Der britische Künstler und Publizist Stephen Fry folgte den Spuren seiner jüdischen Vorfahren. Und wurde bei seiner aufwühlenden Reise in die Vergangenheit auch in Wien fündig.
Von Ute Rossbacher
„Viele Menschen sehen in mir den Inbegriff des Engländers. Dabei komme ich aus einer lauten, lebhaften jüdisch-europäischen Familie“, eröffnete Stephen Fry in der BBC-Reihe „Who do you think you are?“, die Prominente bei ihrer Ahnenforschung begleitet, dem mehrheitlich überraschten britischen Fernsehpublikum im Jahr 2009.
Das Bewusstsein seiner Herkunft verdankt der vielseitige Schauspieler und Autor nach eigenen Worten seinem Großvater mütterlicherseits: Martin Neumann, der starb, als Fry elf Jahre alt war. Die Liebe zur Familie, die Begeisterung für gutes Essen, die Freude am Diskutieren – Assoziationen, die ihm in den Sinn kommen, wenn er sich an seinen Großvater erinnert. Aber auch die deutsche Sprache, die sich im Kreis der Familie immer wieder in die Tischgespräche einschlich. Dazu der ungarische Akzent, den der Schauspieler gekonnt imitiert.
Der Tatsache, dass Martin Neumann 1926 seinem Heimatort Šurany, der heute in der Slowakei liegt, den Rücken gekehrt hatte, um ein Stellenangebot in der englischen Kleinstadt Bury St. Edwards anzunehmen, verdanken der Schauspieler, seine Eltern und Geschwister ihr Leben. Das darf ohne Übertreibung gesagt werden.
Gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Robert Jorisch baute Neumann in England eine Zuckerrübenfabrik auf, nachdem er im Ersten Weltkrieg für die k. u. k. Monarchie an der Front gekämpft hatte. Mit seiner Frau Rosa, die noch vor Frys Geburt starb, und Gertrude, der erstgeborenen Tochter, ließ er sich in East Anglia nieder. Während seine jüdischen Verwandten in Šurany blieben. Der Schauspieler hat eine dunkle Vorahnung: „Mein Gefühl sagt mir, dass diese Entscheidung für sie schreckliche Folgen hatte.“
An die Verwandten erinnert ein Familienfoto, das Frys Mutter Marianne aufbewahrt hat. Was jedoch fehlt, sind die Namen der Abgebildeten und nähere Angaben zu ihrem Schicksal. Darüber hätten die Eltern weder mit ihr noch den beiden älteren Schwestern Margaret und Gertrude sprechen wollen, berichtet Marianne beklommen. Die karge Auskunft, dass jene im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, musste genügen …
Wortreicher fielen dagegen die Leitsätze aus, die Mariannes Mutter Anfang der 30er-Jahre ihren Töchtern auf den Weg gegeben hatte: „Vergesst nie, eure Zähne gründlich zu putzen. Und übrigens: Erzählt niemanden, dass ihr Juden seid!“
Fry drängt es zur Wahrheit: „Ich möchte wissen, aus welcher Welt mein Großvater gekommen ist.“
Für seine Familie tritt er eine bewegende Zeitreise auf dem Kontinent an. Seine erste Station ist Wien, wo seine Großmutter Rosa Neumann, geborene Braun, ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Ihre Eltern Berta und Samuel stammten beide aus jüdischen Familien.
Den Dokumenten zufolge, die sich der Brite besorgt, lebten sie in der Rembrandtstraße 33 im 2. Bezirk, bevor sie 1942 nach Riga „übergesiedelt“ wurden. Gerlinde Affenzeller, eine Mieterin, auf deren Bestreben hin eine Gedenktafel an die jüdischen BewohnerInnen – darunter auch Frys Urgroßeltern – erinnert, bestätigt ihm: Ja, viele seien damals in das dortige Getto deportiert – und ermordet worden. Fry, der sich bereits bei der Fahrt durch die Leopoldstadt beim Anblick der jüdischen Familien und deren Kindern bewegt zeigt, kommen die Tränen. Nicht das letzte Mal auf seiner Reise, die ihn weiter nach Šurany führt. Eine verlassene Kleinstadt, die ihn zu den familiären Wurzeln seines Großvaters Martin Neumann führt. Während bis zum Zweiten Weltkrieg rund 1000 Juden in dem Ort lebten, ist es heute nur noch ein einziger: Jan Stark, der den Holocaust zwar überlebt, jedoch seine gesamte Familie verloren hatte und nach seiner Rückkehr in den Ort sein Hab und Gut arisiert vorfand.
Traurig, aber ohne Bitterkeit blickt der lebensbejahende Mann auf das Geschehene zurück. Eine Begegnung, die sich für Fry als schicksalhaft erweisen wird: Denn Stark ist, wie sich herausstellt, der Neffe von Robert Jorisch, der Frys Großvater als Freund und Kollege nach England begleitet hatte. Ein Kreis, der sich langsam schließt.
In die Tränen, die Fry bei seinen Recherchen kommen, fließt auch Wut. Insbesondere nach einem Gespräch mit einem Bewohner, der davon spricht, dass Juden gerissen und vernetzt seien. Und davon ausgehend die Frage aufwirft: „Wenn sie also wussten, was mit ihnen geschehen soll, warum sind sie dann hier geblieben?“ Fry: „Bislang hatte ich mir darüber nie richtig Gedanken gemacht, war weit davon entfernt, überall Antisemitismus zu wittern. Aber das hier …“ Seine Stimme erstickt.
Am Ende seiner Reise angekommen, hat er auch die Namen jener Personen, die auf dem Familienfoto zu sehen sind, herausgefunden: Es handelt sich um Reska Neumann, die Schwester seines Großvaters Martin, und ihre Familie – Ehemann Tobias Lamm und die gemeinsamen Kinder Pavel, Lidia und Aliz. Auch was mit ihnen geschah, weiß Fry nun: Die Familienmitglieder wurden offenbar voneinander getrennt und in unterschiedliche Konzentrationslager deportiert. Pavel gilt seitdem als „vermisst“, seine Schwestern wurden 1944 ermordet. Ebenso die Eltern. Ein Hinweis auf den Ort lässt Fry die Tränen in die Augen treten: „A fucking word … Auschwitz …“
Die Namen und Schicksale sind ihm nun bekannt. Die Aufarbeitung des Erlebten ist ein Kapitel für sich. Dessen ist sich Fry bewusst, als er während einer Autofahrt durch blühende englische Landschaften mehr zu sich selbst als dem Kamera- Team sagt: „Man darf sich bereits glücklich schätzen, wenn man einfach nur am Leben ist …“