Von Eldad Beck
Ein paar Stunden nach den blutigen Terroranschlägen in Madrid, am 11. März 2004, sprach ich mit einem israelischen Freund, der in Spanien lebt. „Du wirst sehen“, sagte er mir am Ende des Gesprächs, „früher oder später werden wir, die Israelis, für diese Aktionen verantwortlich gemacht.“ Kaum zwei Wochen danach erschien in der „Financial Times Deutschland“ ein Kommentar vom Korrespondenten in Brüssel, in dem man u. a. lesen konnte: „Der Respekt vor den Opfern des Holocaust hat es uns verboten, Israels Regierungen mit denselben Maßstäben zu messen wie andere westliche Regierungen … Wir haben die Siedlungs- und Besatzungspolitik der israelischen Regierungen toleriert und die Palästinenser den Preis dafür zahlen lassen. Das hat in der arabischen und muslimischen Welt einen Hass groß werden lassen, der am 11. September 2001 und am 11. März 2004 auf uns zurückgeschlagen hat.“ Mein israelischer Freund in Spanien ist kein Prophet. Aber er konnte genauso wie viele andere Israelis beobachten, wie seit Beginn der zweiten Intifada die europäische Haltung gegenüber Israel vergiftet und wie Israel systematisch diabolisiert und für alle Probleme der Menschheit verantwortlich gemacht wird. Denn die Meinung der „Financial Times“ ist im heutigen Europa sehr verbreitet. Israel hat den „traditionellen“ Platz der Juden als „Wurzel aller Bosheiten“ eingenommen.
Die Beziehungen zwischen Europa und Israel haben einen historischen Tiefpunkt erreicht. Um diese Krise zu erklären, muss man sich die Geschichte in Erinnerung rufen. Die Geschichte beginnt lange vor dem Zweiten Weltkrieg – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als das Heilige Land Teil des ottomanischen Reiches war. Es war eine Zeit, in der kaum jemand im Nahen Osten das Wort „Palästina“ kannte und in der Jerusalem eine verlassene Stadt war, die in Ruinen und Schmutz lag. Der Terminus „Palästina“ ist eine Erfindung der Europäer, als sie ihr Interesse für die Region entwickelten: Anstelle von Bibelbegriffen suchte man einen Namen, der von den Römern gebraucht wurde – Palästina. In dem Bestreben, die Identifikation der Juden mit dem Land Israel abzuschwächen, verwiesen die Römer auf die Philister – eine nicht mehr existierende Bevölkerungsgruppe, die in früheren Zeiten in der Gegend des heutigen Gazastreifens gelebt hatte.
Die heutigen Palästinenser haben natürlich nichts mit den Philistern zu tun, obwohl Arafat es ab und zu behauptet. Die Palästinenser waren auch nicht die ersten Christen – wie die erfundene palästinensische nationale Mythologie meint. Jesus war kein „Palästinenser“, sondern ein Jude. Aber komischerweise sind alle diese falschen Mythen über die „Verwurzelung“ der Palästinenser im Lande Israel in Europa als historische Wahrheit akzeptiert. Wie bequem ist es, auf Basis dieser Lügen den Vergleich zwischen den von den Juden „gequälten“ Palästinensern und Jesus zu ziehen.
Auf Arabisch erscheint der übersetzte national-politische Terminus „Falastin“ nur im 20. Jahrhundert: Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 ist von „Palästina als Teil des arabischen Syriens“ die Rede, der Abgeordnete des Obersten Arabischen Komitees der UNO sagte 1947 vor der Vollversammlung, dass Palästina Teil der Provinz Syriens war, und sogar Ahmad Shuqeiri, der spätere Vorsitzende der PLO, sagte vor dem Sicherheitsrat: „Jeder weiß, dass Palästina nichts anderes ist als das südliche Syrien.“
Palästina ist eine europäische Erfindung, die ab dem 19. Jahrhundert zur Einmischung in die Affären des Heiligen Landes dienen sollte: Erst bekamen die Europäer von dem geschwächten Osmanischen Reich Schutzrechte über die religiösen Minderheiten in diesem Land – Christen und Juden. Weil die Moslems keine möglichen Kolonialismuspartner waren, engagierten sich die Europäer für die nationalen Rechte der anderen religiösen Minderheiten. Die Juden waren die Einzigen, die sich für „Palästina“ interessierten, und bekamen dafür Unterstützung von den Briten. Aber sofort, nachdem die Briten das Land erobert hatten, begann der Wandel in ihrer Position: Die erste Teilung „Palästinas“ gab den Arabern 80 Prozent des Territoriums des Mandats über das Land Palästina (heutiges Jordanien). Wenn die Palästinenser sich heute beschweren, dass die Juden 80 Prozent vom „historischen Palästina“ kontrollieren, stellt sich die Frage, von welchem „historischen Palästina“ sie überhaupt sprechen? Gegenüber dem Verbrechen des Holocausts gab es nach dem 2. Weltkrieg keine andere Alternative, als endlich den Juden eine nationale Heimat zu geben.
Man hat aber in Europa nie wirklich die Tatsache akzeptiert, dass die Juden in ihrem Staat souverän sein könnten. Die Juden wurden nicht nur von den Moslems traditionell geduldet. Auch die Christen sind daran gewöhnt, die Juden als Vasallen oder Diener zu betrachten. Sobald Israel begann, seine eigenen Interessen wahrzunehmen und zu verteidigen (ohne Rücksicht darauf, was die Europäer dazu zu sagen hatten) wurde die Beziehung der Europäer zu Israel problematischer. Und so entdeckten die Europäer die „Causa Palästina“. Der Slogan „Juden nach Palästina“ hat sich zum Slogan „Juden aus Palästina“ gewandelt. Der Kampf um die Legitimität Israels fing an. Niemand in Europa fragt sich, wo liegt das Existenzrecht Saudi- Arabiens, Libanons, Kuweits, Jordaniens oder sogar Palästinas. Man debattiert aber gern und offen über die Frage, ob Israel – als „künstlicher“ Staat in dieser Region – das Recht zu existieren hat oder nicht. Und man beschuldigt Israel, dass es den „Respekt vor dem Holocaust“ für politische Zwecke missbraucht. So wird das Opfer zum Täter.
Viele Europäer haben das Gefühl, dass man Israel den Juden als moralische Entschädigung geschenkt hat. Und wie jedes Geschenk könnte man Israel „zurücknehmen“, wenn sich die „Kinder“ Israels nicht gut verhalten. Der Grund dafür ist einerseits purer Kolonialismus und anderseits der Wille, seine eigene Vergangenheit zu reinigen. Ich behaupte nicht, dass alles was Israel macht gut ist. Heute kann man auch nicht die Existenz einer neuen palästinensischen nationalen Identität verleugnen, die das Existenzrecht Israels bedroht. Israel ist keine imperialistische Macht, die nur an der Unterdrückung der Palästinenser interessiert ist. Israel befindet sich mitten in einem blutigen Krieg, der entscheidend für seine Zukunft ist.
Anstatt Verständnis für diese schwere Situation aufzubringen, diskutiert man in Europa, wo genau die Grenzen der Kritik an Israel liegen. Aber, seit wann darf man in Europa, sogar in Deutschland, Israel nicht kritisieren? In Wahrheit handelt es sich um das Recht Europas, sich in Angelegenheiten Israels einzumischen. Wenn alle Fraktionen des Bundestags sich erlauben, einen Unterstützungsantrag über die sehr umstrittene Genfer Initiative zu befürworten, ist es eine inakzeptable Intervention in die internen Affären Israels. Eine Grenze ist hier überschritten. Schlimmer ist die Finanzierung von israelischen Parteien und politischen Organisationen durch deutsche und europäische Stiftungen und Ministerien. Der deutsche und europäische Kolonialismus ist wieder da. Dass nur Europäer ihre unausgewogene Kritik äußern, ist nicht zielführend. Sie sollen auch zuhören, was die Israelis zu sagen haben, und das als legitim akzeptieren.