Dass die Österreicher gleich ab dem 13. März 1938 mit so großer Begeisterung dabei waren – und das ganz ohne Befehl – verblüffte selbst die SS. Die Neuauflage des Klassikers „Und keiner war dabei“ belegt den Alltagsantisemitismus in Wien.
Von Danielle Spera
Es ist ein Buch, das schon bei seinem ersten Erscheinen vor genau 20 Jahren für Schlagzeilen gesorgt hat und nach kurzer Zeit vergriffen war, vielleicht auch, weil es den sprichwörtlichen Alltagsfaschismus des Jahres 1938 genau dokumentiert und analysiert – ohne dabei ins Wissenschaftliche abzugleiten.
Dass sich der Mob – vor allem in Wien – mit größter Euphorie auf die Juden gestürzt hat, belegen die Autoren mit Dokumenten und Briefen, die ein erschreckendes Bild liefern. Es beginnt bereits beim Buchumschlag, der drei Juden beim demütigenden Straßenreiben auf der Favoritenstraße in Wien zeigt. Nach Erscheinen der ersten Auflage des Buches im Jahr 1988 meldete sich einer der drei Abgebildeten, die bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt waren, und erzählte seine Geschichte. Es war Robert Mildwurm, der aus einer wohlhabenden Wiener jüdischen Familie stammte und dem nach vielen Erniedrigungen, der Internierung in Dachau letztendlich auf abenteuerlichen Wegen die Flucht und Emigration in die USA gelungen war, wo er sich in Kalifornien eine neue Existenz aufbauen konnte.
Wer waren diese Menschen, wer hatte die Diffamierung der Juden, wer hatte die Beschlagnahme ihres Eigentums betrieben? Inwieweit waren die nicht jüdischen Wiener involviert, waren sie Täter, Komplizen oder unbeteiligte Zuschauer? Diesen Fragen sind die Autoren in penibler Quellenforschung nachgegangen. Sie lassen Opfer und Täter direkt zu Wort kommen, indem sie ihre Briefe veröffentlichen. Es sind Berichte von Opfern, ihre Bittgesuche an die Obrigkeit. Gleichzeitig werden sie den Dokumenten von Personen gegenübergestellt, die an der Hetzjagd beteiligt waren, die als „Kommissare“ die Betriebe von Juden überwachten, sich um „Arisierungen“ bewarben oder diese durchführten.
Die Erstausgabe ist 1988 erschienen, mitten in den Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Nazivergangenheit. Die Waldheim-Debatte hat damals den Anstoß für Diskussionen über Täterschaft aufgeworfen, der Opfermythos war in der österreichischen Selbstdarstellung tief verwurzelt. Innerhalb der letzten 20 Jahre hat sich aber das Wissen über die Verfolgung, Enteignung und Vertreibung von Juden in Österreich durch die Untersuchung wichtiger Bereiche vertieft.
Spät, aber doch haben Entschädigungszahlungen eingesetzt, es werden nach und nach auch Kunstgegenstände zurückgegeben. Die Historikerkommission hat sich wissenschaftlich mit den Ereignissen auseinandergesetzt und durch die Öffnung der Archive sind mehr und mehr Akten zugänglich geworden und damit an die Öffentlichkeit gelangt. Und auch die Opfertheorie wird von der Politik nicht mehr als allgemeingültige Geschichtsschreibung verbreitet.
All das haben Hans Safrian und Hans Witek zum Anlass genommen, ihr Buch zu erweitern. Der Schriftverkehr verschiedener Behörden, aber auch Schlüsseldokumente zu den Enteignungen, die bisher unbekannt waren, sind in die Neuauflage aufgenommen worden. Und diese Dokumente verstärken das bereits vorhandene Bild. Nämlich, dass die Antisemiten hierzulande nicht erst von der Propaganda der NS-Maschinerie überredet oder angestiftet werden mussten – im Gegenteil, die Nazis waren über das Ausmaß der Rage gegen die Juden erstaunt.
Ein Zitat von Carl Zuckmayer dokumentiert diese gespenstische Stimmung: „Was hier entfesselt wurde, hat mit der ‚Machtergreifung‘ in Deutschland, die nach außen hin scheinbar legal vor sich ging und von einem Teil der Bevölkerung mit Befremden, mit Skepsis oder mit einem ahnungslosen, nationalen Idealismus aufgenommen wurde, nichts mehr zu tun. Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“
Dass die Wiener Juden vom Ausmaß des Hasses, der ihnen plötzlich entgegenschlug, überrascht waren, geht aus den im Buch abgedruckten Zeugnissen bewegend hervor: „Ich hatte eigentlich kein Minderwertigkeitsgefühl gehabt, Jüdin zu sein. Ich glaubte einer Familie anzugehören, die in bescheidenem Maße zum kulturellen Leben Wiens beigetragen hat“, schreibt Hilde Wagner-Ascher in ihren Erinnerungen. Ihr Vater war als einer der Ersten verhaftet worden und starb in den Händen der Gestapo.
Immer wieder betonen die Verfolgten, dass sie doch anständige „deutsche“ Staatsbürger seien, und nicht verstehen würden, warum man ihnen ihre Wohnungen und ihr Hab und Gut wegnimmt: „Am 17. März 1938 erschienen in meiner Wohnung einige Herren in Uniform und machten, wiewohl ich mich als alte Frau nie mit Politik befasst habe, eine Hausdurchsuchung …, am 19. März erschienen neuerlich mehrere Herren in Zivil und machten eine Hausdurchsuchung, bei welcher ein Großteil meiner Wohnungseinrichtung demoliert wurde“, schreibt die 69-jährige Rosa Eisinger und bittet um Rückgabe ihrer Wohnung und ihres Vermögens.
Während in Deutschland die ersten Opfer der Nazis die Sozialisten und Kommunisten waren, sind es in Wien die Juden. Der Terror gegen die Juden setzte in Wien vom Tag der Machtübernahme ein. Demütigungen, Demolierungen, Plünderungen und Enteignungen begannen in der ersten Minute. Die Polizei versagte jeden Schutz. Die organisierten und wilden Verfolgungsund Ausgrenzungsmaßnahmen führten dazu, dass zahlreiche Menschen den Freitod suchten. „Jüdische Freunde teilten einem den Entschluss, Selbstmord zu verüben, in dem gleichen Ton mit, in dem sie einem früher erzählt hatten, dass sie eine kurze Eisenbahnreise unternehmen würden“, zitieren Safrian/Witek G.E.R. Gedye in ihrem Buch.
Ein weiterer Teil des Buches ist der „Arisierung“ des Riesenrads und der Hochschaubahn gewidmet, die mit einem Brief eines SA-Obersturmbannführers an die Vermögensverkehrsstelle Wien begann: „Ich habe in Erfahrung gebracht, dass das Riesenrad im Prater dem Prager Juden Steiner gehört. Da ich annehme, dass das Wiener Wahrzeichen nicht dem Juden belassen wird, stelle ich das Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung, dass mir als Ehrenzeichenträger jedwede erforderliche Unterstützung zuteil wird.“ Dutzende Wiener Kinos müssen ihre Besitzer wechseln, diese Enteignungen werden gar als Sozialaktion dargestellt: „Die Arisierungskommission im Kinotheaterfach vertritt die Ansicht, dass das Abwandern jüdischer Kinotheaterbesitzer benützt werden muss, um einer Vielzahl von schwerstens geschädigten Parteigenossen eine Lebensmöglichkeit zu bieten, und fasst daher die Arisierung als eine Sozialaktion auf …“, so ein Kommuniqué an die Gaufilmstelle.
Noch immer versuchen Wiener Juden, als Bittsteller aufzutreten und richten förmlich Gnadengesuche an den Gauleiter: „Ich bitte nochmals inständigst um gnadenweise Freigabe der beschlagnahmten Werte, um meine und meiner Familie Auswanderung zu ermöglichen …“ In einem Bericht schreibt Gauleiter Bürckel erstaunt über die Einstellung der Wiener zur Arisierung und sieht für sich Erziehungsaufgaben: „Die Tatsache, dass die Parteigenossenschaft in Österreich zu vielen Dingen eine Einstellung bekommen hat, die unserer Auffassung über Eigentum, persönliche Sauberkeit in Geldsachen usw. nicht ganz entsprach, das ist nun einmal eine Gegebenheit, wo mir als Beauftragten des Führers eine ganz große Erziehungsaufgabe gestellt war …“
Während ein großer Teil des Buches sich der Zeit zwischen März und November 1938 widmet, in der Übergriffe und Ausschreitungen gegen Juden bereits auf der Tagesordnung standen, ist das Schlusskapitel dem Novemberpogrom vorbehalten. Und auch da wird evident, dass die NS-Führung von der Wucht des Hasses in Wien überrascht war: So schreibt SS-Obersturmbannführer Riegler nach einer Auflistung der Zerstörungen: „Die nach so langer Zurückhaltung gebilligten Maßnahmen gegen die volkstumszersetzende Judenheit wurden von der ganzen Bevölkerung nicht nur gebilligt, sondern mit Begeisterung aufgenommen.“
In einem Epilog schildern die Autoren die Nachkriegszeit und vor allem die Probleme der jüdischen Rückkehrer. Hier liegen ebenfalls die Originaldokumente von Betroffenen und Beteiligten vor. So fasst die Kultusgemeinde zusammen: „Nicht einem einzigen österreichischen Juden ist es geglückt, wieder in Österreichs Wirtschaft Fuß zu fassen, in der Bevölkerung Österreichs herrscht starker Antisemitismus. Wenn es bisher noch keine offenen Ausbrüche von Antisemitismus gegeben hat, so nur deshalb, weil sie noch durch ihre Niederlage eingeschüchtert sind und das Land besetzt ist.“
Wie ist das Nachkriegsösterreich mit den Opfern umgegangen, aber auch, wie sehr die Täter mit Samthandschuhen angefasst worden sind, ist im Schlusskapitel des Buches zu lesen. Ein Buch, das – auch wenn man meint, schon viel über das Jahr 1938 zu wissen – einen in seinen Bann zieht. Und nach wie vor Aktualität hat.
Ausgerechnet während der Lektüre erreichte mich die Nachricht, dass die Religionslehrerin meiner Kinder in Wien attackiert worden ist. Während sie mit ihrem siebenjährigen Sohn, der Pejes (Schläfenlocken) trägt, auf der Oberen Augartenstraße spazieren geht, beschimpft eine etwa 45-jährige, elegant gekleidete Frau den Buben, holt dann aus und versetzt unserer Religionslehrerin einen Schlag ins Gesicht. Zeugen gibt es an diesem Junitag des Jahres 2008 keine. Und keiner war dabei …
Und keiner war dabei.
Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Herausgegeben von Hans Safrian und Hans Witek.
Picus Verlag, Wien 2008
332 S.
Euro 22,90