Von Platon über Cicero bis zu Karl Popper: Seit der Antike wird darüber nachgedacht, ob und wie Kriege legitimiert werden können. Ein Gespräch mit dem österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann über das Kriegführen und den „gerechten Krieg“ aus philosophischer Sicht.
Von Andrea Schurian
NU: Ist vom moralischen Standpunkt aus Krieg gleich Krieg, ist jeder Krieg gleich verwerflich? Oder gibt es gute und böse, gerechte und ungerechte oder doch zumindest mehr und weniger gerechtfertigte Kriege?
Konrad Paul Liessmann: Aus der Perspektive einer abstrakten Moral, wie sie auch vom radikalen Pazifismus vertreten wird, ist der Krieg an sich verwerflich, eine Geißel der Menschheit, die stets Tod, Leid, Elend, Verwüstung und Zerstörung mit sich bringt. Und für diese Position spricht, dass kein Krieg auskommt, ohne das fundamentalste Menschenrecht, das Recht auf Leben, zu verletzen. In jedem Krieg, so bemerkte es einmal Elias Canetti, geht es letztlich darum, dass der Haufen der getöteten Feinde größer ist als die Zahl der eigenen Leichen. Die grundsätzliche Ächtung des Krieges kann also starke moralische Argumente für sich beanspruchen. Und dennoch ist Krieg nicht gleich Krieg, und seit der Antike wird darüber nachgedacht, ob und wie Kriege legitimiert werden können. Denn der Realität können wir uns nicht verschließen: dass Gewalt für viele immer noch ein Mittel ist, um Konflikte, wenn nicht zu lösen, so doch zu „bearbeiten“. Und der Gewalt kann man oft nur mit Gewalt begegnen. Interessant an all den Theorien des „gerechten Krieges“ ist ja, dass dabei davon ausgegangen wird, dass Krieg an sich kein wünschenswerter Zustand ist, dass der Frieden dem Krieg vorzuziehen ist und dass es besonderer Gründe bedarf, um Kriege zu führen. Die Begründungen für einen „gerechten Krieg“ sind dann, den jeweiligen politischen, ideologischen und religiösen Überzeugungen entsprechend, über die Zeiten hinweg ganz unterschiedlich ausgefallen.
Platon hat gesagt, Krieg sei legitim, wenn er die gerechte Ordnung eines Staates verteidigt und illegitim, wenn er aus Habsucht und Eroberungssucht entsteht. Aristoteles hat angefügt, wenn ein Staat, der kulturell zur Führung befähigt ist, gegen solche Krieg führt, die zur Gefolgschaft bestimmt sind, also gegen Barbaren. Für Cicero war ein Verteidigungskrieg ein gerechter Krieg. Und, Sprung in die jüngere Vergangenheit: Karl Popper hat anlässlich des Zweiten Golfkriegs gesagt: „Unser erstes Ziel heute muss der Friede sein. Aber wir dürfen hier nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen.“
Das sind exakt einige der Konzeptionen des „gerechten Krieges“, wie sie entwickelt wurden. Interessant ist, dass schon in der römischen Antike der Gedanke geäußert wurde, dass ein Krieg nur gegen jemanden geführt werden darf, der sich „schuldig“ gemacht hatte, also Frieden und Sicherheit gefährdet hat, dass Unbeteiligte verschont werden müssen und dass sich Mittel und Zwecke die Waage halten sollten. Rom selbst hat sich bei seinen Eroberungskriegen wahrlich nicht immer an solche Maximen gehalten, aber darin drückte sich zumindest ein Problembewusstsein aus. In der Moderne kam noch der Gedanke dazu, dass Kriege nur von legitimierten Instanzen, also Staaten und Regierungen, erklärt und geführt werden können und von regulären Armeen durchgefochten werden sollten. Das ist aktuell besonders wichtig, da wir, wie es der Politologe Herfried Münkler nennt, in einem Zeitalter der asymmetrischen Kriege leben, in dem sich nicht Heere in offenen Schlachten bekämpfen, sondern sich z.B. staatliche Sicherheits- und Ordnungskräfte bewaffneten Formationen wie Terroristen, Partisanen und Untergrundkämpfern gegenübersehen, die von Zivilisten nur schwer zu unterscheiden sind. Der „Krieg gegen den Terror“ ist deshalb kein erklärter und definierter Kampf, sondern ein prinzipiell kaum eingrenzbares Unternehmen. Was die moralische Bewertung betrifft: Unstreitig scheint vielen Philosophen der Fall des Verteidigungskrieges, der analog zum Recht auf Notwehr gedacht wird: Wer angegriffen wird, hat das Recht, sich mit allen Mitteln zu verteidigen, das Risiko, das der Angreifer mit seiner Aggression eingeht, hat er selbst zu tragen. Einen Sonderfall stellt der Präventivschlag dar: Man greift selbst an, um einem vermeintlichen oder wirklichen Aggressor zuvorzukommen. Das ist politisch, militärisch und moralisch heikel. Ob all dies „gerecht“ genannt werden kann, ist deshalb eine strittige Frage, weil der Begriff der Gerechtigkeit impliziert, dass der gerechte Krieg zu gerechten Verhältnissen führen sollte. Viele sogenannte Friedensschlüsse trugen aber den Keim neuer Kriege in sich, und auch das Beispiel von Karl Popper zeigt dies: Der Zweite Golfkrieg hat die Region eben nicht befriedet. Aber die Formulierung Poppers – wir dürfen nicht „zurückschrecken“ – zeigt doch, dass der Krieg damit eher als notwendiges Übel, denn als moralisches Erfordernis gesehen wird. Ich tendiere in dieser Frage zu der Position, wie sie einmal die österreichische Philosophin Herlinde Pauer-Studer formuliert hat: dass es zwar keine „gerechten“, wohl aber „zulässige“, also gerechtfertigte Kriege geben kann.
Wie ist in diesem Sinn der Kampf gegen die Hamas zu sehen?
Zweifellos ist die Hamas eine terroristische Organisation, die sich vor dem Hintergrund einer islamistischen Ideologie nicht nur die Beseitigung des Staates Israel, sondern die Vernichtung jüdischen Lebens zum Ziel gesetzt hat. Der barbarische Überfall und die Massaker vom 7. Oktober 2023 haben dies auf das Furchtbarste bestätigt. Die Hamas ist aber auch eine politische Kraft, territorial im Gazastreifen, den sie beherrscht und von dem aus sie ihre Angriffe startet, verankert. Dass Israel in seinem legitimen Interesse, sich und seine Bürger zu verteidigen, versuchen muss, die Kontrolle über dieses Gebiet zu gewinnen, dieses zumindest zu neutralisieren, musste der Hamas, ihren Verbündeten und Sympathisanten wohl klar gewesen sein. Diese tragen deshalb für alles, was nach dem 7. Oktober geschah, eine Mitverantwortung. Israels gerechtfertigter Kampf gegen den Terror wird damit notwendig hybrid, nimmt die Form einer militärischen Intervention an und hat auch, da noch andere Mächte wie der Iran, die Türkei, Russland und die USA involviert sind, eine prekäre geopolitische Komponente. Wie gerechtfertigt hingegen ein großer Krieg mit unabsehbaren Konsequenzen, der sich aus dieser Konstellation ergeben könnte, noch ist – wer wüsste darüber zu befinden? Hoffen wir, dass sich diese Frage nie stellt.
Wann ist das Kriegführen nicht nur moralisch erlaubt, sondern sogar moralisch geboten?
Ich halte es für schwierig, eine „Pflicht“ zum Krieg zu argumentieren, denn das würde bedeuten, dass wir von uns verlangen, unser Leben aufs Spiel zu setzen, nicht um uns oder die Gemeinschaft, der wir uns verpflichtet fühlen, zu verteidigen, sondern um für eine andere, nun selbst moralisch argumentierte Sache mit gewaltsamen Mitteln einzustehen. In der Moral geht es letztlich um Gut und Böse. Wird der Feind als das Böse klassifiziert, dann bleibt eigentlich nur seine Vernichtung, denn mit dem Bösen kann man weder verhandeln noch Kompromisse schließen. So paradox es klingt: Moral erschwert es, Kriege zu beenden. Oder es geht um Werte, die uns diese Pflicht zum Krieg auferlegen. Nun, spätestens seit Nietzsche wissen wir, dass nichts so flexibel und dehnbar ist wie ein Wert. Die „wertebasierte“ deutsche Außenpolitik der letzten zwei Jahrzehnte hat ja etliche Kapriolen geschlagen. Es gab vor allem im Kontext der Diskussion um sogenannte „humanitäre Interventionen“ Versuche, solch eine Pflicht zu einem militärischen Eingreifen – etwa um einen Völkermord zu verhindern oder einen Diktator zu stürzen – zu argumentieren, allerdings sind solche Begründungen mitunter so durchsichtig mit Machtinteressen verquickt, dass es schwer fällt, an das Gute zu glauben, vor allem, wenn die Ziele nicht erreicht werden können und lediglich instabile Verhältnisse entstehen, die jederzeit wieder in offene gewaltsame Auseinandersetzungen umschlagen können. Wenn die Menschen nach einer „humanitären“ Intervention schlechter leben als vorher, ist offenbar irgendetwas schiefgegangen. Dazu kommt, dass solche Vorstellungen oft mit dem Völkerrecht, das eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates gebietet, kollidieren. Selbst wenn das Völkerrecht schon lange nicht mehr sakrosankt ist, muss man sehr vorsichtig sein, wenn man sich anschickt, es bei jeder sich bietenden Gelegenheit auszuhebeln. Und noch etwas spricht gegen die moralische Qualifizierung des Krieges: Dieser mag zwar gegenüber dem eigenen Verband Tugenden wie Tapferkeit, Opfer- und Hilfsbereitschaft stärken, er zwingt die Kämpfenden aber, in der Logik des Todes und des Tötens zu denken. Auch zulässige Kriege machen die Beteiligten roh und unmenschlich.
Gibt es überhaupt eine Ethik des Kriegs?
Seit langem wird ja das „jus ad bellum“ vom „jus in bellum“ unterschieden, also die Frage nach dem Recht, einen Krieg zu führen, getrennt von der Frage, was in einem Krieg rechtmäßig und zulässig ist. In diesem Sinne gibt es eine Kriegsethik, die etwa definiert, wann es in einem Krieg zu Kriegsverbrechen kommt: wenn die Zivilbevölkerung oder andere Unbeteiligte massakriert werden, wenn die eingesetzten militärischen Mittel unverhältnismäßig sind, wenn Soldaten, die sich ergeben haben, gefoltert oder getötet werden. Spricht man heute von Kollateralschäden, verharmlos man mit diesem Wort nur den Tatbestand, dass man sich nicht an diese Kriegsethik halten wollte oder konnte. Es war jedoch immer schon ein strittiger Punkt, wie sehr sich diese Ethik auch auf Gruppen bezieht, die sich außerhalb eines regulären Kriegsgeschehens bewegen, etwa auf Terroristen oder Freischärler. Und die moderne Form der Kriegsführung, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg praktiziert wird, zählt das gezielte Vernichten ziviler Infrastrukturen und nichtbeteiligter Menschen – etwa bei einem Flächenbombardement – zu ihren legitimen Strategien und verstößt damit implizit gegen das Kriegsrecht.
Die Humanisten des 16. Jahrhunderts stellten die Vergeblichkeit aller Bemühungen fest, Krieg rational einzuhegen. Erasmus von Rotterdam kam nach der Prüfung der europäischen Kriege seiner Zeit zum Schluss, dass keiner gerecht gewesen und jeder noch so ungerechte Friedenszustand dem scheinbar gerechtesten aller Kriege vorzuziehen sei.
Das ist eine schwierige Frage. Denn natürlich ist es für Menschen in vielen Fällen besser, auch unter schlechten Bedingungen zu leben als zu sterben. Andererseits: Wenn Menschen z.B. nicht unter einer fremden Herrschaft leben wollen und sie dafür bereit sind, in den Tod zu gehen – wer will es ihnen verwehren? Allerdings: Sollten wir nicht davon ausgehen, dass die meisten Menschen einfach ein halbwegs perspektivenreiches Leben leben wollen, dass sie friedliche und sichere Verhältnisse einem Zustand ständiger Bedrohung vorziehen? Und müssen wir nicht annehmen, dass sich in Kriegen oft Machtinteressen ausdrücken, die mit dem, was die meisten Menschen wollen, wenig zu tun haben? Wohl aber müssen sie oft für diese Interessen mit ihrer Gesundheit, mit der Vernichtung ihrer Städte, mit ihrem Leben bezahlen. Das hängt wie ein Damoklesschwert über der Konzeption des „gerechten Krieges“: dass es selten um Gerechtigkeit – ich schließe das nicht aus –, doch sehr oft – ich halte das für den Regelfall – um die Machtinteressen von Wenigen geht.
Können Kriegsparteien selbst zwischen moralisch zulässigen und unzulässigen Kriegen unterscheiden?
Ich fürchte, nein. Die Geschichte zeigt, dass sich noch jede kriegsführende Partei im Recht fühlte und, wenn es sein muss, ein Arsenal von moralischen Argumenten auffährt, um dies zu stützen. Und es werden sich immer auch Philosophen, religiöse Autoritäten und Intellektuelle finden, die dafür die geistige Munition liefern.
Ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht das Gremium, das entscheidet, ob ein Militäreinsatz durchgeführt wird?
Das wäre so vorgesehen gewesen. Da die unmittelbar oder mittelbar in einen Krieg involvierten Mächte auch im Sicherheitsrat sitzen, blockiert sich dieser – von wenigen Ausnahmen abgesehen – meist selbst. Er ist eben kein unparteiisches Organ. Ein solches könnten nur extraterrestrische Intelligenzen bilden – doch diese lassen auf sich warten.
In unserer Kultur gibt es das uneingeschränkte Tötungstabu, jemanden zu töten ist eine böse Tat. Im Krieg – bzw. in welchem Krieg – ist Töten moralisch bzw. das moralisch Sein könne Töten erfordern. Hebelt eine staatliche Lizenz zum Töten das Tötungstabu aus?
Ich denke, dass hier wirklich ein fundamentaler, fast möchte ich sagen, tragischer Widerspruch vorliegt. Ja, die staatliche Lizenz zum Töten hebelt das Tötungsverbot aus. Es handelt sich ja um kein Tabu im eigentlichen Sinn, sondern es ist ein verbrieftes Menschenrecht, nicht vom Staat getötet zu werden. Über die Todesstrafe lassen wir deshalb keine Diskussionen zu. Nun könnte man sagen, dass in einem konventionellen Krieg ja nicht einfach staatlich getötet, sondern dass gekämpft wird, dass die Gegner ähnliche Chancen haben und dass auch Tapferkeit und Geschick, Klugheit und Bewaffnung über Leben und Tod entscheiden. Das war das romantisierende Bild des ritterlichen Kampfes, das schon in der Antike kaum gegolten hat. Die moderne Kriegsführung mit Raketen, Artillerie, Drohnen und Massenvernichtungswaffen kennt diesen symmetrischen Kampf nicht einmal mehr als Metapher. Dass das Tötungsverbot in einem Krieg aus zulässigen Gründen außer Kraft gesetzt werden kann, macht dieses Töten jedoch noch nicht zu einem moralisch integren Akt. Viel wäre vielleicht gewonnen, wenn wir einsehen, dass wir manche Konfliktsituationen nur bewältigen können, wenn wir unsere hehrsten Prinzipien außer Kraft setzen. Manchmal mag dies tatsächlich notwendig sein. Ein Grund zum Jubeln ist es nie.