„Wo es gut ist, ist das Vaterland“

Der Schauspieler und Sänger Theodore Bikel war mit seiner Frau einen Tag zu Besuch in seiner Geburtsstadt Wien. NU hat ihn begleitet.
VON IDA LABUDOVIĆ (TEXT) UND NIKOLAUS TUTSCH (FOTOS)

Die strahlende, sich in der Donau spiegelnde Sonne kündigte einen heißen Sommertag an. Schon bevor das Schiff um fünf Uhr früh in der Nähe der Reichsbrücke anlegte, wusste Theodore Bikel genau, wie sein Wien-Aufenthalt ablaufen sollte. Eine Schiffsreise, das war Bikels Idee, er liebt das Wasser. Nur sitzen und beobachten, wie die Welt an ihm vorbeizieht, das wollte er diesmal. „Bis jetzt war ich immer mit der Welt verstrickt“, sagt er, und der Zuhörer hat den Eindruck, dass sich der Künstler auf einer Bühne befindet. Die Stimme ist charismatisch, die Pausen zwischen den Sätzen sind überlegt, die Dramatik des Gesagten ist auch spürbar. „Alles, was ich bisher machte, hatte mit der Welt zu tun. Ich war immer dabei, habe nie von oben oder von der Seite beobachtet“, sagt Bikel über sein bewegtes Leben.

Alles passierte eins nach dem anderen: Vorbereitungen, Proben, Konzerte. Aber diesmal, diesmal ist er auf seiner Hochzeitsreise, und er will sie mit seiner Frau Aimee Ginsburg, die er im Dezember vorigen Jahres geheiratet hat, in Ruhe verbringen. Einige Wochen vor seiner Hochzeit war er in Wien, wo ihm der Goldene Rathausmann, eine Auszeichnung der Stadt, überreicht wurde. Tatsächlich hat das letzte halbe Jahr Theodore Bikel viel Aufregendes gebracht. Und heuer ist er 90 geworden. Auf die Frage, was die Zukunft bringen soll, antwortet er: „Was ist die Zukunft, wenn du schon 90 bist? Dass du 91 wirst. Man hofft natürlich, dass es noch viele Jahren weitergeht.“

„The taste of my youth”
Zurück zu diesem heißen Julitag in Wien. Eine Fahrt mit dem Fiaker war genauso eingeplant wie ein Besuch der Mariahilfer Straße. Dort hat Bikel mit seinen Eltern vor dem Zweiten Weltkrieg in dem Eckhaus gewohnt, in welchem sich einst das Künstlercafé Casa Piccola befand. Immer wieder kommt er hierher zurück, um das Haus zu sehen und die Erinnerungen zu beleben. An was aus seiner Jugendzeit in Wien kann sich Bikel noch erinnern? „An Leberknödelsuppe. Das ist ‚the taste of my youth‘“, sagt er, während er gerade eine genussvoll isst. Mit seiner Familie ging er am Sonntag in den Wienerwald, um zu wandern, auf Jiddisch und Hebräisch zu singen und um danach eine Leberknödelsuppe im Restaurant zu essen. Seine Eltern waren nicht religiös. Dennoch war sein Vater ein sehr bewusster Jude und Zionist. Als der kleine Theo fünf Jahre alt war, erhielt er zuhause privaten Hebräischunterricht. Später hat ihn in Wien Literatur, Theater, Kunst und Musik fasziniert. Alles änderte sich, als die Nazis einmarschierten. Damit endet auch Bikels Leben in Wien, bis zum November letzten Jahres: „Bei mir hat sich der Kreis, der im Jahr 1938 begonnen hat, geschlossen. Ich bin ein Flüchtling gewesen und bin geehrt worden im selben Land, das mich zum Flüchtling gemacht hat. Das bedeutet für mich, dass hier eine Normalisierung passiert ist.“

Israel – in Bikels Jugend
Theodore Bikel liebte seine Wiener Kindheit, auch wenn sie so kurz war. Seine tiefen Gefühle sind noch immer stark spürbar, wenn er darüber spricht, wie er von einem Menschen mit gleichen Rechten zu einem Hassobjekt wurde. Sein Vater, der der Poale Zion, einem marxistisch-zionistischen Zirkel jüdischer Arbeiter, angehörte, konnte ein Ausreisezertifikat erlangen, mit dem die Familie in das damalige Palästina auswanderte. „Als ich in Israel lebte, war das eine sozialistische, fast utopische Gesellschaft – offen, freundlich, wo man das Edle an der Arbeit schätzte. Damals konnte man Israel mit keiner anderen Gesellschaft vergleichen. Das heutige Israel ist eine Spiegelung der amerikanischen Gesellschaft: Das Wichtigste ist kaufen und verkaufen. Mein Israel, mein Palästina war damals ein Land, von dem mein Vater geträumt hat.“ Über die heutige Situation in Israel ist Bikel besorgt. Wenn man einen Fehler sieht und verbessern will, liebt man die Heimat nicht weniger, sondern mehr, meint er. „Juden und Araber dürfen nicht mit einer konstanten Feindseligkeit in die nächsten Jahrhunderte hinein. Niemand verlangt, dass sich eine Liebschaft entwickelt, aber wir sind so als Menschen miteinander verwickelt, dass wir entweder verstehen werden müssen, wie wir zusammen leben, oder dass wir zusammen sterben müssen. Der Frieden rinnt einem durch die Finger hindurch.“

Über England nach Amerika
Israel, damals Palästina, war ein kleines Land. Und obwohl Theodore Bikel in Israel als Schauspieler groß werden konnte, wollte er sein Schauspieltalent dort weiter entwickeln, wo das Theater noch bedeutender war. Diese Motivation führte ihn zunächst nach England, obwohl er sich dort nie zuhause gefühlt hat. „Ich war immer ein Fremder“, sagt er und meint zusammenfassend: „Es gibt ein lateinisches Sprichwort: Ubi bene, ibi patria – ‚Wo es gut ist, ist das Vaterland‘. Es gab so viele Orte, an denen, und Menschen, mit denen ich mich wohlfühlte, dass ich es nicht geografisch definieren könnte. Es kommt auf das Wann und Wo an, am Montag vielleicht in Israel und am Donnerstag vielleicht in Amerika.“ In Amerika lebt Bikel seit fast 60 Jahren, und dort gefällt es ihm unwahrscheinlich gut. Er konnte in Amerika seine Karriere als Schauspieler entwickeln, er wurde berühmt und gefragt.

In den Schuhen von Scholem Alejchem
Nach einem langen Tag sitzt Theodore Bikel mit seiner Frau auf der Terrasse einer noblen Villa im 19. Bezirk. Seine Gastgeberin Hava Bugajer, die Präsidentin der WIZO (Internationale zionistische Frauenorganisation), hat ihm diesen Abend gewidmet. Wie in Wien in der Zeit der großen Salons machte Hava Bugajer in dieser Sommernacht ihr Haus zum Treffpunkt von vielen Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Medien. Sie haben sich alle versammelt, um den besonderen Flair dieses Abends zu genießen und um Theo Bikels Stimme zu hören. „Wird er singen oder nicht?“, flüstern einige. Nachdem die Gesellschaft in den Salon gewechselt ist, wird um Aufmerksamkeit gebeten, und der Ehrengast beginnt zu reden: Über seine Kindheit in Wien, über die verzweifelten Bemühungen seines Vaters, eine Ausreisebewilligung zu bekommen. „In Wien war ich frei als Mensch, um mich zu entwickeln, aber auch als Jude. Das alles hat sich über Nacht geändert und ich bin ein Flüchtling geworden und bin das auch teilweise bis zum heutigen Tag geblieben.“

Seine gute Freundin, die kürzlich verstorbene Präsidentin des Nationalrats Barbara Prammer, hat ihn letztes Jahr anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome 1938 eingeladen. „Sie hat verstanden, wie wichtig dies ist und vielleicht auch, wie wichtig es ist, dass ich als Symbol dort war, weil die Massenmörder verschwunden sind und ich noch immer da bin und über den Frieden singe.“

Bevor Bikel zu reden lernte, konnte er singen. Das sagt er in seinem Film Theodore Bikel: In the Shoes of Sholom Aleichem, der Ende Juli beim San Francisco Jewish Film Festival gezeigt wurde. Die Gäste im Hause von Hava Bugajer konnten an diesem Abend einen zwanzig Minuten langen Ausschnitt davon sehen. Über viele Jahre bestand eine ganz besondere Beziehung zwischen Theodore Bikel und Scholem Alejchem. „Dieser Film handelt nicht nur von Scholem Alejchem als Schriftsteller und Theodore Bikel als Schauspieler, sondern auch von zwei Leben, die ohne einander nicht existieren könnten“, sagte Bikel, der im Musical Anatevka mehr als 2000- mal den Milchmann Tewje spielte, Alejchems berühmteste literarische Schöpfung.

Der Film ist auch als eine Ehrung seiner Großmutter zu verstehen, da nur seine Eltern und er aus Wien fliehen konnten und sie bleiben musste. Diese mutige Frau ging jeden Tag in die Halle, wo die Dinge, die seine Eltern nicht mitnehmen konnten, zurückgeblieben waren, und versuchte die verbliebenen Sachen herauszuholen. Sie schaffte es. Alles was verpackt war, wurde der Familie in die neue Heimat nachgeschickt, darunter auch das Tewje-Buch von Scholem Alejchem. Es ist schon spät am Abend, bevor Theodore Bikel seine Reise um Mitternacht nach Melk und Deutschland fortsetzt. Auf die Frage, ob er eine Lebensweisheit habe, die er weitergeben möchte, bevor er die Welt wieder nur zu beobachten beginnt, antwortet er: „Toleranz ist stärker als Verdacht und Liebe stärker als Hass.“

Theodore Meir Bikel wurde 1924 in Wien geboren. Seine Eltern benannten ihn nach Theodor Herzl. Nach dem Anschluss musste er mit seinen Eltern nach Palästina fliehen. Im Jahr 1943 begann er am Habima-Theater in Tel Aviv eine Schauspielausbildung und gründete danach mit vier Schauspielkollegen das Tel Aviv Chamber Theater. Im Jahr 1946 verließ er Palästina, um an der Royal Academy of Dramatic Art in London zu studieren. Seine Karriere begann 1951 mit einer Nebenrolle in dem Filmklassiker African Queen. 1955 zog er nach New York und begann eine zweite Laufbahn in der Folk Music. Bikel hat das Revival der jüdischen Volksmusik angestoßen. Er ist ein Meister der Sprachen, Dialekte und Akzente.

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