„Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind“, heißt es in Ovids Remedia amoris.
Kommentar von Andrea Schurian
Am 2. November zog ein Gotteskrieger los, um im Namen Allahs eine Blutspur durch die Wiener Innenstadt zu ziehen. Er tötete vier Menschen, zahlreiche Männer und Frauen wurden verletzt, ehe er selbst von einer Spezialeinheit der Polizei erschossen wurde. Für seinen Angriff wählte der 20-jährige Jihadist die Gegend rund um die Seitenstettengasse, das Herz des jüdischen Wien. Die Bundeshauptstadt und das Land waren im Schock, seither wird ermittelt und verhaftet, werden Muslimbruderschaften ausgehoben und Millionenbeträge sichergestellt. Die gravierenden Pannen bei der Überwachung des IS-Sympathisanten aus der Donaustadt werden genau untersucht werden müssen; das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) hat schwer geschlampt, vor allem auch das Landesamt (LVT Wien).
War Österreich nach den Morden in Frankreich nicht alarmiert? Nachdem ein junger Tschetschene im Namen Allahs in einem Vorort von Paris einem Lehrer auf offener Straße den Kopf abschnitt, weil dieser im Staatskundeunterricht anhand der Mohammed-Karikaturen über Meinungsfreiheit reden wollte, blieb Österreichs Intelligenzija gespenstisch still. Auch zwei Wochen später, als in Südfrankreich ein tunesischer Flüchtling mit abschlägigem Asylbescheid eine Kirchgängerin köpfte und zwei weitere Menschen erstach, gab es keinen lautstarken Aufschrei von Österreichs politischen, (links-)intellektuellen, liberalen Eliten oder auch der muslimischen Zivilgesellschaft. Keinen Schweigemarsch. Keine Betroffenheitsprosa. Keine Unterschriftenlisten gegen Salafismus und Gotteskriegertum. Zu groß die Angst, in einer rassistischen, islamfeindlichen, rechtsradikalen Meinungskloake mitzuschwimmen, die Flüchtlingsdebatte in noch rechtere Gewässer umzuleiten und alle – großteils friedlichen – Muslime unter Generalverdacht zu stellen. Das Totschlagargument Islamophobie wirkte – bisher zumindest – verlässlich.
Die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann fand nach den Attentaten in Frankreich noch beschwichtigende Worte: Die Milieus der Grande Nation würden deutlich krasser auseinanderklaffen, als man es hierzulande kenne. Sie vergaß allerdings ein wichtiges Wort: „noch“. Denn auch in Österreich existierten auch schon vor dem Attentat Parallelwelten; verweigern muslimische Männer den Lehrerinnen ihrer Kinder den Handschlag; bedrohen selbst ernannte Tugendwächter muslimische Mädchen, die kein Kopftuch tragen; verwüstete ein 31-jähriger Syrer, der seit 2013 als anerkannter Flüchtling in Österreich lebt und der Juden und Homosexuelle hasst, das jüdische Gemeindezentrum in Graz mit pro-palästinensischen Parolen, ging mit einem Prügel auf den Präsidenten der jüdischen Gemeinde los und suchte auch einen Schwulentreff heim; gibt es Zwangsverheiratungen, hasspredigende Imame und Muslimbrüder, die Europa „ohne Schwert und ohne Kampf“ erobern wollen, weil der Westen in einem miserablen Zustand aus Unmoral, Materialismus und Promiskuität sei und vom Islam aus diesem Elend befreit werden müsse. „Europa wird keinen Lebensretter, kein Rettungsboot außer dem Islam finden“, sagt etwa Yusuf al-Qaradaw, einer der Vordenker der Muslimbruderschaft.
Sibylle Hamann hat sich zum Attentat in Wien übrigens nicht mehr öffentlich geäußert. Auch ihre Parteikollegin, die Wiener Grünen-Chefin Birgit Hebein, nicht. Die nannte es „Dirty Campaigning“, als öffentlich wurde, dass Abdelati Krimi, der letztgereihte Kandidat auf der grünen Wienwahl-Liste, auf einem arabischsprachigen Facebook-Sender durchblicken ließ, er habe mehr für die Gesetze des Koran übrig als für jene Österreichs („obwohl wir gegen die Gesetze dieses Landes sind“). Okay, grüner Einzelfall. Halb so wild. Augen zu?
1968 kämpften Studentinnen und Studenten gegen autoritäre Strukturen, Prüderie und Bigotterie, für freie Sexualität, Emanzipation, straffreien Schwangerschaftsabbruch. Und heute? Verwenden die (Enkel-)Kinder der 68er zwar brav den Asterisk vulgo Genderstern. Aber statt für die ersatzlose Streichung des Blasphemie-Paragrafen und einen laizistischen Staat auf die Straße zu gehen, verteidigen sie stockkonservative, homophobe, intolerante Religionsideologien, wobei der Islam einen besonderen Artenschutz genießt.
Uneingeschränkte Toleranz führe notwendigerweise zum Verschwinden derselben, warnte der aus Österreich gebürtige Philosoph Karl Popper (1902−1994), der – den „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland vorhersehend – 1937 nach Neuseeland ins Exil ging: „Denn, wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“ (aus: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1945). Wer Poppers Toleranz-Paradoxon in Islam-Debatten wirft, landet allerdings schneller im rechten Abstelleck, als er nach links abbiegen kann. Auch aus Gründen falsch verstandener politischer Korrektheit wird bei islamistisch motivierten Anschlägen flott relativiert, werden rechte Extremisten versus islamistische Terroristen aufgerechnet und Schuldige gesucht: Mehrheitsgesellschaft, Schulsystem, mangelnde Aufstiegschancen.
Ja, eh. Das trifft freilich auch auf rechte Unterschichtler zu, die vom Globalisierungs- und Modernisierungsschub ebenso ins Abseits befördert wurden wie die Generation Haram. Vermutlich gehen Rechte und Islamisten sowieso eingehakt zu jeder Anti-Israel-Demonstration. Nicht zu vergessen die in linksintellektuellen Wohlstandsblasen beheimateten Israel- und Judenfeinde, die – à la Ex-Labourchef Jeremy Corbyn – von Hamas und Hisbollah als Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten daherplauschen.
Sascha Lobo, deutscher Blogger und Mit-Initiator der Charta der Digitalen Grundrechte der EU, schreibt in einer Spiegel-Kolumne von „Verniedlichungsrassismus“, wenn Muslime als „mitleidpflichtiger Migrantenmonolith“ aus der Verantwortung für ihr Handeln entlassen werden. Und der deutsche Jusos-Bundesvorsitzende, Kevin Kühnert, fordert, dass die politische Linke endlich ihr Schweigen beenden müsse, „weil es insbesondere ihre proklamierten Werte sind, die bei ausnahmslos jedem Terroranschlag mit Füßen getreten, mit Messern erdolcht und mit Sprengsätzen in die Luft gejagt werden.“
Frankreich ist das europäische Land, das seit Mitte der 1990er Jahre am stärksten unter (selbst-)mörderischen Salafistenbanden zu leiden hat. Hunderte Menschen sind den Gotteskriegern bei Terroranschlägen zum Opfer gefallen, 30.000 französische Juden aus Angst vor muslimischem Antisemitismus nach Israel ausgewandert. Anfang des Jahres machten französische Sicherheitsdienste bereits 150 Territorien im Land aus, die sich in Islamistenhand befänden und wo der Schleier für Frauen eine Art Versicherungspolizze sei, um nicht geschlagen oder vergewaltigt zu werden.
Die französische Feministin Elisabeth Badinter fordert nun Gesetzesänderungen, damit gegen Islamisten ein „ideologischer Krieg“ geführt werden könne. Eine pazifistische Lösung erachte sie seit dem grausamen Mord an Samuel Paty als unmöglich.
Die Frontstellung von Anti-Rassisten und Anti-Islamisten habe bereits manche in die politische Heimatlosigkeit getrieben, hieß es schon vor ein paar Jahren in der linken Berliner Wochenzeitung Jungle World. Im Kopftuch ein feministisches Symbol zu sehen sei ebenso absurd wie zu glauben, dass das Aufwachsen in frauenverachtenden Gesellschaften keinerlei Einfluss auf das Verhalten gegenüber Frauen habe. „Aber noch viel absurder ist es, diejenigen als Rassisten zu beschimpfen, die das Offensichtliche aussprechen. Es wird Zeit, auch politisch aufzuzeigen, wie sich rechte und islamistische Ideologien gleichen.“
Liberale Musliminnen und Muslime tun genau dies, riskieren dabei ihr Leben – und werden beschuldigt, sie würden sich von rechter Seite instrumentalisieren lassen.
Die von Muslimen verübte Gewalt habe viel mit dem zu tun, was sie in ihren Gemeinschaften als akzeptabel dulden, schreibt Murat Kayman in der Zeit. Der Mitbegründer der Alhambra-Gesellschaft für Musliminnen und Muslime mit europäischem Selbstverständnis vermisst nach den Attentaten klare Worte muslimischer Verbände: „Selbst das wenige, das gesagt wurde, folgte einer Dramaturgie, die mittlerweile wie eine ritualisierte Betroffenheitsfolklore wirkt. Man habe doch all die Jahre immer und immer wieder erklärt, dass solche Taten nichts mit dem Islam zu tun haben! Am Ende des Tages bedeutet Islam Frieden, und Allah allein weiß, weshalb Menschen plötzlich auf die Idee kommen, anderen die Kehle durchzuschneiden. Ich kann diesen öffentlich reproduzierten ignoranten Fatalismus der muslimischen Dachverbände nicht mehr hören.“