„Soll alles dem jüdischen Volk gehören“

Teresa Feodorowna Ries im Bildhauereiatelier Hellmer. © TFR Archive

Von Thomas Trenkler

Es ist eine geradezu skandalöse Geschichte. Im Mittelpunkt stehen eine faszinierende Frau und einige ihrer Kunstwerke, die NS-Zeit, Krieg und Vandalismus überdauerten. Sie befanden sich jahrzehntelang in den Depots des Wien Museums. Und kein Kurator machte sich Gedanken darüber, ob sie rechtmäßig eingelagert waren. Wiewohl auch in Wien seit 1989 Provenienzforschung betrieben wird und der wichtigste Provenienzforscher der Stadt, Michael Wladika, sein Büro im Wien Museum hat.

Im Herbst 2018 allerdings stellte Valerie Habsburg, damals Studentin der Akademie der bildenden Künste, Nachforschungen an. Und dann herrschte Nervosität. Wladika verfasste einen Bericht, datiert mit 4. Dezember 2019. Dieser bildete die Basis für die Entscheidung der Restitutionskommission. Zunächst stellte das Gremium fest, dass die Objekte – es geht um ein Gemälde und vier Skulpturen – „als restitutionsfähig anzusehen sind“. Und am 13. Dezember 2022 wurde die Empfehlung ausgesprochen, die fünf Werke „an die Museen der Stadt Wien“, also an das Wien Museum, „zu restituieren“. Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler „hat sich dieser Empfehlung angeschlossen“.

Abgesehen davon, dass die Stadt an sich selbst restituiert: Der Bericht, auf den sich die Kommission zu verlassen hatte, ist fragwürdig. Er beginnt so: „Die Künstlerin Teresa Feodorowna Ries wurde am 30. Jänner 1874 in Moskau in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. In ihrem Nachlass befindet sich ein 1888 im Konsulat in Moskau ausgestellter österreichisch-ungarischer Reisepass, in dem sie sich mit dem Geburtsdatum 30. Jänner 1866 und dem Geburtsort Budapest älter gemacht hat.“

Rattengift für den Zaren

Dies ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Und Valerie Habsburg konnte das bereits Ende 2018 beweisen: Ihr war es gelungen, das private Archiv von Ries, das in Monaco zur Versteigerung angeboten worden war, zu erwerben. Zusammen mit anderen Künstlerinnen, darunter Judith Augustinovič, ging sie in der Folge jeder Spur nach. „Wir haben mehrere Unterlagen mit dem Geburtsjahr 1866 und dem Geburtsort Budapest. Wir haben auch den Auszug aus dem Trauungsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien: Teresa Ries hat am 21. Juni 1885 Ottokar Löwit, einen Bierbrauer aus Prag, geheiratet.“

Die Künstlerin, kurz TFR, hat sich also nicht älter, sondern wurde von Wladika um acht Jahre jünger gemacht. Und mehrfach im Text zur Russin, wiewohl sie in Österreich-Ungarn geboren worden war und ein perfektes Deutsch sprach. „Die Mutter hieß Bertha, geborene Stern. Und ihr Vater, Gutmann Ries, war Chemiker, Pharmazeut und Drogist. Er dürfte dem Zaren – laut einem Zeitungsartikel von damals – Rattengift verkauft haben. Daher übersiedelte er mit der Familie nach Moskau.“

Ein Klumpen Mürbteig

Hier setzt die Autobiografie von TFR ein, die vier Brüder – Wilhelm, Louis, Simeon und Julius – hatte. Beim Kuchenbacken hätte sich zum ersten Mal ein Gefühl für die Plastik geregt, aus dem Klumpen Mürbteig formte sie ein Gesicht: „Wie ein Heiligenkopf sah das Gebilde aus. Das Haupt des Johannes!“ Ries wurde mit einem Mann verheiratet, „der großes Leid über mich und meine Familie brachte. Die Geschichte meiner kurzen Ehe ist so traurig, dass ich lieber darüber hinweggehen möchte. Mein einziges Kind starb nach wenigen Monaten.“

Als geschiedene Frau kehrte sie in das Elternhaus zurück. Der Drang, sich künstlerisch zu betätigen, nahm überhand: Unter Vorspiegelung einer künstlerischen Vorbildung schaffte sie es, an der Moskauer Akademie aufgenommen zu werden. Bereits mit ihren ersten Skulpturen erregte sie Aufmerksamkeit, darunter mit der „Somnambulen“, für die ihr „Stubenmädchen, das sehr gut gebaut war,“ Modell stand.

Danach übersiedelte die Familie nach Wien: 1894 eröffnete der kaiserlich russische Hoflieferant Gutmann Ries in der Großen Neugasse ein Laboratorium zur Herstellung seiner kosmetischen Spezialitäten. An der Bildenden durften „Damen“ noch nicht studieren, Ries nahm daher ab 1895 Privatunterricht bei Professor Edmund Hellmer.

Satanische Stimmung

Und sie sorgte auch in Wien für Furore. Denn 1896 zeigte sie in der Frühjahrsausstellung des Künstlerhauses ihre „Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht“: Die Darstellung einer selbstbewussten, nackten Frau, die sich die Zehennägel schneidet, stellte einen Tabubruch dar. Die Kritiker spitzten ihre Stifte, doch der Kaiser war ganz angetan. Vielleicht weil ihn die Skulptur an seine Sisi erinnerte? Stefan Zweig schwärmte über „das lüstern-erwartungsvolle Lächeln, das von den teuflischen Orgien träumt, die Sinnlichkeit, die sich kaum zurückhalten lässt, eine schwüle, verwirrende, satanische Stimmung …“

TFR stellte alsbald in der Secession aus, man ließ sich in Stein, Marmor, Gips und Bronze porträtieren, auch der Schriftsteller Mark Twain saß ihr Modell. Im Jahr 1900 wurde Ries bei der Weltausstellung in Paris für die Skulpturengruppe „Die Unbesiegbaren“ zum „Officier de l’academie“ ernannt, 1906 stellte Prinz von Liechtenstein ihr ein Atelier im Park seines Palais zur Verfügung. Und sie inszenierte sich als Russin, indem sie sich den Mittelnamen Feodorowna gab.

Nach dem Weltkrieg war es vorbei. TFR hatte den Großteil ihres Vermögens verloren, die Auftraggeber fehlten. Sie wurde schwer krank und verarmte. Die Autobiografie war ein Versuch, sich wieder in Erinnerung zu rufen.

Zuvor, am 7. Dezember 1921, ließ TFR ein „Pro Memoria“ aufsetzen:  Sie erklärte „rechtsentscheidend“, dass sie ihre Kunstwerke „dem jüdischen Nationalmuseum in Palästina schenkt“. Die Vertreter der zionistischen Organisationen bestätigten, die Schenkung angenommen und die Werke quasi übernommen zu haben. Doch der Transport wäre derart kostspielig gewesen, dass es nicht dazu kam. Und dann marschierte Hitler ein.

Im handschriftlichen Testament, mit 30. April 1941 datiert und von zwei Zeugen unterfertigt, wiederholte TFR ihren Wunsch: „Ich bin aus dem Judentum hervorgegangen. Daher bin ich auch eine Trägerin seines Geistes und seiner Begabungen. Deshalb soll alles, was ich durch Gottes Gnade geschaffen habe, dem jüdischen Volk gehören. In dieser Erkenntnis habe ich bereits meinen Willen bekundet und mittels einer Urkunde im Jahr 1921 meine sämtlich von mir geschaffenen Werke (…) dem Jüdischen Museum in Palästina vermacht.“

TFR lebte damals bereits in einer jüdischen Sammelwohnung in der Köstlergasse 10. Rund vier Monate später – die Abmeldung stammt vom 15. August 1941 – gelang ihr die Flucht in die Schweiz.

Zwangslage ausgenützt

Nach dem Krieg, nun 80-jährig, sorgte sich TFR um den Verbleib ihrer Werke – und bekam es mit Karl Wagner zu tun. Er hatte im November 1938, ein halbes Jahr nach dem „Anschluss“ ans Deutsche Reich, die Leitung der Städtischen Sammlungen übernommen. Er nutzte die Zwangslage von Jüdinnen und Juden aus, um billig Objekte zu erwerben. Weil man es nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Entnazifizierung nicht so genau nahm, blieb Wagner im Amt – bis zur Pensionierung im Herbst 1949. Die Rückstellungsforderungen der Holocaust-Überlebenden versuchte er nach Kräften als ungerechtfertigt darzustellen.

TFR bat also um Informationen, da ihr Atelier „von den SS-Barbaren geplündert“ worden sein soll. Tatsächlich war es im Sommer 1943 geräumt worden: Weil Wagner die Übernahme der Skulpturen abgelehnt hatte, landeten einige beim Steinmetzbetrieb des Architekten Rudolf Potz am Rennweg. Der große Rest wurde zum Schuttablagerungsplatz gebracht.

Im Gegensatz zu Unterrichtsminister Felix Hurdes, der 1946 rasch reagierte, ließ sich Wagner lange Zeit: Er schrieb TFR erst 1948. Und die Künstlerin, nun 82 Jahre alt, antwortete: „Empfangen Sie meinen innigsten Dank für all die Bemühungen um das Auffinden meiner Kunstwerke! (…) Es freut mich ungemein und gereicht mir zur hohen Ehre, dass einige meiner Arbeiten dem Museum der Stadt Wien einverleibt werden!“

Ein Zimmer als Köder

TFR dürfte nicht gewusst haben, mit wem sie korrespondierte. Und da ihre Versuche, die Kunstwerke dem Jüdischen Nationalmuseum zu schenken, aufgrund der Wirrnisse gescheitert waren, wollte sie wohl, dass in Wien ein Andenken an sie gewahrt bleibt. Man ließ sie wissen, dass die Stadt die Absicht hätte, ein eigenes TFR-Zimmer einzurichten. Dazu kam es aber nie. Am 31. März 1949 wurde jedenfalls die Übernahme von vier Skulpturen, zum Teil ramponiert, festgehalten, „welche als Widmung in das Eigentum“ der Städtischen Sammlungen „übergegangen“ seien. Es gibt aber keinen Schenkungsvertrag, es erfolgte auch keine Inventarisierung der Objekte.

Franz Glück, der auf Wagner folgte, beschäftigte sich erst ab 1964 mit den Objekten, „da die Sicherstellung ja nicht in infinitum fortgesetzt werden kann“. Im Magistrat konnte man nicht weiterhelfen: „Eine rechtsgültige Verfügung der Künstlerin über diese Objekte geht aus den hier vorliegenden Akten (…) nicht hervor.“ Im Juli 1966 hielt Glück fest: „Es wird betont, dass kein Interesse des Museums an einer definitiven Übernahme dieser Gegenstände in den Sammlungsbestand besteht.“ Doch die Künstlerin war, wie sich nun herausstellte, bereits 1956 in Lugano gestorben. Die Kunstwerke blieben im Depot – mit Zustimmung der angeblichen Erbin, die allerdings keine Ahnung über TFR und deren Intentionen hatte.

Für die Wiener Internationale Gartenschau 1974 in Oberlaa wurde Deko benötigt, und das Historische Museum, wie das Wien Museum damals hieß, stellte vier Skulpturen von TFR, darunter die „Hexe“ und die „Somnambule“, zur Verfügung. Sie blieben nach Ende der WIG auf dem Komposthaufen des Kurparks. Es kam zu Vandalenakten.

Jahrzehnte später wandte sich Franz Einfalt, ein Jurist, an die Stadt: Er würde die Wind und Wetter ausgesetzten Skulpturen gerne erwerben. Sabine Plakolm-Forsthuber, heute Professorin an der TU Wien, dokumentierte 1993 den erbärmlichen Zustand. Dadurch kam etwas in Bewegung. Und unter Matti Bunzl, seit 2015 Direktor des Wien Museums, begann man, mit den Werken von TFR zu prahlen: Die Künstlerin war der Star der Schau „Stadt der Frauen“ ab Jänner 2019 im Belvedere.

Außerordentliche Sitzung

Aber kurz vor der Eröffnung, Ende 2018, hatte sich eine Studentin gemeldet. Da war Feuer am Dach. Es kam zu mehreren Treffen mit der Leitung des Museums. Und Valerie Habsburg wurde, so erzählt sie, abschätzig behandelt. Zu einem Termin nahm sie Eva Blimlinger, damals Rektorin der Akademie, mit, die Jahrzehnte die Provenienzforschung des Bundes koordiniert hat. „Blimlinger hat auf den Tisch gehaut und gesagt: ,Meine Herrschaften, es ist nicht die Frage, ob Sie restituieren, sondern wie und wann.‘ Sie hat mich echt beeindruckt.“

Obwohl Valerie Habsburg ihr Material zur Verfügung stellte, blieb das Wien Museum bei der Behauptung, dass TFR eine russische Künstlerin gewesen sei. Dennoch stellte die fälschlich informierte Rückgabekommission fest, dass „gegen eine Ausfolgung dieser Objekte an die Rechtsnachfolger“ keine Bedenken bestünden. Wladika wurde ersucht, diese auszuforschen.

Im jüngsten Restitutionsbericht, veröffentlicht Anfang Dezember 2023, liest man jedoch nichts über Ergebnisse. Denn am 3. November 2022 war es „zu einer außerordentlichen Sitzung“ gekommen. An ihr nahm der Vorsitzende der Restitutionskommission und Matti Bunzl mit drei Mitarbeiterinnen, darunter Wladika, teil. Was bei diesem Treffen gedealt wurde, ist nicht bekannt. Aber wenig später, am 13. Dezember 2022, empfahl die Kommission die Objekte „an die Museen der Stadt Wien als Rechtsnachfolger zu restituieren“. Eine solche Empfehlung ist beispiellos in der Geschichte der Kunstrückgabe: Die Stadt Wien restituiert an die Stadt Wien auf Grundlage eines nachweislich fehlerhaften Berichts eines Provenienzforschers, der als Mitarbeiter des Wien Museums Partei ist.

Eva Blimlinger, nun Kultursprecherin der Grünen, schüttelte den Kopf über das Vorgehen: „Ich bin wirklich erstaunt, um nicht zu sagen verärgert.“ Allerdings ist nicht der Bund zuständig, sondern die Stadt. Und dort interessiert sich niemand für den Fall, nicht einmal die Opposition. Selbst die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) reagiert nur verhalten, auch wenn man meint, „dass dieser Fall unbedingt neu aufgerollt und untersucht werden muss“.


Dieser Text ist eine Zusammenfassung dreier Artikel, die im Dezember 2023 in der Tageszeitung „Kurier“ veröffentlicht wurden.

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