Die Geschichte der Vertreibung und des Exils der jüdischen Mitglieder und Kandidaten der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) ist noch längst nicht zu Ende erzählt. Ein Beispiel ist das Schicksal des Sonderpädagogen Milan Morgenstern.
VON TJARK KUNSTREICH
Über die Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker aus Wien nach dem „Anschluss“ 1938 und ihr anschließendes Exil ist schon vieles bekannt. Sigmund Freud konnte mit einem Großteil seiner Familie gerettet werden und 1939, seinem Wunsch gemäß, „in Freiheit sterben“. Im Briefwechsel von Anna Freud und Ernest Jones, dem in London lebenden damaligen Vorsitzenden der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, zeigt sich das ganze Ausmaß einer Rettungsaktion, die so viele Menschen wie möglich einbezog. Einen Anhaltspunkt für die Rekonstruktion der Emigrationswege, der nicht nur Aufschluss über einzelne Personen gibt, sondern zugleich eine Idee von dem Netzwerk vermittelt, das notwendig war, um so viele Personen in so kurzer Zeit außer Landes zu bringen, liefert eine Liste, die Thomas Aichhorn, der Archivar der WPV, im Archiv der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft gefunden hat, und mit der sich aktuell eine Arbeitsgruppe zur Geschichte der WPV befasst.
Diese Liste umfasst zwanzig Seiten, auf denen sich 97 Namen finden. Die Liste beginnt alphabetisch, aber durch Ergänzungen und Hinzufügungen wird dieses Prinzip langsam aufgelöst. Die Namen sind zumeist mit Schreibmaschine geschrieben. Große Abstände zwischen den Namen sollen Ergänzungen ermöglichen. Diese Ergänzungen wurden größtenteils handschriftlich gemacht, wobei mindestens drei Handschriften unterschieden werden konnten. Einige der handschriftlichen Ergänzungen sind stenografisch abgefasst. Bei dieser Liste scheint es sich um ein Arbeitsinstrument zu handeln, das es ermöglichen sollte, Visumsangelegenheiten, Finanzielles und Adressänderungen in einem Dokument zu erfassen, damit diese Informationen schnell abrufbar waren.
Das Dokument wirft Fragen auf, die bislang gar nicht gestellt worden waren: So sind zum Beispiel die genauen Daten der Ausreise der Emigranten mit Ausnahme der Mitglieder der Familie Freud bislang nicht bekannt. Außerdem vermittelt die Liste eindrücklich, wie schnell Pläne geändert und neue Lösungen gefunden werden mussten. Nicht zuletzt sind darin auch einige Unbekannte oder Vergessene genannt, denen nun vielleicht ein Platz im Gedächtnis der Psychoanalyse gegeben werden kann: Namen von Personen, die als Kandidaten ihre Ausbildung nicht fortsetzen konnten oder wollten; die in Vergessenheit gerieten oder womöglich doch der Vernichtung zum Opfer fielen; oder die als Freunde oder Angehörige von Analytikern auf diese Liste kamen.
„Ein Fall für sich“
Milan Morgenstern findet sich auf der Liste als einer der Wiener Kandidaten. Er hat am 6. Mai einen Termin 1938 und wird beschrieben als „ein Spezialist für die Erziehung und die Psychologie geistig Behinderter. Wird keine analytischtherapeutische machen. Nicht-Mediziner. Bekommt eigene (Arbeits-)Erlaubnis.“ Der Termin ist wahrscheinlich ein Gespräch mit Ernest Jones, denn der schreibt am 4. Mai 1938 an Anna Freud: „Ein Wiener Kandidat namens Milan Morgenstern ist gerade in London aufgetaucht, aber ich habe ihn noch nicht gesehen. Würdest du mir bitte Informationen zukommen lassen?“ Am 15. Mai antwortet sie: „Milan Morgenstern ist ein Fall für sich, nicht ganz in die Reihe der übrigen Kandidaten einzureihen. Wir haben ihn bei der letzten Emigration von Berlin her übernommen, wo er bei Dr. Horney in Analyse gewesen war. Er ist ein Spezialist für den Unterricht schwachsinniger Kinder und soll als solcher besonders tüchtig sein, wird auch von einer ganzen Anzahl von Leuten dafür geschätzt. Über diese Spezialität hinaus kommt er eigentlich nicht. Er hat hier durch Jahre alle Kurse und Seminare besucht, ist aber nicht als Analytiker ausgebildet (…) Die einzige Chance für ihn ist natürlich wieder, in seinem Gebiet, dem Unterricht von Schwachsinnigen, unterzukommen. Dass man ihn zum Analytiker ausbildet, halte ich für unpraktisch und wahrscheinlich aussichtslos.“
Die oftmals harten Beurteilungen, die sowohl Jones, aber auch Anna Freud vornahmen und von denen der Briefwechsel jener Monate viele enthält, trugen gleichzeitig oft geradezu prophetische Züge, eben weil sie sehr realistisch waren – so sehr die „Auswahl“ einen sehr problematischen Charakter hatte, führte sie dennoch oft für die Betroffenen nicht nur in die Emigration, sondern auch zur Möglichkeit, einen neuen Anfang zu machen.
Milan Morgenstern stammte ursprünglich aus Graz, wo er am 13. November 1894 in eine jüdische Familie geboren wurde. 1914 tritt er aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und beginnt nach dem Ersten Weltkrieg an Johannes Ittens Kunstschule in Wien zu studieren. Im Wintersemester 1919 folgt er Itten nach Weimar, wo dieser auf Einladung von Walter Gropius das Bauhaus mit aufbaute. In den zwanziger Jahren übersiedelt Morgenstern nach Berlin und beginnt dort mit behinderten Kindern zu arbeiten. Ende der zwanziger Jahre ist Morgenstern nach einem Bericht seiner Tochter Eva Brück in Berlin stadtbekannt und politisch auf Seiten der Kommunisten aktiv, tritt aber nie in die Partei ein. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis 1933 flieht Morgenstern von Berlin nach Wien; seine Frau und ihre beiden Kinder harren in Berlin einige Zeit in der Illegalität aus, bevor auch sie nach Wien gelangen können. Ende 1933 bewirbt sich Morgenstern bei der WPV um den Kandidatenstatus. Im Lehrausschuss- Protokoll vom 16. Januar 1934 ist vermerkt: „Milan Morgenstern, jetzt Gast, möchte Kandidat werden, von Dr. Horney analysiert (2 ½ Jahre), war in Berlin erst abgelehnt, dann vorgeschlagen, konnte wegen der hohen Kosten die Ausbildung nicht durchführen, 15 Jahre heilpädagogische Praxis.“
In der Sitzung am 8. März 1934 schildern August Aichhorn und Siegfried Bernfeld ihre Eindrücke: Morgenstern erziele gute Erfolge mit seiner Arbeit und habe im Berliner Seminar viel dazugelernt. Die Analyse bei Horney habe er sich zusammengespart, diese habe ihn dann 1932 als Kandidaten empfohlen, er wurde aber nicht aufgenommen. In Wien wird Morgenstern zugelassen. In späteren Sitzungen wird von Problemen berichtet: Morgenstern sei „zerfahren“, es wird beschlossen, ihn „nicht so sehr zum Analytiker als vielmehr zum psychoanalytischen Heilpädagogen auszubilden“.
1936 veröffentlicht Morgenstern zusammen mit der Psychologin Helena Löw-Beer im Wiener Sensen-Verlag das Buch Heilpädagogische Praxis – Methoden und Material, ein Klassiker, der bis heute in mehreren Auflagen und Übersetzungen erschienen ist. In dieser Zeit beginnt Morgenstern auch, Spielzeug für behinderte Kinder zu entwerfen. Durch diese Arbeit und sein Buch werden Paul und Marjorie Abbatt aus London auf ihn aufmerksam. Die Abbatts sind begeisterte Reformpädagogen, die ursprünglich eine eigene Schule gründen wollten. Nach dem Scheitern dieses Plans eröffnen sie ein Spielzeuggeschäft, aus dem in der Folge der Spielzeughersteller Abbatt Ltd. hervorgeht. Die Abbatts ermöglichen Morgenstern und seiner Familie 1938 die Ausreise nach England, wo Morgenstern weiterhin auch seinem Interesse an der Psychoanalyse nachgeht. Er stirbt 1954 in London. Bis heute wird heilpädagogisches Spielzeug nach seinen Entwürfen hergestellt.