Als der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung es wagte, auch den Schatten der Nazizeit im Umgang mit dieser Kriminalgeschichte zu identifizieren, waren sich alle in ihrer empörten Zurückweisung einig.
Von Martin Engelberg
In den heißen Tagen nach der Aufdeckung der Kriminalgeschichte des Josef F. überschlugen sich alle Stellungnahmen förmlich in Superlativen. Vom „radikal Bösen“, vom „Monster“ war die Rede. Noch Wochen später bezeichnete ein Philosoph in einer Diskussionssendung die Tat als „ganz exorbitant böse Handlungen“. Es schien mir als würde hier ein Kriminalfall wahrgenommen, als ob es keine Shoah gegeben hätte, als ob es ganz exorbitant böse Handlungen, noch dazu in weit größerem Ausmaß, nicht schon in Europa, in Österreich, ja sogar in ganz unmittelbarer Nähe von Amstetten gegeben hätte.
Wenn man von Kindheit an mit den Geschichten über SS-Männer aufwächst, die jüdischen Müttern die Babys aus den Händen rissen, um diese dann mit dem Schädel an eine Wand zu schlagen und zu ermorden, dann ist das Ausmaß an Brutalität, Unmenschlichkeit, ja Bestialität, zu denen Menschen fähig sind keine unbekannte Kategorie mehr. Dann macht es fassungslos, dass eine Nonne im Fernsehen davon sprach, dass wir in den letzten Jahren (sic!) das Paradies verloren hätten und uns überlegen müssten, wie wir dorthin zurückfinden könnten.
Es ist fast nicht zu glauben, wie sehr hier offensichtlich – in einer ganzen Gesellschaft – ein Abwehrmechanismus einsetzte, der sich die Zeit bis zu den Fällen Kampusch und F. geradezu als paradiesisch phantasiert und die zahllosen Verbrechen, die in Österreich, im Namen des Christentums und in der Welt überhaupt an Menschen begangen wurden, völlig negiert.
An dieser Stelle offenbarte sich auch ein grundlegender Unterschied des Menschenbildes im Judentum und Christentum: Den Ausspruch aus der Tora (3. Buch Moses) „We’ahafta Lere’acha Kamocha – Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ reklamiert das Christentum für sich, schafft das Ideal der absoluten Nächstenliebe und scheint dabei völlig den Aggressionstrieb im Menschen und seine Fähigkeit zu hassen und zu morden zu negieren.
Im Judentum hingegen befand bereits der bedeutende Schriftgelehrte Hillel vor 2.000 Jahren, dass der Mensch diesem Anspruch nicht gerecht werden könne, und formulierte ihn entscheidend um, in: „Was du nicht willst, das man dir antue, das füge auch keinem anderen zu.“
Damit ist gleich viel eindeutiger „das Böse“ nicht der Ausnahmefall, sondern Teil des Menschen, den es gilt – wenn möglich – durch Fähigkeit zur Empathie, zum Einfühlen in den Anderen beziehungsweise – wenn nötig – durch Über-Ich-Instanzen in Schach zu halten.
Auch der – ich möchte ihn so nennen – „Waldheim-Reflex“ regierte sofort wieder: Als der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung es wagte, in einem Kommentar und in einer TV-Diskussion auch den Schatten der Nazizeit im Umgang mit dieser Kriminalgeschichte zu identifizieren, waren sich alle österreichischen Teilnehmer in ihrer empörten Zurückweisung, in der sofortigen Bildung einer Wagenburg gegenüber dem Ausland einig.
Genauso wie im Umgang mit der Waldheim-Affäre war eine sachliche Untersuchung dieses Falles, eben auch im Lichte des Einflusses der Nazizeit darauf, sehr schwer. Allen voran der Bundes- und der Vizekanzler, denen nichts Besseres einfiel, als sich schützend vor ihr Österreich zu stellen, als ob es vom Ausland angegriffen würde, und sich als geeignete Reaktion auf diesen Fall eine Imagekampagne Österreichs im Ausland auszudenken.