen können. Anfangs von Kritikern nur als Justizirrtum betrachtet, wurde das Fehlurteil immer mehr zu einer politischen Affäre. Die Wende brachte Émile Zolas J’accuse (Ich klage an), ein Meisterwerk politischer Publizistik in Form eines offenen Briefes an den Präsidenten der Republik. Seine öffentliche Anklage gegen die Drahtzieher des Komplotts gegen Dreyfus – leitende Offiziere im Generalstab – führte 1899 zur Neuverhandlung des Falles. Erneut schuldig gesprochen, wurde Dreyfus dann aber von der Regierung begnadigt. Endlich wurde dieses zweite Urteil 1906 vom Obersten Berufungsgericht annulliert und Dreyfus freigesprochen. Er kehrte in die Armee zurück und wurde zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.
„Beweismaterial“ gegen Dreyfus
Robert Harris schildert die Ereignisse aus der Perspektive von Oberstleutnant Georges Picquart, der anfangs von der Schuld Dreyfus’ überzeugt war und sich dann zu einer Schlüsselfigur in dessen Rehabilitation entwickelte. Er hatte 1894 den Auftrag vom Kriegsminister, ihm über den Verlauf des Prozesses gegen Dreyfus zu berichten, und wurde 1895 Leiter der „Statistik-Abteilung“, einem geheimen Nachrichtenbüro, das offiziell gar nicht existierte. In dieser Funktion fand er heraus, dass das geheime „Beweismaterial“ gegen Dreyfus von eben dieser Abteilung fabriziert worden war und dass nicht Dreyfus, sondern ein Major Esterházy der Verräter war. Er drängte darauf, Ermittlungen gegen Esterházy einzuleiten und den Fall Dreyfus neu aufzurollen. Als sein Vorgesetzter, General Gonse, zu ihm sagte: „Was kümmert es Sie, ob der Jude auf der Teufelsinsel verrottet?“, erwiderte er: „General, was Sie da sagen, ist abscheulich. Dieses Geheimnis werde ich auf keinen Fall mit ins Grab nehmen.“ Mit dieser Bemerkung war sein Schicksal vorerst besiegelt, er wurde auf Inspektionstour durch die französische Provinz geschickt und dann nach Tunesien versetzt. Da er fürchtete, in der gefährlichen Grenzgarnison ums Leben zu kommen, schrieb er seine Sicht des Falles Dreyfus auf und übergab die Aufzeichnungen während eines Kurzurlaubs in Paris einem befreundeten Anwalt mit der Ermächtigung, einen Regierungsvertreter seiner Wahl darüber zu informieren. Das war einer der Hauptgründe dafür, dass die „Dreyfusards“ Oberwasser gewannen und sich das Blatt zugunsten von Dreyfus wendete.
Parallelen zur NSA-Affäre
Harris’ Roman zielt auch darauf, anhand einer vergangenen Geheimdienstaffäre eine gegenwärtige, die NSA-Affäre, zu kommentieren. In der Tat gibt es einige Parallelen: einen Geheimdienst, der sich der politischen Kontrolle entzieht, Geheimprozesse hinter verschlossenen Türen, Geheimdokumente, die sich als falsch herausstellen, und mit Picquart einen Whistleblower, lange bevor es diesen Begriff gab. Ausgerechnet dieser vorbildliche Offizier, der alle Traditionen der Armee und des Generalstabs verkörperte – wozu auch eine Portion konventioneller Antisemitismus gehörte – wurde zum Vorkämpfer für Dreyfus‘ Rettung. Während die Generäle immer mehr ins Räderwerk der Täuschungen gerieten, eine Lüge mit der nächsten verdeckten, entschied sich Picquart im Konflikt zwischen seiner Redlichkeit und seiner Dienstpflicht gegen Letztere. Sein Sinn für Gerechtigkeit veranlasste ihn dazu, sich über die Wünsche der Generäle hinwegzusetzen und mit den militärischen Tugenden der Disziplin und des Schweigens zu brechen, was die gewohnte Ordnung bedrohte und ihm den glühenden Hass seiner Offizierskameraden eintrug sowie eine Gefängnisstrafe und die unehrenhafte Entlassung aus der Armee. Ein neutraler Beobachter des Prozesses von 1899 schreibt in seinen Erinnerungen, dass die Generäle Dreyfus nicht hassten, lediglich mit kalter, verächtlicher Strenge, manchmal sogar mitleidig von ihm sprachen, während sie über Picquart schon bei der Nennung seines Namens in Zorn gerieten, ihn „hassten, verabscheuten und verfluchten bis zur Raserei“.
Auch Louis Begley thematisiert in seinem Buch Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte unter anderem die böswillige Verfolgung Picquarts und stellt sie in die reiche Tradition der Repressalien gegen Whistleblower der jüngeren Geschichte, die kriminalisiert werden, weil sie Rechtsmissbrauch publizieren, den Regierungsbeamte aus angeblicher Staatsräson begehen. Er zieht Parallelen zwischen den Rechtsverletzungen im Dreyfus-Fall und jenen der Bush-Regierung im Kampf gegen den Terror nach dem nationalen Trauma von 9/11 und geht so weit, Guantánamo als „Teufelsinsel der USA“ zu bezeichnen. Besonders interessant aber ist Begleys Buch wegen der ausführlichen Analyse des politischen und gesellschaftlichen Umfelds, in dem die Dreyfus-Affäre eine eminent politische Bedeutung bekam. Es zeigt, wie Antisemitismus und Rassismus in einer vermeintlich liberalen Gesellschaft funktionieren, damals wie heute, und es beschreibt die literarische Aufarbeitung der Affäre bei Marcel Proust und Anatole France.
Stärkung der republikanischen Institutionen
Da war der Armeekult, der damals in Frankreich grassierte und – nach der demütigenden Niederlage von 1870 gegen Deutschland – den Generalstab als „heilige Arche der Nation“ verehrte. Da waren – nach der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 – die Emanzipation der Juden und ihr Aufstieg in der französischen Gesellschaft, anders als im übrigen Europa. Und da war der Kampf der antirepublikanischen und antisemitischen Rechten gegen die verachtete Republik, der mit einer Welle des Antisemitismus ab den 1880er-Jahren einherging und ein gesellschaftliches Klima schuf, in dem schlampige Ermittlungen zu einer vorschnellen Anklage des Juden Dreyfus führten. Wenn es kein französischer Offizier war, hinterließ sein Landesverrat keinen Fleck auf der Ehre des Generalstabs, denn für die antisemitische Propaganda waren Juden keine echten Franzosen.
Ab 1902 zeichnete sich ein politischer Umschwung ab, der mit dem Wahlsieg der antiklerikalen Radikalen Partei begann und zu einer Stärkung der republikanischen Institutionen führte. Die nationalistische und kirchentreue Rechte verlor politisch zunehmend an Boden, antirepublikanische Generäle wurden zwangspensioniert und die Armee unter strenge staatliche Kontrolle gebracht. 1906 wurde Georges Clemenceau nicht zuletzt deshalb, weil er eine führende Rolle als Dreyfusard gespielt hatte, Ministerpräsident und ernannte Picquart zum Kriegsminister. Als Dreyfus ihm zu seinem Ministeramt gratulierte, sagte Picquart, Kabinettsmitglied sei er wegen Dreyfus geworden, worauf dieser erwiderte: „Nein, nicht deshalb, sondern weil Sie Ihre Pflicht getan haben.“
Robert Harris
Intrige
Heyne Verlag, München 2013
624 Seiten
EUR 23,70