Wolodymyr Selenskyj: Ein Diener des Volkes

Vom selbsternannten „Clown aus Krywyj Rih“ zum ukrainischen Präsidenten: Wolodymyr Selenskyj. ©CREATIVE COMMONS/PRESIDENT.GOV.UA/Bildausschnitt

Chuzpe! Kein Porträt des 44-jährigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kommt ohne dieses Substantiv aus. Wolodymyr Selenskyj, der Clown aus Krywyj Rih, wurde zum Helden der freien westlichen Welt. Putins Vorwurf, der sechste ukrainische Präsident sei ein Nazi, ist absurd: Selenskyj ist der Sohn jüdischer Akademiker, einige seiner Verwandten kamen im Holocaust ums Leben.

VON ANDREA SCHURIAN

Ein Überraschungskandidat, der als Präsident überrascht: Als Wolodymyr Selenskyj 2018 für das Präsidentenamt kandidierte, fürchteten viele, vor allem ausländische Politbeobachter, hier strebe ein ukrainischer Donald Trump oder Beppe Grillo das höchste ukrainische Amt an. Er spielte damals gerade in der Comedy-Serie Sluha Narodu („Diener des Volkes“) einen Typen, der ihm ziemlich ähnlich war: den naiven Geschichtsprofessor Wassili Goloborodko, der vom Kiewer Plattenbau ins Präsidentenamt stolpert und zur allgemeinen Verblüffung mit bisherigen Politgepflogenheiten wie Korruption, Bestechung und Freunderlwirtschaft aufräumt.

Als „Liberaler durch und durch“ (Oleksandr Danyljuk, ukrainischer Ex-Finanzminister) versprach Selenskyj mehr direkte Demokratie und einen Kurs Richtung EU und NATO. Er zog eine moderne Medienshow auf und ab, tourte mit seinem Kabarett durchs Land, machte Witze über seine politischen Gegner. Nicht nur junge Menschen waren begeistert – am 21. April 2019 überflügelte der mit einer Architektin verheiratete Vater zweier Kinder in der Stichwahl den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko, und der „Clown aus Krywyj Rih“, wie er sich selbst nannte, zog tatsächlich in den Marienpalast, den Kiewer Präsidentensitz, ein.

In Krywyj Rih (russisch: Kriwoi Rog), einer Großstadt in der südlichen Ukraine, kam der Schauspieler, Synchronsprecher, Drehbuchautor, Fernsehmoderator, Filmproduzent und sechste ukrainische Präsident am 25. Jänner 1978 als Sohn einer russischsprachigen jüdischen Akademikerfamilie zur Welt. Er selbst studierte Rechtswissenschaften in Kiew, war allerdings nie juristisch tätig. Stattdessen lebte er sein früh entdecktes komödiantisches Talent aus, gründete eine Kabarettgruppe, benannte sie nach seinem Stadtviertel Kwartal 95, was so viel bedeutet wie 95. Wohnblock, und tourte mit ihr durch die ehemalige Sowjetunion.

Nach gewonnener Wahl versuchte Selenskyj, dem eine besondere Nähe zu ukrainischen Oligarchen nachgesagt wurde, seine Kritiker eines Besseren zu belehren. Mit einem sogenannten Lobbygesetz verbot er Parteienfinanzierungen durch Oligarchen. Und er vereinbarte mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Gefangenenaustausch sowie Waffenruhe zwischen ukrainischen Regierungstruppen und ostukrainischen, von Russland unterstützten Milizen. Doch diese Waffenruhe war löchrig wie ein Nudelsieb und hielt nicht einmal so lange, bis die Tinte auf den in Paris unterzeichneten Verträgen getrocknet war. Es gebe nur zwei Möglichkeiten, analysierte die Deutsche Welle: „Frieden zu den Bedingungen Kiews oder Moskaus. Ein Mittelweg zeichnet sich nicht ab. Solange sich beide Seiten zu stark fühlen, um die Bedingungen des Gegners zu akzeptieren, und gleichzeitig zu schwach, um das eigene Szenario mit Gewalt durchzusetzen, bleibt alles beim Alten. Der Status quo ist für beide Seiten das kleinere Übel.“

Bekanntlich veränderte Russland im Februar den Status quo drastisch, anerkannte die selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk und überfiel in einem Blitzangriffskrieg die Ukraine. Und der Clown aus Krywyj Rih wurde zum Helden der freien westlichen Welt. Mit einem emotionalen Friedensappell wandte er sich direkt an das russische Volk – „nicht als Präsident, sondern als Bürger der Ukraine“. Er warnte vor einem kriegerischen Flächenbrand auf dem europäischen Kontinent: „Sie hören, diese Invasion brächte der Ukraine Freiheit. Aber das ukrainische Volk ist bereits frei.“ Man sei Nachbar, man sei verschieden, aber die Verschiedenheit bedeute nicht Feindschaft. „Man sagt euch, wir würden die russische Kultur hassen. Aber wie kann eine Kultur verhasst sein? Nachbarn bereichern einander kulturell. Man will euch einreden, wir seien Nazis. Aber wie kann eine Nation nazistisch sein, nachdem sie mehr als acht Millionen Leben geopfert hat, um den Nazismus zu besiegen? Wie kann ich ein Nazi sein, wenn mein Großvater den Zweiten Weltkrieg als Kämpfer der sowjetischen Infanterie überlebte und schließlich als Oberst der unabhängigen Ukraine starb?“

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