Dass die neue Regierung unter Benjamin Netanjahu die Macht des Obersten Gerichtshofs einschränken will, ruft Widerstand hervor. Doch tatsächlich ist es in Israel um die Demokratie besser bestellt als befürchtet.
Von Theodor Much
Im Jahr 2021 hat die Generalversammlung der UNO insgesamt vierzehn antiisraelische Resolutionen gefasst und in diesem Zeitraum lediglich vier Verurteilungen von Staaten wie dem Iran, Nordkorea, Myanmar und Russland ausgesprochen. Derartig einseitige Kritik nennt etwa Natan Scharanski, der 2020 den Genesis-Preis bekommen hat, als „Doppelstandard“ der Kritik. Der Glaubwürdigkeit des internationalen Gremiums dient dergleichen Verhalten nicht.
Seit der Unabhängigkeitserklärung Israels im Jahr 1948 wird Israel von Gegnern des Staates massiv angegriffen und oftmals schwer (und oft antisemitisch) verleumdet. Dem jüdischen Staat wird – insbesondere von autoritären Staaten, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten werden – vorgeworfen, Kolonialpolitik zu betreiben und ein Apartheidstaat zu sein. Es wird auch oftmals behauptet, dass Israel kein demokratischer Staat sei.
Um diese Behauptung zu entkräften, genügt ein Blick auf den internationalen Demokratieindex, der von der britischen Zeitschrift The Economist berechnet wird und den Grad der Demokratie in 167 Ländern misst. Er wurde erstmals 2006 und seither jährlich veröffentlicht. Alle Länder werden anhand fünf verschiedener Faktoren (Wahlprozess und Pluralismus, Funktionsweise der Regierung, politische Teilhabe, politische Kultur, Bürgerrechte) bewertet und mittels der errechneten Punktezahl in eine von vier Kategorien einsortiert: vollständige Demokratien, unvollständige Demokratien, Hybridregime und autoritäre Regime. In der Ausgabe für das Jahr 2022 wurden nur 24 Länder als „vollständige Demokratie“ eingestuft (Österreich belegte Platz 20). Israel landete auf Platz 29 und gilt – wie Portugal (28), die USA (30) oder Italien (34) – als „unvollständige Demokratie“. Russland wurde als „autoritäres Regime“ auf Platz 146 eingestuft.
Israel besitzt zwar keine Verfassung und kennt auch nicht eine strikte Trennung von Staat und Religion, doch gleiches gilt für Finnland und Großbritannien. Trotzdem sind diese beiden Länder anerkannte vollständige Demokratien. In Israel sind allerdings die wichtigsten bürgerlichen Grundrechte schon in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 klar definiert. Dort heißt es: „Der Staat Israel […] wird all seinen Bürgern, unabhängig von Religion, Rasse oder Geschlecht, volle soziale und politische Gleichberechtigung gewähren und es wird Freiheit in Religion, Gewissen, Sprache, Erziehung und Kultur gewährleistet“. Außerdem wurden besondere Grundgesetze gebilligt, so zum Beispiel eines über die freie Berufswahl und Menschenwürde. Der Oberste Gerichtshof bestätigte 1995 das Prinzip, wonach das Grundgesetz vor dem einfachen Gesetz kommt. Dieser Oberste Gerichtshof hat schon oftmals Entscheidungen getroffen, die von religiösen Fanatikern und politischen Extremisten vehement kritisiert wurden und dessen Richter deswegen mit Morddrohungen eingeschüchtert werden sollten.
So entschied der Oberste Gerichtshof beispielsweise am 1. März 2021, dass konservative und reformierte Konversionen zum Judentum, die in Israel durchgeführt werden, vom Staat anerkannt werden und diese Menschen die Staatsbürgerschaft erhalten müssen. Dass nach dem Willen der jetzigen Regierung die Macht des Obersten Gerichtshofes stark beschränkt werden soll, ist in Israel stark umstritten, nach einer aktuellen Umfrage zufolge sind 58 Prozent der Israelis der Ansicht, dass der Oberste Gerichtshof Gesetze des Parlaments (Knesset) dann kippen kann, wenn diese demokratischen Prinzipien widersprechen. Die nun geplante Entmachtung des Obersten Gerichtshofes ist besorgniserregend.
Israel hat außerdem den „International Convent on Civil and Political Rights“ im Jahr 1991 unterzeichnet und legt seither der Menschenrechtskommission der UNO jedes Jahr einen Bericht vor. Wäre Israel ein Land, in dem Minderheiten schwer diskriminiert werden, dann gäbe es dort keine arabischen Parteien, keine arabischen Minister oder Abgeordnete im Parlament, keine arabischen Zeitungen, kein arabisches Radio oder Fernsehen, keine Straßenschilder in arabischer Sprache, keine intakten Moscheen, und israelische Araber könnten weder höhere Schulen und Universitäten besuchen noch hohe Positionen (Diplomaten, Minister, Universitätsprofessoren etc.) besetzen.
Israel ist kein Apartheidland. Unter Apartheid verstand man in Südafrika Rassentrennung aufgrund von wirren, rassisch-biologischen Vorstellungen. Menschen mit dunkler Hautfarbe durften nicht neben Weißen sitzen oder den gleichen Strand wie Weiße benützen. Sie konnten nur unter erschwerten Bedingungen und auf schlechter ausgestatteten Universitäten studieren, durften sich nicht politisch betätigen oder bestimmte Berufe ergreifen. Derartige Ungerechtigkeiten existieren in Israel nicht. Der Vorwurf, dass Israel ein Apartheidstaat sei, geht daher völlig ins Leere. Und wer das israelische Rückkehrergesetz von 1950 („Jeder Jude hat das Recht auf Einwanderung und die israelische Staatsbürgerschaft“) als „rassistisch“ kritisiert, müsste genauso die Praxis Deutschlands, deutschsprachigen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion die Einreise zu gestatten und ihnen die Staatsbürgerschaft zu verleihen, hinterfragen.
Israel hat so manche Demokratiedefizite, diese betreffen immer wieder arabische Staatsbürger, Frauen oder nicht-orthodoxe religiöse Gruppierungen. All diese Schwachstellen der Demokratie in Israel dürfen und müssen angesprochen werden. Um sie zu beheben, ist der Oberste Gerichtshof gefragt, und genau das ist der Grund für derzeitige Dispute im israelischen Parlament.
Trotz allem ist Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten, und das ist, in Anbetracht dessen, dass das Land seit mindestens 75 Jahren mit Kriegen und tagtäglichem Terror leben muss, fast ein Wunder.