Holocaust im Comic

Art Spiegelman schuf in den 80er-Jahren das Comic Maus – Die Geschichte eines Überlebenden. Mit diesem Comic änderte sich über Nacht die Geschichte des Comics – aus Kult wurde Kunst. Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis 1992, schuf er damit auch ein neues Genre innerhalb der Welt der Comics: die Auseinandersetzung mit dem Holocaust.
VON RENÉ WACHTEL

Art Spiegelman, geboren 1948 in Stockholm, emigrierte als Kind mit seinen Eltern, beide Überlebende der Shoa, in die USA. Dort machte er bald Bekanntschaft mit Comics, diese „Bildergeschichten“ erklärten ihm die Eigenheiten der amerikanischen Kultur. Besessen las er jede Woche die legendären MAD-Ausgaben und wurde völlig in deren Bann gezogen. So begann er selbst Comics zu zeichnen. Ganz im Sinne der wilden 60er-Jahre wurde er einer der innovativsten Vertreter der amerikanischen Underground- Comic-Szene.

Die Wurzeln der amerikanischen Comics liegen in New York um 1890/1900. Damals begann sich das Stadtbild von New York durch die großen Einwanderungswellen aus Europa zu verändern. Viele dieser Einwanderer waren Juden, die sich intensiv mit der neuen Welt beschäftigten, und eines der neuen Gebiete war die Welt der Comic-Strips – Bildergeschichten für Tageszeitungen (meistens in den Wochenendausgaben der großen Tageszeitungen mit drei bis fünf Rahmen). Darunter gab es Stories wie Abie the Agent, der jüdische Autoverkäufer, erdacht und umgesetzt von Harry Hershfield (um 1914) oder die Geschichte von Gimpl Beinisch, einem alternden jüdischen Heiratsvermittler in New York um die Jahrhundertwende (erschienen in der jiddischen Tageszeitung Wahrheit).

In den 1930er-Jahren kamen dann die großen Superhelden auf dem Markt: Superman, Batman und Captain America. Sie hatten eines gemeinsam, sie waren erdacht von Nachkommen jüdischer Einwanderer aus Osteuropa. In den 1970er-Jahren fand sogar das Motiv des Golem, einer aus Lehm und Ton geschaffenen Figur der jüdischen Erzähltradition, in den Superhelden- Comics ihre Umsetzung. Für den Zeichner Stan Lee ist seine Figur des Hulk daraus entstanden.

Erlebnisse im Holocaust: Basis für „Maus“
Art Spiegelman war als Underground- Comic-Zeichner gewohnt, zu provozieren und Tabus zu brechen. So begann er an seinem Projekt Maus zu arbeiten. Maus ist eine autobiografische Arbeit und vor allem eine Auseinandersetzung mit seinem Vater. Stundenlange Gespräche mit seinem Vater waren die Basis für die Maus– Geschichte.

Erst sehr spät war sein dann schon betagter Vater bereit, über seine Erlebnisse im Holocaust zu sprechen. (Mit seiner Mutter konnte er nie darüber sprechen, denn sie nahm sich 1968, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, das Leben.) Er erfuhr in diesen Gesprächen viel vom Schicksal seines Vaters und seiner Familie – schockierende Erlebnisse mit all ihren Grausamkeiten – der Holocaust als Geschichte seines Vaters, des polnischen Juden Wladek Spiegelman, von Polen in der Vorkriegszeit nach Auschwitz und dann über Stockholm in die USA.

Er wollte die Geschichte bildlich umsetzen – aber wie? Er übernimmt die klassische Struktur des Comics – drei bis fünf Kästchen pro Zeile, verzichtet auf Farbe (sonst immer ein sehr wichtiges Stilmittel) und bedient sich der „Tiermetapher“ – Juden werden als Mäuse gezeichnet, Deutsche als Katzen, Polen als Schweine und Amerikaner als Hunde. Aber die Figuren von Spiegelman gleichen nicht den Figuren Walt Disneys. Schon das Cover zeigt zwei zusammengekauerte Mäuse im Trenchcoat, hinter denen sich ein Hakenkreuz befindet und Hitlers Gesicht als Katzenkopf erscheint.

Die Geschichte teilt sich in zwei große Erzählungen – „Mein Vater kotzt Geschichte aus“ (my father bleeds history) und „Und hier begann mein Unglück“ (and here my troubles began) von Mauschwitz zu den Catskills und weiter.

Beklemmend und eindringlich sind seine Bilder und machen die Geschichte um so intensiver. Mit der Form der Tiermetapher schafft er es, die Tragödie und die Unfassbarkeit des Holocausts eindrucksvoll umzusetzen. Maus wird in den USA ein sensationeller Erfolg.

Als Maus auf Deutsch erscheint, entwickelte sich in Deutschland eine Diskussion darüber – intensiv und auch mit vielen Vorurteilen geführt –, ob man im Comic (in Deutschland eher als Schundliteratur gesehen) den Holocaust darstellen darf – in Bildchen, in Kästchenform, mit Sprechblasen versehen, „verniedlicht“ in Bildgeschichten. Darf man das Grauen des Holocaust, das jede Vorstellungskraft übersteigt, in dieser Form aufarbeiten? Als Art Spiegelman für Maus. Die Geschichte eines Überlebenden 1992 den Pulitzer- Preis bekam (das erste Mal überhaupt wurde die Auszeichnung für eine Comic- Story verliehen), waren auch die Diskussionen in Deutschland passé. Bis heute verkauft sich Art Spiegelmans Werk auch auf Deutsch sensationell – 2013 ist die achte Auflage erschienen.

Ein düsteres Comic
Seit Maus entstanden und entstehen eine Reihe von Comics, die sich mit dem Thema Holocaust beschäftigen. Sehr eindringlich zeigt das Comic Auschwitz von Pascal Croci (2005 auf Deutsch erschienen) auf Basis von Zeitzeugen-Interviews den Alltag im KZ. Wenn er auf Doppelseiten ausschließlich Gaswolken zeichnet, die nur mit Sprechblasen versehen sind, ergibt das ein verstörendes Bild des Todeskampfes.

Überhaupt findet der Leser in diesem Comic keine Zeit zum Verschnaufen, alles ist beängstigend, der Lesefluss wird auch durch die Anordnung der Kästchen unterbrochen, die Sprechblasen sind nicht rund, sondern mit Zacken versehen, es werden immer nur Großbuchstaben verwendet, die die Aggressivität der Bilder verstärken. Ein Comic, wie es bedrückender und düsterer nicht sein könnte.

Einen ganz anderen Ansatz zeigt die Geschichte Das Leben von Anne Frank – eine grafische Biografie. In Zusammenarbeit mit dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam haben die beiden Zeichner Sid Jacobson und Ernie Colon dieses Werk geschaffen. Fast wie ein Kinderbuch gestaltet, aber doch im Sinne eines Comics wird die Geschichte von Anne Frank und ihrer Familie erzählt: das behütete Leben in Aachen, die Flucht nach Amsterdam, das Heranrücken der Nazis, das Verstecken im Haus bis zur Entdeckung durch die Gestapo. Ergänzt mit Zeittafeln und der Geschichte der Entstehung der Anne-Frank-Gedächtnisstätte ist dieses Comic spannend und lehrreich aufgebaut. Mit diesem Comic ging das Anne- Frank-Haus neue Wege, um gezielt Jugendliche anzusprechen und für das Thema zu sensibilisieren. Viele der gezeichneten Geschichten über den Holocaust befassen sich mit „wahren Einzelschicksalen“, so auch Der Boxer von Reinhard Kleist. Alan Scott hat die Geschichte seines Vaters Hertzko Haft aufgeschrieben und als Buch herausgebracht, und Reinhard Kleist hat einen sehr intensiven Comic dazu gezeichnet. Es ist die wahre Geschichte des 16-jährigen Jungen Hertzko, der ins KZ Auschwitz kommt, von einem SS-Mann protegiert wird und zum Gaudium der SSMannschaften als Boxer gegen andere Häftlinge antreten muss – in Kämpfen auf Leben und Tod, der Verlierer geht ins Gas.

Mit einem fast expressionistischen Zeichenstil zeichnet Kleist auch exemplarisch die Unterschiede der SSMänner und der Häftlinge. Das ist auch eines der Stilmittel im Comic – durch die Form und Gestaltung der Bilder kann man sehr detailliert und genau die Personen zeigen oder einfach nur oberflächlich gestalten. Die europäische Comic-Szene, beheimatet in Frankreich und Belgien, bekannt aus Asterix, der Gallier oder Tintin (Tim und Struppi) hat einen ganz anderen Stil als die klassischen Superhelden US-amerikanischer Marvel-Comics wie Superman oder Batman.

Dem französischen Zeichenstil hat sich auch die israelische Autorin und Zeichnerin Rutu Modan verschrieben. Mit ihrer Graphic Novel Das Erbe geht sie einen neuen Weg in der Holocaust- Darstellung. Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter Regina Segal, die in Israel lebt und nach dem Tod ihres Sohnes eine Reise in die frühere Heimat Polen unternimmt. Die Enkeltochter Mika reist mit und erfährt dadurch viel Neues von ihrer Großmutter. Der vordergründige Anlass für die Reise ist ein Dokument, das die Großmutter besitzt und mit dem sie das Haus, das ihre Eltern während des Holocaust in Warschau verloren haben, wieder in ihren Besitz bringen will. Doch die Reise wird für beide ganz anders als erwartet. In der Thematik „Holocaust und Comics“ nimmt das Werk von Rutu Modan eine reizvolle und neuartige Stellung ein. Mit Witz, überraschenden Elementen und einem anderen Zeichenstil, der jenem von Hergé (dem Erfinder von Tintin) ähnelt, bringt Das Erbe einen komplett neuen Ansatz. Die Graphic Novel wurde für den „Will Eisner Comic Industry Award 2014“ nominiert.

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