Kommentar von Martin Engelberg
Bei dieser Wahl in Israel gab es klarerweise vor allem einmal eine Spaltung zwischen dem „Nur-Bibi“- und dem „Nur-nicht-Bibi“-Lager. Es fand sich in Israel wohl keine Person, die in dieser Frage nicht eine eindeutige Position hatte. Obendrein auch noch kategorisch, also kompromisslos, oft sogar militant.
Allein im Jahr 2022 habe ich Israel siebenmal besucht und hatte die Gelegenheit zu sehr vielen, sehr interessanten Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Gesprächspartnern. Rabbi David Stav, Gründer der immer wichtiger werdenden modern-orthodoxen Rabbinatsorganisation Tzohar, sprach davon, dass sich die israelische Gesellschaft zunehmend in ein jüdisches und ein israelisches Lager teile. Das jüdische ist religiös oder zumindest traditionell, die Familie ist wichtig, ebenso wie die nationale Identität, die Verbundenheit zu „Erez Israel“, dem Land Israel inklusive Judäa und Samaria (der Westbank). Politisch ist dieses Lager dem rechten Teil des Spektrums zuzuordnen, was in der Praxis bedeutet: eine sehr geringe Bereitschaft zu Kompromissen hinsichtlich der Existenz und dem weiteren Ausbau der Siedlungen in der Westbank. Zugleich allergrößte Skepsis gegenüber der Etablierung eines palästinensischen Staates. Innenpolitisch eine Stärkung der Exekutive gegenüber der Judikative, weil die Gerichte und insbesondere der Oberste Gerichtshof ihnen zu liberal und links erscheinen.
Die Israelis der jüngeren Generation und die israelische Gesellschaft insgesamt rücken immer mehr in dieses Lager. Die jungen Menschen, weil sie den damals so vielversprechenden Friedensprozess der 1990er Jahre gar nicht miterlebt haben. Vielmehr sind sie in einer Zeit von Terror und wachsender Religiosität im Land aufgewachsen. Selbstmordanschläge, explodierende Busse, Messerattacken und eine zunehmende Separierung zwischen Palästinensern und Israelis. Früher fuhr man noch bedenkenlos in die arabischen Städte der Westbank, zum Einkaufen, Essengehen oder nur zum Kaffeetrinken, ja, es gab sogar Zeiten, als man noch nach Gaza fuhr oder den Felsendom am Tempelberg problemlos besuchen konnte. Das alles kennen junge Israelis nicht mehr. Israelis und Palästinenser begegnen einander kaum noch. Wenn, dann hauptsächlich als Soldaten gegenüber steinewerfenden Jugendlichen.
Das stimmt nicht optimistisch, ist aber die neue Realität. Aufgrund des jüngsten Wahlergebnisses sind dem jüdischen Lager rechts der Mitte über 80 von 120 Mandaten, also mehr als eine Zweidrittelmehrheit aller Israelis zuzurechnen. Ohne israelische Araber gerechnet (zwanzig Prozent der israelischen Staatsbürger sind Araber), sind es fast 75 Prozent der jüdischen Israelis. Verstärkt wird das alles noch durch das starke Abschneiden offen araberfeindlicher Politiker wie Itamar Ben-Gvir, der bereits wegen rassistischer Hetze verurteilt wurde und der sich für die Ausweisung von Arabern ausspricht, die gegen den Staat Israel sind. Auch der Likud-Politiker Gilad Sharon, Sohn des legendären Premierministers Ariel Sharon, sprach ganz offen davon, dass es ja mit Jordanien bereits einen palästinensischen Staat gäbe. Die Palästinenser in den Städten von Judäa und Samaria sollen die jordanische Staatsbürgerschaft annehmen und könnten dann ja durchaus in einer lokalen Autonomie in den Städten wie Ramallah, Jenin, Nablus usw. leben, solange Israel insgesamt die Oberhoheit über die Sicherheit aller Gebiete bis zum Jordan-Fluss, der Grenze zu Jordanien, innehätte.
Der renommierte palästinensische Meinungsforscher Dr. Khalil Shikaki berichtete über die ernüchternden Zahlen auf palästinensischer Seite: Die Zahl der Religiösen in der Westbank hat sich in den letzten Jahren auf 42 Prozent verdoppelt, die positive Wahrnehmung von Demokratie nimmt stark ab. Ein Drittel der Palästinenser der Westbank würden derzeit die Hamas wählen und zur stimmenstärksten Partei machen, wenn denn irgendwann einmal überhaupt wieder einmal Wahlen stattfänden. 75 Prozent sind gegen den derzeitigen Präsidenten Mahmud Abbas. Ein Nachfolger für den jetzt schon 86-Jährigen ist nicht in Sicht. Eine Mehrheit der Palästinenser hat inzwischen den Glauben an eine Zweistaatenlösung verloren; 45 Prozent sprechen sich ganz offen für den bewaffneten Kampf aus. Und in Gaza sind die Zahlen noch viel höher.
Wer sich mit der Besetzung und Besiedlung der Westbank schwertut und eine Zweistaatenlösung befürwortet, wählte links. Dem „israelischen Lager“ gehört die 68er Generation an, all jene, die noch der Kibbuz-Romantik nachhängen, der Peace-Now Bewegung, die weiterhin auf Frieden und ein gedeihliches Zusammenleben mit den Palästinensern hoffen. Sie haben mit Religion wenig am Hut und lehnen die jüdische Orthodoxie ganz offen ab. Insbesondere die Oberhoheit des Rabbinats über das ganze Familienwesen wie z.B. Hochzeiten und Scheidungen. Ebenso wie den Druck der Orthodoxie auf Einhaltung der jüdischen Gesetze im israelischen Alltag und nicht zuletzt die enormen Unterstützungsleistungen für orthodoxe Familien, in denen 50 Prozent der Männer ihr Leben zum Studium in Talmud-Schulen verbringen, keiner geregelten Arbeit nachgehen und auch nicht zum Wehrdienst eingezogen werden.
Diese Israelis haben noch gesehen, wie Jitzchak Rabin, Shimon Peres und Yassir Arafat einander in Washington die Hände schüttelten und vom Frieden sprachen. Ein gutes Beispiel ist Gilead Sher: Er war ganz unmittelbar in die Verhandlungen von und um Camp David II eingebunden. Damals, im Jahr 2000, kasernierte US-Präsident Bill Clinton den israelischen Premier Ehud Barak und Yassir Arafat am Feriensitz Camp David für Tage und Wochen. Es half nichts – Yassir Arafat hatte nicht den Mut, die Hand zu einem Kompromiss zu reichen, der auf dem Tisch lag. Dennoch will Gilead Sher die Hoffnung nicht aufgeben. Er glaubt noch immer an ein Aufleben dieses Prozesses, ist weiterhin mit seinen damaligen Verhandlungspartnern auf der palästinensischen Seite in Kontakt. Nicht zuletzt aufgrund des Wahlergebnisses fragt man sich, wie realistisch diese Erwartung ist.
Auch gesellschaftspolitisch ist das israelische Lager und damit die Linke in der Defensive. Sozialpolitische Themen wie die enorm hohen Preise in Israel, insbesondere für das Wohnen und Lebensmittel, sind keineswegs das Monopol der Linken. Groß geschrieben ist jedoch beispielsweise der Einsatz für die Rechte der LGBTIQ-Community, die Freigabe von Drogen und sonstige sozial-liberale Themen. „Links“ ist in Israel zu einem Schimpfwort geworden. Von der einst stolzen und mächtigen Arbeiterpartei, welche Israel die ersten Jahrzehnte nach der Staatsgründung völlig dominierte, ist bei dieser Wahl ein spärlicher Rest von gerade einmal vier der 120 Mandate, also knapp über drei Prozent der Wähler, geblieben.
Auch die Medienlandschaft, einst die Hochburg des liberalen, säkularen und progressiven Israels, hat sich grundlegend geändert. Diese Säule des „israelischen Lagers“ ist zunehmend verloren gegangen. Heute sind die populärsten Zeitungen und Fernsehkanäle rechts gerichtet, nationalistisch und religiös.
Benjamin Netanjahu hat diese Wahl deutlich gewonnen. Entgegen vielen Prognosen ist der Wahlsieg nicht einmal knapp ausgefallen. Gemeinsam mit seinen potenziellen Koalitionspartnern kommt er auf eine – für Israel – satte Mehrheit von 65 der 120 Mandate. Netanjahu ist weiterhin der überragende Politiker Israels, trotz der Korruptionsvorwürfe, trotz der massiven Anfeindungen, die ihm aber vielleicht sogar geholfen haben. Eine Mehrheit der Israelis will das Schicksal des Landes in seinen Händen wissen, vertraut auf seine Führungsfähigkeit. Den eingefleischten „Nur-Nicht-Bibi“-Politikern sollte dieser klare Wahlerfolg Netanjahus in einer demokratischen Wahl zu denken geben.
Für niemanden überraschend stellen heute die Progressiven und Linken, also das „israelische Lager“, eine deutliche Minderheit dar. Parteien dieses Teils des politischen Spektrums verfügen über nicht einmal 25 Prozent der Mandate. Dass sie eine regierungsfähige Mehrheit bilden können, ist nach dieser Wahl und für absehbare Zeit ausgeschlossen.
Inzwischen ist sehr wahrscheinlich, dass es Netanjahu gelingen wird, eine Regierung mit den orthodoxen und den radikal rechten Parteien zu zimmern. Das wird mitunter zu heftiger Ablehnung in einigen Ländern führen, aber Israel und insbesondere Netanjahu ist solchen Kummer gewohnt. Andererseits liegt es in den Händen der Netanjahu-Gegner, ihm die Hand zu reichen für die Bildung einer Koalition ohne Extremisten.