Gibt es eigentlich im Judentum eine höchste religiöse Instanz, und wenn ja, wer ist es? Hat jemand das Recht und die Autorität, in kritischen Fragen des Lebens, angefangen von Alltagsproblemen bis hin zu den wichtigen moralischen und ethischen Fragestellungen, wie künstlicher Befruchtung, Abtreibung, Verhütung, des Umgangs mit Homosexualität, bis hin zum „Dauerbrenner“, der Frage der Übertritte zum Judentum, Entscheidungen zu treffen?
Antworten von Peter Engelberg
In einigen Ländern gibt es wohl Oberrabbiner wie in Großbritannien, Frankreich, Österreich und natürlich auch in Israel. Doch diese besitzen eher eine politische, repräsentative Funktion. In Israel kommt dem Oberrabbiner eine gewisse Entscheidungskraft in religiösen Fragen, insbesondere gegenüber dem Staat, zu. Selbstverständlich haben sich einige Oberrabbiner dennoch einen großen Namen gemacht, so etwa der berühmte frühere Oberrabbiner von Israel, Rav Kook, oder Chief Rabbi Jakobovits, langjähriger Oberrabbiner von Großbritannien, aber dies kraft ihres Wirkens und nicht ihres Amtes wegen alleine.
Die Frage nach einer religiösen Instanz, die in wichtigen Themen des Lebens beraten und entscheiden kann, ist zuerst einmal – nach guter alter jüdischer Tradition – mit einer Gegenfrage zu beantworten: Wer lässt fragen? Schließlich orientiert sich wohl die Mehrheit der Juden in der Welt vor allem an den Gesetzen und Haltungen des jeweiligen Landes, in dem sie leben. So sind es also insbesondere religiöse Juden, die sich an der Entscheidung eines Rabbiners orientieren wollen, und hier gilt vor allem einmal das Gebot der Mischna: „Ase Lecha Rav“ – bestimme dir einen Rabbiner und dieser ist sodann mit seinen Entscheidungen und seinem Rat ausschlaggebend.
Hier wird die Beziehung zu einem Rabbiner oft mit jener zu einem Arzt verglichen: Man wähle sich einen Rabbiner, denn es macht Sinn, jemanden um Rat zu fragen, zu dem man ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Die Autorität eines Rabbiners basiert sodann viel mehr auf seiner Expertise als seiner Position; man hört also auf den Rat des Rabbiners, weil er wohl weiß, wovon er spricht. Einen anderen Rabbiner zu fragen, ist durchaus möglich, manche Rabbiner empfehlen das sogar von sich aus. Voraussetzung ist jedoch, man informiert diesen von der Entscheidung des ersteren Rabbiners und es dient nicht nur dem Zweck, solange zu fragen, bis man jene Antwort erhält, die man will. Ein wichtiges Merkmal der rabbinischen Entscheidungen ist das jeweilige detaillierte Eingehen auf die besonderen Umstände des Einzelfalls und wird sodann geprüft, inwiefern die bisherigen halachischen Regeln zur Anwendung zu kommen haben. Es obliegt dem jeweiligen Rabbiner, sich ein Bild zu machen und eine Entscheidung zu treffen.
Bemerkenswert ist immer die Beachtung der Interessen aller Beteiligten. So gibt es auch bei so kritischen Fragen wie der Verhütung oder Abtreibung eine vorrangige Bedachtnahme auf die Gesundheit und das Wohl der Frau, welche der Rabbiner zu berücksichtigen hat und die ihm eine ziemliche Flexibilität bei seinem Rat oder Entscheidung einräumt.
Jedenfalls obliegt daher jedem Rabbiner eine große Entscheidungsmacht, er entscheidet in seiner Gemeinde, seiner Synagoge autark. Eine zentralistische rabbinische Gesetzgebung oder Rechtssprechung gibt es daher vorerst einmal nicht. Daraus ließe sich auf ein völlig dezentrales rabbinisches Entscheidungssystem schließen, welches binnen kürzester Zeit zu größten Unterschieden führen müsste. Dies ist einerseits in der jüdischen Geschichte immer wieder geschehen, doch andererseits besitzt das orthodoxe Judentum dennoch gewisse Schutzmechanismen dagegen.
Erstens ist jeder Rabbiner verpflichtet, sich mit seinem Spruch auf vorherige halachische (jüdisch gesetzliche) Entscheidungen zu beziehen. Zweitens hat sich die Instanz der G’dolei Israel, der Großen Israels, eingebürgert. Dies sind Toragelehrte, die sich, in ihrer Generation, durch ihre menschliche Größe und ihr umfassendes Wissen und ihre Kenntnis der Tora, der gesamten Lehre, hervortun. Ein „Gadol“ – ein Großer – zu sein, ist kein Titel, den man verliehen bekommt wie ein Doktorat und dieser bleibt also immer ein relativer Begriff, je nachdem, wen man fragt.
Für chassidische Juden ist dies einerseits der jeweilige Rebbe (der Anführer einer chassidischen Gruppe), andererseits haben sich einige dieser Rebbes auch zu halachischen Autoritäten emporgearbeitet und wurden mit dem Titel Rav „geadelt“. Als solche G’dolei gelten heute zum Beispiel der Zanser Rebbe, der Satmerer Rebbe und der Belzer Rebbe.
Ein Gadol seiner Generation und eine wichtige Leitfigur der „modernen Orthodoxie“, welche versucht, die traditionellen Werte und Vorschriften mit der sekulären modernen Welt in Übereinstimmung zu bringen, war Rav Josef Ber Soloveitchik, oft einfach nur als der „Rav“ bezeichnet. Er hatte, neben der üblichen religiösen Ausbildung in diversen berühmten Yeshivot (Talmud- Hochschulen) in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts auch an Universitäten in Polen und Deutschland studiert; übrigens gemeinsam mit einem weiteren Gadol, Menachem Mendel Schneerson, dem berühmten Lubawitscher Rebbe.
An der Spitze jener G’dolei Israel steht der Gadol Hador – der Größte seiner Generation. Ihm wird sogar ein gewisses Maß an „Ruach Hakodesh“ und an „Siyata Dishmaya“ – also an heiligem Geist und himmlischer Unterstützung – zugesprochen, seine Aussagen sind von höchster halachischer Autorität.
Als Gadol Hador wird heute im allgemeinen Rav Josef Scholom Eliashiv für die Ashkenazim (mittel- und osteuropäisch stämmigen Juden) und Rav Ovadia Josef für die Sefardim (spanisch- und orientalisch stämmigen Juden) angesehen. Diesen Höhepunkt einer Karriere erreichen die Rabbiner zumeist erst in einem sehr hohen Lebensalter, in dem Menschen für gewöhnlich bereits längst in Pension gegangen sind.
Rav Eliashiv – er feiert nächstes Jahr seinen 100. Geburtstag und war vor wenigen Wochen der Sandek des Enkels seines Ur-Enkels (also Ur-Ur-Urenkel) bei dessen Brit Milah (Beschneidung) – hat sich jedoch bisher nicht durch aufsehenerregende Entscheidungen hervorgetan. Er erhielt erst in den letzten 10 bis 15 Jahren seine große Bedeutung, dies auch infolge des Ablebens seines Vorgängers als Gadol Hador, Rav Elazar Schach, der vor acht Jahren 103-jährig verstarb.
Rav Schach exponierte sich sehr stark in der israelischen Politik, war ein aktiver Mitgestalter der religiösen Parteien (Agudas Israel, Degel Hatora und Schas), nahm aber auch zu so wichtigen politischen Fragen Stellung, wie der Rückgabe von Land – welche er mit dem Argument „Pikuach Nefesh“ (zur Rettung von Menschenleben) befürwortete und war auch gegen den Aufbau von Siedlungen in der West Bank und Gaza.
Bekannt wurde Rav Schach auch durch seine wütende Opposition gegenüber dem Lubawitscher Rebbe, Menachem Mendel Schneerson, dessen Anhänger er ganz offen des falschen Messianismus bezichtigte. Rav Mosche Feinstein, ein Zeitgenosse Rav Schachs, hatte sich ebenfalls größte Bedeutung erworben.
Als er 1986 mit 91 Jahren verstarb, galt er als die de-facto-höchste rabbinische Autorität der USA. Er wurde laufend zu den schwierigsten medizinisch-ethischen Problemen um eine Entscheidung gefragt, wie im Falle von Organtransplantationen, der Frage der Akzeptanz des Hirntodes oder künstlicher Befruchtung.
Erwähnenswert ist ein weiterer großer Gelehrter dieser Zeit, Rav Schlomo Zalman Auerbach (1910 bis 1995), welcher die erste große Abhandlung zur Frage der Verwendung von Elektrizität am Shabbat verfasste. Er gründete später sogar ein eigenes Institut, welches sich mit der Nutzung moderner Technologie in Übereinstimmung mit der Halacha beschäftigte.
Wie wichtig solche, über den persönlichen Rabbiner hinausgehende, halachischen Autoritäten dann doch für das Judentum sind, lässt sich zum Beispiel anhand der zahllosen Fragen im Zusammenhang mit künstlicher Befruchtung beschreiben: Ist diese überhaupt prinzipiell erlaubt und wenn ja, welche der zwischenzeitlich mannigfaltigen Techniken? Darf der Samen eines anderen Mannes verwendet werden, wessen Kind ist es dann, welchen Namen trägt er, kann er ein Kohen sein usw.? Desgleichen im Falle des Austragens der Schwangerschaft durch eine andere Frau.
In einem solchen Fall wendet man sich üblicherweise an einen jener Rabbiner, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert haben, undin diesen Fällen ist auch der Ermessensspielraum zumeist sehr groß.
Der Einfluss dieser G’dolei Israel ist letztlich auch im nicht religiösen Judentum und insbesondere in der israelischen Politik beträchtlich. So beschreibt Rav Ovadia Josef, wie er von der damals sozial-demokratischen Regierung unter Jitzhak Rabin 1976 konsultiert und um Rat gefragt wurde, ob die Befreiungsaktion von Entebbe durchgeführt werden solle. Er befürwortete diese ausdrücklich und gab ihr seinen Segen.
Dabei ging es um ein wichtiges halachisches Thema, mit welchem sich schon der Talmud (verfasst ca. um das Jahr 500) befasste: Einerseits ist das Auslösen eines Juden aus einer Gefangenschaft eine heilige Verpflichtung der Gemeinde, andererseits darf ein zu zahlendes Lösegeld nicht zu hoch sein, damit es den Bestand der Gemeinde nicht gefährdet und vor allem die Geiselnehmer dadurch nicht erst recht ermutigt werden, weitere Juden gefangen zu nehmen.
Genau zu diesem Thema hat daher vor einigen Wochen der leidgeprüfte Vater des von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit um eine Entscheidung bei Rav Eliashiv nachgefragt, wohl um mit der von ihm erhofften Unterstützung Druck auf die israelische Regierung machen zu können.
Ob es denn nicht die Pflicht des Staates Israel wäre, seinen Sohn unter allen Umständen freizubekommen, fragte er Rav Eliashiv. Es ist jedoch bekannt, dass die Hamas im Austausch für Gilad Shalit die Freilassung von 450 palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen fordert, die zum Teil wegen schwerer Verbrechen verurteilt sind. Rav Eliashiv wog seine Antwort lange ab, bestätigte zwar, dass die Befreiung von Gefangenen eine heilige Pflicht sei, ließ aber nichts darüber vernehmen, dass er die Freilassung der Häftlinge für verantwortbar im Sinne des Talmuds hielt.