Der Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb zeigt immer wieder auf, wie Strukturen lange vor 1938 das Aufkommen der Nationalsozialisten begünstigt haben. Für NU erläutert er, was wir aus den Fehlern der Vergangenheit für das Heute lernen können.
Von Peter Menasse (Interview) und Hans Hochstöger (Fotos)
NU: In diesen Maitagen feiern wir die Befreiung vom Nationalsozialismus. Da wird oft das „Wehret den Anfängen“ beschworen. Gleichzeitig erleben wir mehr und mehr heutigen Rechtsextremismus, wir sehen Nazis in Griechenland, in Ungarn. Was kann die Geschichtswissenschaft tun, um mitzuhelfen, dass solche neuen Wurzeln nicht entstehen?
Rathkolb: Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass man die Erinnerung an die Zwischenkriegszeit und die Faschisierung in Europa – es hat ja nicht nur Deutschland und Österreich betroffen, sondern weite Teile Europas – wieder in Erinnerung ruft. Und zwar nicht unter der Devise „die Geschichte wiederholt sich“, sondern dass man klar macht, dass bestimmte Mechanismen nach wie vor funktionieren. Klassisches Beispiel ist, dass in Zeiten der ökonomischen Krise extremistische Positionen wesentlich stärker ankommen, als in den goldenen 70er-Jahren eines großen Wachstums in Europa.
Das zweite, was mich zunehmend zu irritieren beginnt: Dass man meiner Meinung nach kaum etwas aus der Geschichte gelernt hat, was Elemente wehrhafter Demokratie und auch demokratischer Justiz betrifft. Die jüngste Argumentation der Frau Justizministerin Beatrix Karl bezüglich der antisemitischen Karikaturen auf der Homepage von H.-C. Strache kann ich nicht mal im Ansatz nachvollziehen, speziell vor dem Hintergrund, dass sonst jedes Bezirksgericht gerne ein Fachgutachten in Auftrag gibt.
In der Demokratie brauchen wir Elemente einer wehrhaften Demokratie, da ist bei der Justiz jetzt wenigstens ein bisschen bezüglich der Neonazis nachjustiert worden – nach langem, zähem Ringen. Aber es ist noch ein langer Weg zu gehen, und insofern sind Gedenkveranstaltungen wichtig. Sie schaffen Medieninteresse und öffentliches Bewusstsein; und auch Richter, Schöffen, Staatsanwälte leben ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern inmitten unserer Gesellschaft.
Was mich freut, ist, dass es endlich gelungen ist, den Heldenplatz den Fängen einer radikalen Minderheit von Burschenschaftern und der FPÖ- Entourage zu entreißen und ihn auch friedlich durch ein Konzert der Wiener Symphoniker zu besetzen. Die Idee, da das Bundesheer einmal zu einer Mahnwache abzukommandieren, finde ich hervorragend. Solche Zeichen bewirken viel.
Ungünstige ökonomische Bedingungen begünstigen also politische Auswüchse. Aber es gibt doch auch subjektive Faktoren. Im Jahr 1938 hat sich zum Beispiel die Tschechoslowakei bei gleichen ökonomischen Bedingungen anders verhalten als Österreich, Deutschland oder Ungarn. Das heißt, es muss auch etwas geben, das in der Kultur eines Landes liegt, wie Widerstandsfähigkeit, Mut oder Ähnliches.
Ja, ich stimme zu. Vorurteile werden nach meiner Erfahrung und bei Durchsicht von Mikrostudien, die wir gemacht haben, ganz stark auf der Ebene der Familien und des Freundesumfelds transportiert. Das heißt, in dem Moment wo die Lehrer, wo die Schulbücher, wo die wissenschaftlichen Publikationen dazukommen, sind schon bestimmte Elemente geformt, und es bedarf dann eines sehr hohen pädagogischen und didaktischen Aufwands, hier noch deutlich gegenzusteuern. Es gab zum Beispiel diese unglaublich starke, vehement antisemitische Konstitution der österreichischen Gesellschaft im Jahr 1945, was die Leute auch später in Umfragen überhaupt nicht verschwiegen haben. Im Gegenteil. In einer IFES-Umfrage kam auch 1978 noch ein enorm hohes Ausmaß an Antisemitismus, auch einer wirklichen Verherrlichung des Nationalsozialismus, eine starke Zustimmung zu autoritären Einstellungen zu Tage. Das war am Höhepunkt der Ära Kreisky, wo es den Leuten extrem gut gegangen ist, wo Sozialtransfers passiert sind, Justizreformen. Selbst da gab es eine klare Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Wir haben in einer Umfrage aus 2007/2008 gesehen, dass die Tschechen etwas Antiautoritäres in sich haben. Sie machen es sich nicht leicht mit der Politik, wie man immer wieder sieht, aber sie haben nicht diesen Hang zu einer großen Führerfigur.
Und wie schaffen wir ein solches Bewusstsein auch hierzulande?
Es genügt nicht, dass man im Schulunterricht oder auf der Ebene der politischen Elite ansetzt, sondern da müsste man meiner Meinung nach auch einmal überlegen, ob es nicht eine subtile Form eines demokratiespielerischen Erziehungsbereichs bereits in den Kindergärten geben könnte. Da sehe ich eigentlich die größten Möglichkeiten und Chancen. Man müsste sich mal fragen: Was wird dort gespielt? Nur irgendwie mit Bausteinen, oder lassen sich die Grundsätze von demokratischen Abläufen üben, des Miteinanders von unterschiedlichen Gruppen mit Migrationshintergrund etc. Ich weiß, dass das theoretisch leicht gesagt, in der Praxis jedoch extrem schwierig umzusetzen ist, aber es als politisches Ziel zu formulieren wäre wichtig, um frühzeitig Strukturen von grundlegenden Vorurteilen auch gegenüber der Demokratie abzubauen.
Mein Eindruck ist, dass viel zu viele Lehrer in ihrem Unterricht Schülern gegenüber eher ein autoritäres Verhalten pflegen. Das heißt, Schülerinnen und Schüler in österreichischen Schulen werden vielfach nicht dazu erzogen, kritisch zu hinterfragen, widerständig zu sein, sich etwas zu trauen. Und fehlt nicht auch interdisziplinäre Forschung zur Struktur des Rechtsextremismus?
Ich glaube, es ist keine Frage der wissenschaftlichen Expertise oder der Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Das Grundproblem ist einfach der fehlende politische Wille. Die ständigen Streitereien von Gewerkschaft und Unterrichtsverwaltung in allen Richtungen blockieren wirklich große Projekte. Es gibt eine hervorragende Studie von Martha Nussbaum, einer Philosophin an der University of Chicago. Sie zeigt, warum es so wichtig für unsere Demokratie ist, dass wir eine kritische Erziehung forcieren. Wir sollen keine Fachroboter der digitalen Revolution ausbilden, sondern kritischen, widerständigen Menschen das Rüstzeug geben, sich in dieser globalisierten Welt zu orientieren. Das rechnet sich letzten Endes auch, weil damit die Demokratie stabiler wird. Wir brauchen schulpolitische Utopien statt diesem Weiterwurschteln, das in Österreich so eine lange negative Tradition hat. Wir müssten auch die Lehrpläne entstauben und wie in einer gut gemachten Ausstellung Objekte herausnehmen und neue hineinstellen, anhand derer eine bessere Vermittlung möglich ist.
Es liegt meiner Meinung nach nicht an den Lehrerinnen und Lehrern, sondern es liegt daran, dass man es nicht schafft, sich endlich vom Kulturkampf der Zwischenkriegszeit mit Ausläufern in die Monarchie zu befreien.
Es werden bis heute immer wieder noch Institutionen gefunden, die sich nicht mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben, Stichwort Philharmoniker, Akademie der Wissenschaften. Wäre es nicht einmal interessant, eine Institution zu finden, wo niemand beteiligt war oder wo die wenigsten beteiligt waren? Weil der Verdacht liegt doch nahe, dass sich die gesamte Gesellschaft und damit auch alle Institutionen vom Nationalsozialismus befallen haben lassen.
Es wäre ein interessantes Ziel, aber ich bin, ehrlich gesagt, momentan ratlos. Das hängt auch damit zusammen, dass der Nationalsozialismus sich ja vom ersten Moment an, auch in seiner Frühphase, als eine totalitäre Massenbewegung präsentiert hat und versuchte, bis in die letzten Bereiche durchzudringen. Paradebeispiel ist diese inszenierte Volksabstimmung im April 1938. Bis ins letzte Dorf im Waldviertel wird jene Inszenierung, die ein Architektenteam um Albert Speer in Berlin entworfen hat, hineingepfropft, um ein flächendeckendes Massenerleben zu konstruieren.
Was sich sicher noch einmal rentieren würde, was leider momentan nicht mehr trendy ist: auf den Alltag der Menschen zu schauen. Wie haben sie auf offen rassistische Maßnahmen – jetzt im privaten Umfeld, nicht im Widerstand, sondern im Diskurs, in der Familie zum Beispiel – reagiert? Die Mikroebene noch einmal in Erinnerung zu rufen, das wäre ganz wichtig.
Wir sind gerade in der Finalphase eines Projektberichts, den Theodor Venus und ich zur Geschichte der Reichsbank-Hauptstelle im Wien des Jahres 1938 gemacht haben. Es war das ein entscheidendes Element der Finanzpolitik des autoritären Dollfuß- und Schuschnigg-Regimes. Aber bereits 1932 hatten die Nazis auf Betriebsebene bei den Angestellten dort fast die Mehrheit. Das ist völlig verrückt: An einem zentralen Schalthebel der autoritären Republik, die immer wieder versucht, sich mit unterschiedlichen Mitteln gegen die Umarmung durch das nationalsozialistische Deutschland zu wehren, sitzen die Nazis nicht nur in kleinen Positionen, sondern im Herzen, im Zentrum. Es begann nicht erst 1938, sondern es gab eine lange Vorgeschichte.
Wären diese Geschichten nicht viel wichtiger als die Geschichten, wie dann alles ganz am Ende im KZ geendet hat?
Völlig richtig. Es ist ein zentrales Problem in der „Holocaust-Didaktik“ in Schulen, auch international, etwa in den USA, dass ein relativ enger Zeitraum in den Fokus genommen wird und nicht so sehr die Vorgeschichte. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Rektor ständig blutige Demonstrationen auf Universitätsboden zulässt, wie das lange vor 1938 in Wien der Fall war und den Nazis nicht Einhalt gebietet? Sich das anzuschauen, wäre lehrreich für eine wehrhafte Demokratie in der Gegenwart. Es gibt ja auch heute immer wieder Debatten, welche Versammlungen man an der Uni zulassen darf, weil Wissenschaft und Lehre frei sein sollen, und welche nicht.
Da würde ich wirklich empfehlen, sich die Geschichte vor 1914 anzuschauen, denn das ist ein Lehrbeispiel. Da muss man sagen, dass zum Beispiel die preußischen Unterrichtsverwaltungen geschickter vorgingen. Denen war klar, wenn diese radikalen deutschnationalen Korporationen weiter die Universitäten in Geiselhaft nehmen, kriegt die Zentralmacht ein Problem. Sie hatten dann auch wesentlich stärkere disziplinarrechtliche Möglichkeiten als in der Monarchie, die da viel zu lax gewesen ist. Dieses Studentenpotenzial, dessen Auswüchsen in Wien nicht Einhalt geboten wurde, ist der Nachwuchs nach 1918. Sie sind dann später als antisemitische Professoren ganz gezielt gegen Habilitationen und Berufungen von Juden aufgetreten.
Wir veranstalten nächste Woche ein kleines Symposium zu Guido Adler, einem der international bedeutendsten österreichischen Musikhistoriker und Musikwissenschaftler, der auch die Musikwissenschaft an der Universität Wien etabliert hat. Er ist heute in der österreichischen Musikwissenschaft – zu ihrer Schande – marginalisiert, während er in den USA als ein ganz zentraler, wichtiger Pionier für kritische Musikwissenschaft gilt.
Auch an seinem Beispiel kann man das brutale Geschäft der Nazis in vielen Bereichen erkennen, die schon vor 1938 die Strukturen so verändert hatten, dass dann die Machtübernahme so schnell, so radikal funktioniert hat. Für mich ist nach wie vor völlig unvorstellbar, wie es möglich war, in allen Institutionen – von der Bundestheaterverwaltung über die Universitätsverwaltung bis hin zu allen Ministerien – die schwarzen Listen zusammenzustellen, also festzuschreiben, wer Jude, Halbjude oder mit einem jüdischen Partner verheiratet ist, wer welchen politischen Hintergrund hat. Es dürfte da ein unbekanntes Spitzelnetzwerk gegeben haben, das auf Abruf imstande war, eine derartig gewaltige, tiefgreifende Personaländerung in allen Bereichen durchzuführen.
Es werden jetzt die letzten KZ-Wärter identifiziert, die sind über neunzig Jahre alt und werden jetzt angeklagt. Führt das nicht nur wieder zu einer Individualisierung der Ereignisse, zu einigen wenigen, die Schuld tragen? Führt uns das nicht weg von allen Versuchen, Nationalsozialismus als strukturelles Element zu begreifen?
Genau. Ich muss sagen, ich habe heute wieder die Fotos dieser alten Frau und der zwei alten Männer betrachtet, die man gefunden hat. Ich fürchte, die schauen heute so aus, dass sie eher Mitleid erwecken. Und es ist ein Problem, wenn man versucht, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung auf völlige Nebenfiguren abzuwälzen, möglichst Deutsche und keine Österreicher, die natürlich Schuld auf sich geladen haben, individuell, keine Frage, aber die strukturell überhaupt keine Rolle spielen. Ich fürchte auch, dass das nicht nur zu negativen Mitleidseffekten führt, sondern dass ein Bild vom Nationalsozialismus entsteht, als ob das nur eine Geschichte von einigen bösen Verblendeten gewesen wäre. Es geht auf diese Weise der Gesamtkonnex verloren, warum es dem Nationalsozialismus gelungen ist, die Macht so durchgreifend zu übernehmen.
Letzte Frage: Was kann uns heute optimistisch stimmen?
Mich stimmt optimistisch, dass diese Krise irgendwann vorbei sein wird. Es gibt sicherlich ein wesentlich besser – auch international – vernetztes, kritisches Potenzial, das Ansätze von Autoritarismus, Rechtspopulismus, Neonazismus erkennt und versucht, sie im Sinne einer wehrhaften Demokratie rechtzeitig zu bekämpfen. Ich sehe heute eine eigentlich doch andere Medienlandschaft, wenn ich sie mit früheren Perioden vergleiche, zum Beispiel während der Waldheim-Debatte, zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung um die sogenannte Wehrmachtsausstellung, da hat sich viel geändert. Man sieht das auch jetzt in der Berichterstattung um den 8. Mai. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie das vor zwanzig Jahren ausgesehen hätte. Ich muss sagen, da hat sich viel entwickelt. Es gibt noch einen anderen großen Schritt zu tun: das Thema auf die europäische Ebene zu bringen.
Durch die Orbán-Regierung ist die so ökonomisch fokussierte Brüsseler Administration gezwungen, sich plötzlich mit den Themen Autoritarismus, Antisemitismus, Rechtsradikalismus auseinanderzusetzen, und das begleitet von einem gewaltigen Medienecho. So schrecklich das klingt, aber manchmal braucht man offensichtlich so einen Agitator, der das dann gleich alles ausprobiert, wie das Umdrehen der Verfassung. Das ähnelt ja sehr einem in unserer Geschichte. Da wurde in den 1930er- Jahren auch Verfassungsmissbrauch betrieben. Und der Verfassungsgerichtshof war schon vor 1933 so politisiert, dass er nicht mehr imstande war, seine Aufgaben wahrzunehmen. Mittelfristig bin ich utopisch optimistisch.
DDr. OLIVER RATHKOLB
ist Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind unter anderem: europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, historische Diktaturund Transformationsforschung sowie Geschichte der internationale Beziehungen und NS-Perzeptionsgeschichte. Er war Vorsitzender der Kommission zur Straßenbenennung in Wien, deren Ergebnisse vor wenigen Wochen durch Stadtrat Mailath- Pokorny veröffentlicht wurden.