Über Martin Engelberg und seinen Wahlkampf um das Amt des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde.
Von Michael Fleischhacker (Text) und Peter Rigaud (Fotos)
Offiziell bestreiten Martin Engelberg und Oskar Deutsch als Anführer ihrer Listen den Wahlkampf um die 24 Sitze des Kultusvorstandes der IKG. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Auseinandersetzung zwischen Martin Engelberg und Ariel Muzicant. Und die dauert jetzt auch schon wieder 23 Jahre.
Engelberg und Muzicant haben, naturgemäß, möchte man sagen, nicht exakt übereinstimmende Erinnerungen an diese Geschichte.
Für Ariel Muzicant bildet sie die nie versiegende Quelle des Misstrauens gegen den acht Jahre jüngeren Mann, der zu jener Zeit, als Student, in seiner Firma gearbeitet hatte. Muzicant und Engelberg waren bei den damaligen Wahlen zum Kultusvorstand in derselben Fraktion, der „Jungen Generation“, gewesen. Muzicant als Nummer eins, Engelberg als Nummer zwei. Engelberg habe gegen ihn „geputscht“, als er eine Woche nicht da gewesen sei, erzählt Muzicant. Und im Wesentlichen sieht er Engelbergs späteres Agieren in der Kultusgemeinde, bis hin zur Gründung der Zeitschrift, in der dieser Text erscheint, wohl als eine Art permanenten Putschversuch bis zum heutigen Tag: „Es ging ihm immer nur darum, mich und die herrschenden Verhältnisse schlechtzumachen.“
Engelberg blieb eine wesentlich harmlosere Version der Ereignisse in Erinnerung: Es habe Unmut gegen Listenführer Muzicant gegeben. Auf Wunsch der Unzufriedenen habe man einen Termin zur Neuerstellung der Liste einberufen, vor dem Muzicant tatsächlich einige Tage im Ausland gewesen sei. Bei der Neuerstellung der Liste selbst sei dann Engelberg an Nummer eins gereiht worden. Da er aber der Meinung gewesen sei, dass er, damals 29-jährig, als potenzieller IKG-Vizepräsident ohnehin zu jung sein würde, habe er zurückgezogen. Nach dem Wochenende habe man die Liste erneut modifiziert, wieder mit Muzicant an erster Stelle und Engelberg an zweiter. Das Versprechen, dass Engelberg im Gegenzug Klubobmann würde, habe Muzicant nie gehalten, sagt Engelberg: „Aber ich wusste damals ja schon, mit wem ich es zu tun hatte.“ Der wechselseitige Hauptvorwurf, der seitdem in modifizierten Spielarten gegeneinander erhoben wird, ist im politischen Kontext weder außergewöhnlich noch besonders ehrenrührig: Engelberg kritisiert, dass Muzicants forsches, gelegentlich verbal überzogenes Auftreten nicht der Sache diene, sondern dem Machterhalt, also ein klassisches populistisches Muster aufweise. Die Angriffe von außen, die Muzicant so auf sich ziehe, dienten der Absicherung seiner Position nach innen.
Muzicant sagt, dass es Engelberg nicht um die Sache, die Gemeinde gehe, sondern ausschließlich um das eigene Ego. Er wolle endlich „nicht mehr nur Prinzgemahl, sondern auch Präsident“ sein. Dahinter verbirgt sich in diesem Fall fast subtil eines der nicht wirklich subtilen Wahlkampfnarrative der Anti-Engelberg-Fraktion: Das mit der Wahl des „Chaj“-Listenführers entstehende „First Couple“ der Gemeinde aus Martin Engelberg und seiner Frau Danielle Spera, der Direktorin des Jüdischen Museums. Ob das nicht zu viel Macht und Einfluss in einer Familie sei, wird gefragt. Es ist eine jener Fragen aus dem Buchstabenschatzkistlein der politischen Konkurrenzkommunikation, die als Antwort konzipiert sind.
Dass Martin Engelberg und seine Leute die über dessen Präsidentschaft hinausgehende Auseinandersetzung mit Ariel Muzicant durchaus auch bewusst am Leben erhalten, liegt auf der Hand: Keine direkt an ihn gerichtete Polemik könnte den Gegenkandidaten Oskar Deutsch so klein reden wie die unausgesprochene Tatsache, dass er auch als amtierender Präsident nur jener Stellvertreter Ariel Muzicants ist, der er in den vergangenen dreizehn Jahren schon war. Martin Engelberg, der schon als Student in den Journalismus eingestiegen ist und noch heute als NU-Mitherausgeber und „Presse“-Kolumnist journalistisch tätig ist, versteht sich auf das geschriebene und gesprochene Wort und seinen zweckmäßigen Einsatz. Er ist ein Engelberg, aber kein Engel. Auch Ariel Muzicant weiß, dass sein langjähriger Gegenspieler ein „hochintelligenter“ Mensch ist, und ein „sehr charmant wirkender“ noch dazu. „Charmant wirkend“ statt „charmant“: auch nicht schlecht.
Dass hinter der Wahlauseinandersetzung Engelberg – Deutsch eigentlich die Frage Muzicant oder Engelberg steht, sehen aber auch Menschen so, die erstens sowohl Oskar Deutsch als auch Martin Engelberg für geeignete Kandidaten halten und zweitens eigentlich zu der Sache gar nichts sagen wollen. Paul Chaim Eisenberg zum Beispiel, der Oberrabbiner. Er glaubt, „dass Ossi Deutsch eher für Kontinuität steht und Martin Engelberg eher für einen neuen Weg“. Vor allem aber will er, wie der Bundespräsident, keine Wahlempfehlung abgeben, sondern „die Empfehlung, zur Wahl zu gehen“. Und diese Wahl möge „so friedlich ablaufen, dass die beiden hinterher zur Zusammenarbeit finden“.
Warum auch nicht? Was ihren Zugang zur jüdischen Tradition und ihrer zeitgenössischen Lebbarkeit betrifft, sind sich Oskar Deutsch und Martin Engelberg vermutlich gar nicht so unähnlich. Beide kommen aus traditionellen Familien, beide leben diese Tradition auf ihre je eigene Weise noch heute.
Für Martin Engelberg jedenfalls ist klar, dass der vornehmste, der eigentliche Ort des religiösen Lebens die Familie ist. Das war schon in seiner Familie so, allerdings hatte der Vater, einer der wenigen Überlebenden einer großen Krakauer Familie, der mit den Sowjets nach Wien gekommen war, das Forttragen der Tradition immer als Zugeständnis an seine aus Lemberg geflüchtete Frau verstanden. Er selbst hat nach der Schoah keinen Zugang zum Glauben mehr gefunden, was unter anderem dazu führte, dass er gelegentlich, wenn Mutter Engelberg nicht im Haus war, als eine Art grimmigkulinarischen Beitrag zur Theodizee- Frage, die ihn umtrieb, auch einmal einen Schweinsbraten servieren ließ. Ein solcher Spaß wäre allerdings Martin Engelbergs Sache nicht. Als Student hat auch in seinem Leben die religiöse Tradition keine wirkliche Rolle gespielt, da war, wie für viele andere auch, Jüdisch-Sein fast ausschließlich eine politische Kategorie. Erst Heirat und Kinder führten zur Wiederanknüpfung an die eigene religiöse Tradition. Der Vater dreier Kinder kann dabei aus einem umfangreichen Fundus an Wissen schöpfen, dessen nicht nur im Schwange der Freiwilligkeit vonstatten gegangene Aneignung ihm nicht ausschließlich in guter Erinnerung ist: „Wenn die anderen nach der Schule zwei Stunden Fußball gespielt haben, musste ich nach einer Viertelstunde gehen, weil zu Hause der Rabbiner auf mich gewartet hat.“ Noch heute wundert sich der 1960 geborene Geschäftsmann, der neben seiner psychodynamisch orientierten Beratertätigkeit in der „Vienna Consulting Group“ nach wie vor auch im Immobiliengeschäft tätig ist, wie selbstverständlich es in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren war, als der Unterricht noch an sechs Tagen die Woche stattfand, dass da ein Schüler bis in die HAK-Oberstufe Samstags nie zur Schule kam. Das tiefreichende Bewusstsein des Eingebundenseins führt er heute darauf zurück, dass für seine Eltern Wien nicht der Ort der Verfolgung gewesen ist, sondern der Ort der Rettung. Naiv waren sie trotzdem nicht: Sein Vater wäre nie auf die Idee gekommen, sich einen jüdischen Anwalt zu nehmen. Angesichts der großen Zahl an Altnazis im Richterstand schien es eher angezeigt Anwälte zu haben, die auch Altnazis waren, jedenfalls aber keine Juden.
Der Pragmatismus des Vaters lebt im Sohn in Form der Ablehnung von Ideologien weiter. Martin Engelbergs Polemik gegen Ariel Muzicant wegen dessen SPÖ-Mitgliedschaft und seiner über die konkreten Anliegen der Gemeinde hinaus immer leicht parteipolitisch getönten Einlassungen zur Zeit der ÖVP-FPÖ-Regierung ist da mehr als nur Taktik. „Natürlich kann der Präsident der Gemeinde Parteimitglied sein“, sagt er. „Ich würde es nie tun, aber aus sehr persönlichen Gründen.“
Das freudvolle Ringen darum, die Skepsis gegenüber jeder Ideologie sich selbst und anderen gegenüber nicht als opportunistische Standpunktlosigkeit erscheinen zu lassen, ist vielleicht das politisch-ideengeschichtlich- religiöse Kraftwerk, das Martin Engelberg antreibt. Er will sich im Leben religiöser Traditionen aufgehoben sehen, ohne dogmatisch zu werden, er will liberale politische Positionen vertreten, ohne als neoliberaler Hardliner aufzutreten, er will die soziale Komponente in einem liberalen Wirtschaftssystem betont sehen und gleichzeitig gegen die sozialpartnerschaftlich- sozialstaatliche Mittelmaß-Mentalität des Landes polemisieren.
Vielleicht ist das im altmodischen und nicht-beruflichen Sinn Journalistische an Martin Engelberg das, was ihn am stärksten prägt: Leben ist für ihn Welt verstehen und Welt erklären. Eine solche Erscheinung beeindruckt durch breite Bildung und schnelle Informationsverarbeitung, sie erweckt aber gelegentlich auch den Eindruck des Luftigen, nicht an jeder Stelle Konsequenten. Ein- und Mitmischen gehört natürlich auch dazu, auf jeder Ebene. Warum würde sich sonst jemand um ein Amt bewerben, was sein Freund und NU-Mitherausgeber Erwin Javor als den „furchtbarsten Job“ sieht, „der in Wien zu vergeben ist“. Und, wenn man Ariel Muzicant glauben darf, auch einen der teuersten? Von der Sekretärin bis zum Sicherheitsdienst, sagt der ehemalige Präsident, müsse der Amtsinhaber alles aus eigener Tasche berappen, weil die gerade erst finanziell entschuldete Gemeinde sonst wieder Schulden machen müsste.
Ob Martin Engelberg für alle praktischen und strukturellen Probleme, die es in der IKG wie in jeder anderen Institution gibt, eine Lösung finden kann, ob er also ein guter Präsident für die Israelitische Kultusgemeinde wäre, kann und soll ein katholischer Klosterzögling wirklich nicht beurteilen. Aber auf die Frage, warum er es werden will, kann der religiös musikalische Nichtjude eine Antwort versuchen: Da ist jemand ernsthaft daran interessiert, für sich und eine ganze Gemeinde neue Antworten auf die Frage zu finden, was, außer der Bewahrung der Erinnerung, es heißen kann und soll, heute in Wien Jude zu sein.
Die Israelitische Kultusgemeinde Wien wählt am 11. November einen neuen Vorstand. Dieser setzt sich aus 24 Mitgliedern zusammen und stellt auch den künftigen Präsidenten. Derzeit hat Oskar Deutsch das Amt inne. Der Vorstand der IKG setzt sich aus 24 Mandataren zusammen. Zehn davon konnte sich „Atid“ bei der vergangenen Wahl im November 2007 sichern. Weitere derzeit vertretene Fraktionen sind die Sefardim-Bucharischen Juden, der Bund Sozialdemokratischer Juden-Avoda, die junge liberale Liste Gesher, Khal Israel, die Georgischen Juden, der Block der religiösen Juden sowie die Misrachi-Zionistische Einheit. Frühester Termin zur Abgabe von Wahlvorschlägen ist der 3., spätester der 11. Oktober 2012. Den IKG-Mitgliedern stehen auch diesmal alternative Wahltage zur Verfügung, etwa wenn diese nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Diese sind der 1. und 6. November, wobei lediglich in der Wiener Seitenstettengasse gewählt werden kann. Bedingung ist immer die Vollendung des 18. Lebensjahres.