Zu früh gefreut: Hisbollah im Libanon

Als die Proteste in Tunesien und Ägypten begannen, jubelte die libanesische Hisbollah über den „Aufstand der Unterdrückten“ gegen die arabischen Diktatoren. Nach eineinhalb Jahren des Blutvergießens in Syrien ist klar: Sie hat sich zu früh gefreut.
Von Florian Markl

Wenn heute von Veränderungen in der arabischen Welt die Rede ist, blickt man meist nur auf die Geschehnisse der letzten eineinhalb Jahre, die Proteste, die zum Sturz einiger Diktatoren geführt haben, die Niederschlagung der Proteste in Bahrain und andauernde Gewalt in Syrien. Übersehen wird dabei stets der Libanon, dessen Geschichte von Aufbruch und Enttäuschung mit der vorläufigen Re-Konsolidierung prosyrischer Kräfte bereits einen vorläufigen Abschluss gefunden hat.

In den Entwicklungen im Libanon kommt vor allem einem Akteur eine zentrale Rolle zu: der schiitischen Hisbollah („Partei Gottes“), deren Einfluss in den letzten Jahren zwar gewachsen ist, deren Stellung aber gleichzeitig in mancherlei Hinsicht prekär geworden ist. Dafür ist nicht zuletzt die Krise in Syrien verantwortlich, durch die einige Widersprüche offen zu Tage traten, die nicht mehr einfach unter Verweis auf den „Widerstand“ gegen Israel überspielt werden können. Um die heutigen Probleme der Hisbollah zu verstehen, muss man einen Blick auf die jüngste Vergangenheit des Libanon werfen, die buchstäblich mit einem großen Knall begann.

Am 14. Februar 2005 wurde der führende sunnitische Politiker des Libanon, Rafiq al-Hariri, bei der Explosion einer Autobombe in Beirut getötet. Der Baumeister und mehrfache Premierminister, der sich um den Wiederaufbau des Landes nach dem fünfzehnjährigen Bürgerkrieg verdient gemacht hatte, war zunehmend in Konflikt mit der syrischen Besatzungsmacht gekommen, die den Libanon seit dem Kriegsende 1990 kontrollierte. Doch der Versuch, sich durch Hariris Liquidation Ruhe zu verschaffen, ging nach hinten los: Eine breite, über konfessionelle Grenzen hinweggehende Protestbewegung forderte die Bestrafung der Mörder und den Abzug der syrischen Truppen. Die Hisbollah versuchte noch, mit Massenaufmärschen seinem in Bedrängnis geratenen Förderer Syrien zur Hilfe zu kommen, doch sie konnte den einmal ins Rollen gebrachten Stein nicht mehr zum Stillstand bringen. Unter dem Eindruck der größten Demonstration in der Geschichte des Landes am 14. März und steigendem internationalem Druck zog sich die syrische Armee im April zurück. Aus den kurz danach abgehaltenen Parlamentswahlen ging das anti-syrische Lager als Sieger hervor.

Die als Unabhängigkeitsintifada bezeichnete Bewegung verhieß für die Hisbollah nichts Gutes. Bedeutete schon der syrische Rückzug eine Schwächung ihrer Position, so geriet sie immer mehr unter Druck, als letzte aus dem Bürgerkrieg verbliebene Organisation endlich auch ihre Waffen abzugeben, die sie unter Verweis auf den notwendigen Schutz des Landes vor „israelischer Aggression“ behalten hatte. Schließlich drohte noch aus einer anderen Richtung Gefahr: Eine vom UN-Sicherheitsrat eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass vieles auf eine Verwicklung Syriens in die Ermordung von Rafiq al-Hariri hinwies. Im Dezember 2005 ersuchte die libanesische Regierung die Vereinten Nationen darum, ein Sondertribunal für den Libanon einzurichten, vor dem die Verantwortlichen des Anschlages zur Verantwortung gezogen werden sollen.

Die Hisbollah und ihre Verbündeten verwendeten in den folgenden zweieinhalb Jahren all ihre Energien darauf, die Unabhängigkeitsintifada so weit wie möglich wieder rückgängig zu machen und das UN-Tribunal zu behindern. Sie provozierte im Juli 2006 den Krieg gegen Israel und versuchte seit dem Spätherbst, die Regierung unter Premier Fouad Siniora zu Fall zu bringen. Darüber hinaus fielen immer wieder Mitglieder des anti-syrischen Lagers Attentaten zum Opfer.

Zum großen Showdown kam es schließlich im Mai 2008. Als die Regierung gegen ein autonomes Kommunikationsnetzwerk der Partei vorgehen wollte, griff die Hisbollah zu den Waffen. Zusammen mit Verbündeten besetzten ihre Kämpfer das sunnitische Westbeirut und gingen in anderen Teilen des Landes gegen ihre Gegner vor. Die Regierung kapitulierte. Unter Saad al-Hariri, dem Sohn des getöteten Rafiq al-Hariri, wurde eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, in der das pro-syrische Lager jetzt über die stets von ihm geforderte Sperrminorität verfügte. Die verfeindeten Lager einigten sich auch auf den bisherigen Armeechef Michel Sulaiman als neuen Präsidenten. Nach erneuten Auseinandersetzungen über das Hariri-Tribunal brach Anfang 2011 die Regierung von Saad al-Hariris zusammen. Mit dem neuen Premierminister Nadjib Miqati hatte das pro-syrische Lager die Macht in seinen Händen. Nach rund sechs Jahren war von den Errungenschaften der Unabhängigkeitsintifada kaum noch etwas übrig geblieben.

Die Hisbollah konnte im Zuge dieses Prozesses ihre Position festigen wie nie zuvor. Sie kontrolliert einen Staat im Staate, in dem allein sie das Sagen hat. In militärischer Hinsicht kann ihr im Libanon inklusive der Armee niemand das Wasser reichen.

Andererseits bestätigte ihr Agieren die Befürchtungen großer Teile der (nicht-schiitischen) Bevölkerung des Libanon. Durch den von ihr provozierten Krieg mit Israel wurde das Land um Jahre zurückgeworfen, nur damit Hassan Nasrallah aus seinem Versteck heraus über den angeblich „göttlichen Sieg“ jubeln konnte. Mit dem De-facto-Staatsstreich vom Mai 2008 machte sie darüber hinaus klar, was von ihrer ständig wiederholten Beteuerung zu halten war, ihre Waffen niemals zur Regelung innerer Angelegenheiten im Libanon einzusetzen.

Noch viel größeren Schaden sollte das Image der Hisbollah allerdings im Zuge der Protestwelle nehmen, die seit eineinhalb Jahren die arabische Welt erschüttert. Als die Menschen in Tunesien und Ägypten gegen die dortigen Diktaturen auf die Straßen gingen, war die Hisbollah von den Vorgängen begeistert. Sie sah darin, ganz im Einklang mit ihren iranischen Herren, den Beginn eines „islamischen Erwachens“ und stellte sich vorbehaltlos hinter den des „Willen des Volkes“, seine „unterdrückerischen Tyrannen“ zu stürzen. Doch als Teile des syrischen Volkes begannen, gegen den unterdrückerischen Tyrannen Assad zu demonstrieren, war es mit der Begeisterung der Partei Gottes vorüber. Neben dem Iran ist das syrische Regime der wichtigste Verbündete der Hisbollah. Mit dem Sturz Assads würde sie nicht nur ihre wichtigsten Nachschubwege für Waffenlieferungen verlieren. Der Wegfall der syrischen Unterstützung würde auch das Machtgleichgewicht im Libanon deutlich zu ihren Ungunsten verschieben und das anti-westliche Bündnis nachhaltig schwächen, deren wichtigste Partner der Iran, Syrien und die Hisbollah sind. Im Gegensatz zur palästinensischen Hamas, die sich als sunnitische Islamistenorganisation von Syrien distanzieren konnte, als das Regime den weitgehend sunnitischen Aufstand blutig niederzuschlagen versuchte (siehe dazu den Beitrag im letzten NU), steht der Hisbollah diese Option nicht offen. Sie kann sich schlicht nicht aus der iranisch-syrischen Achse verabschieden – und muss deshalb alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um einen Sturz des syrischen Regimes zu verhindern.

Als die Proteste im März 2011 begannen, ging die Hisbollah erst einmal auf Tauchstation, wohl in der Hoffnung, der Spuk wäre dank des resoluten Einsatzes der syrischen Sicherheitskräfte bald vorbei. Rund zwei Monate dauerte es, bis Generalsekretär Nasrallah sich zum ersten Mal öffentlich zur Krise in Syrien äußerte. In einer Rede am 25. Mai dankte er zunächst dem syrischen Regime für die „Unterstützung“, die es dem Libanon im Allgemeinen und dem „Widerstand“ im Besonderen in der Vergangenheit habe zukommen lassen. Anstatt den Sturz der Diktatur zu unterstützen, wie er es im Bezug auf die Aufstände in anderen arabischen Ländern noch getan hatte, gab er sich jetzt überzeugt, dass Assad – im Gegensatz zu den „Verweigerern“ Gaddafi oder Mubarak – die nötigen Reformen einleiten werde. Ein Sturz des syrischen Regimes sei nur in amerikanischem und israelischem Interesse. Dies ist im Wesentlichen bis zum heutigen Tage die Haltung der Partei Gottes.

Doch es blieb nicht bei der bloß verbalen Unterstützung Assads. Unbestritten ist, dass die Hisbollah unter syrischen Oppositionellen Angst und Schrecken verbreitet, die vor den Schergen des Regimes in den Libanon geflüchtet sind. Seit dem Ausbruch der Gewalt in Syrien erscheinen aber auch immer wieder Berichte darüber, dass das Regime sich bei der Niederschlagung des Aufstands auch auf Know-how aus dem Ausland stützt. Dabei ist häufig von Revolutionsgardisten aus dem Iran zu lesen, aber auch Einheiten der Hisbollah sollen an Gewalttaten beteiligt sein. Erst kürzlich wurde darüber berichtet, dass syrische Rebellen fünf hochrangige Mitglieder der Hisbollah gefangen nahmen, die in ihrem Auto außerhalb von Damaskus gerade eine Armeekaserne verlassen hatten. Unter den Männern soll sich auch ein Neffe Nasrallahs befinden, der eine hohe Stellung im Geheimdienstapparat der Hisbollah innehaben soll.

Die Hisbollah hat es lange Zeit vermocht, je nach Bedarf verschiedene Seiten ihrer Identität in Szene zu setzen. Mal gerierte sie sich als bloßer Vertreter der Interessen der schiitischen Libanesen, mal inszenierte sie sich als Verteidiger des gesamten Libanon gegen israelische und westliche Verschwörungen. Mal betonte sie ihre strikte Gefolgschaft für den Iran und ihre regionale Verankerung in der „Achse des Widerstands“, bei anderen Gelegenheiten kehrte sie das Image des Kämpfers gegen Tyrannei und Unterdrückung hervor.

Mit ihrer Parteinahme in der Syrien- Krise hatte sie aber einen Punkt erreicht, an dem all diese verschiedenen Identitäten nicht mehr glaubwürdig aufrechterhalten werden konnten. Als Partei, die erklärtermaßen dem obersten geistlichen Führer des Iran unterworfen ist, gilt ihre Loyalität dem iranischsyrischen Bündnis und dem Erhalt des syrischen Regimes. Ihr angebliches Eintreten für die Interessen des Libanon sowie ihr Kampf gegen Tyrannei und Unterdrückung erweisen sich im Zuge dessen als pure propagandistische Heuchelei. Und dies wird nicht nur im Libanon verstanden: War Hassan Nasrallah nach dem Krieg gegen Israel im Sommer 2006 noch der quer durch die Region umjubelte Führer, so zeigen aktuelle Meinungsumfragen, dass seine Popularitätswerte sich im Sturzflug befinden.

Für die Zukunft des Libanon hängt vieles von vier Punkten ab. Erstens: Obwohl die Gewalt in Syrien bereits fast eineinhalb Jahre andauert, ist der Libanon mit all seinen konfliktreichen religiösen Bruchlinien bislang noch nicht wieder in den Abgrund gezogen worden, aus dem er nach den langen Jahren des Bürgerkrieges nur langsam hat herausklettern können. Der libanesisch- amerikanische Politikwissenschaftler Fouad Ajamai bemerkte einmal: „Im Gegensatz zu Ägyptens Vorbildwirkung und Saudi-Arabiens Reichtum ist das größte Kapital Syriens seine Fähigkeit, Unheil anzurichten.“ Ende Mai mehrten sich die Berichte über bewaffnete Zusammenstöße von Befürwortern und Gegnern Assads. Es bleibt zu hoffen, dass nicht der Libanon den Preis für die Krise des syrischen Regimes wird zahlen müssen.

Zweitens wird die Entwicklung in Syrien große Auswirkungen auf den Libanon haben. Sollte Assad sich nicht an der Macht halten können, würde das unweigerlich eine Schwächung der Hisbollah im Libanon zur Folge haben.

Drittens bleibt abzuwarten, wie es mit dem UN-Sondertribunal für den Libanon weitergeht. Im Sommer 2011 erließ es im Mordfall Hariri Haftbefehle gegen vier Mitglieder der Hisbollah, darunter ihren Geheimdienstchef, der den Mord organisiert haben soll. Es ist unvorstellbar, dass die Hisbollah die vier Männer ausliefern wird, und so lange sie de facto die Regierung kontrolliert, droht ihr von dieser Seite keine Gefahr. Aber nächstes Jahr sollen im Libanon Parlamentswahlen stattfinden und die anti-syrische Opposition ist zuversichtlich, diesen Urnengang für sich entscheiden zu können.

Viertens schwebt schließlich über allem noch die Auseinandersetzung über das iranische Atomwaffenprogramm, in der die Hisbollah stets als Irans erste Verteidigungslinie im Falle eines israelischen Angriffs auf seine Atomanlagen gilt. Sollte es wirklich dazu kommen, würden die Karten in der Region neu gemischt – auch und nicht zuletzt für die Hisbollah.

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