„Wir wären ein Stachel im Hintern“

Warum will ein israelischer Kunststudent mitten im deutschen Thüringen einen jüdischen Staat gründen? Ronen Eidelman über seinen Plan B für die Juden und warum er nicht will, dass er in Erfüllung geht.
Von Lukas Wieselberg

Der israelische Künstler Ronen Eidelman hat vor vier Jahren die Idee für ein „Medinat Weimar“ vorgestellt. Ziel des künstlerisch-politischen Projekts ist die Gründung eines jüdischen Staates im ostdeutschen Bundesland Thüringen, samt Lösung von allerlei jüdischen, arabischen und deutschen Problemen. Was als provokante Arbeit an der Kunsthochschule in Weimar begann, hat danach einigen politischen Staub aufgewirbelt. Im NUTelefoninterview erzählt Eidelman von seinen unangenehmen Erfahrungen in Wien und erklärt, warum er nicht auf eine Realisierung seines Projekts hofft. Auslöser für Medinat Weimar war ein bekennender Antisemit.

NU: Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? War es tatsächlich eine Rede des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad, der 2005 vorschlug, Israel nach Deutschland beziehungsweise Österreich zu verlegen?

Ronen Eidelman: Die Idee, dass Juden nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa zurückkehren, gibt es schon sehr lange. Es gab sie vor und nach der Staatsgründung Israels, das ist nichts Neues. Auch die Idee eines jüdischen Staates in Deutschland wurde in der Vergangenheit mehrfach diskutiert. Im kanadischen Parlament schlug dies etwa kurz nach dem Krieg ein Abgeordneter vor. Die anderen Alliierten hatten daran aber kein Interesse. An dem Zitat von Ahmadinedschad – der ohne Zweifel ein demagogischer Antisemit ist – haben mich vor allem die Reaktionen in Deutschland interessiert. Von allen seltsamen Dingen, die er von sich gegeben hat, hat dieses Zitat am meisten Wellen geschlagen. Offenbar hat er einen wunden Punkt berührt. Das hat mich dazu bewegt, dieser Idee nachzugehen.

Sie waren zum Zeitpunkt des Zitats ja gerade in Weimar.

Genau. Wir haben unter jüdischen Freunden gescherzt und gemeint: Klasse Idee, wo könnte so ein Staat liegen, in Bayern vielleicht? Wir haben gelacht, aber viele Deutsche haben das sehr ernst genommen.

Sie haben die Idee Medinat Weimar dann als Teil ihrer Abschlussarbeit an der dortigen Bauhaus-Universität entwickelt. Wie waren die ersten Reaktionen?

Im künstlerischen Bereich sehr positiv. Der Versuch, mit Kunst Grenzen auszuloten, phantasievolle Ideen zu haben, wurde begrüßt. Interessant fand ich die gemischte Reaktion der Öffentlichkeit. Viele junge Menschen fanden die Idee aufregend, dass andere junge Menschen aus der ganzen Welt nach Weimar kommen und für frischen Wind sorgen. Die Institutionen wie die Stadt, das Theater und die Universität wollten sich aus der Diskussion hingegen lieber heraushalten oder ignorierten sie.

Warum?

Aus vielen Gründen. Hauptsächlich vermutlich, weil sie nicht wussten, wie man darauf angemessen reagieren soll. Legt man sich mit Israel an, wenn man ein Medinat Weimar unterstützt? Was sagt das über Deutschland aus? Fragen wie diesen müssen sich die Institutionen stellen und das fällt ihnen nicht leicht. Offiziell – und das finde ich natürlich nicht schlecht – ist man gegen Rassismus, Antisemitismus, unterstützt Israel, sagt, der Holocaust sei eine Tragödie etc. Medinat Weimar war dabei unbequem und deshalb wollten sich die Institutionen damit am liebsten gar nicht erst beschäftigen. Es gab auch immer die Tendenz, die eigene Angst anderen zuzuschieben, etwa indem gesagt wurde: Neonazis würden das Projekt attackieren. Darauf wäre meine Antwort: OK, dann verteidigt es halt. Die Angst wurde anderen untergeschoben, nie wurde gesagt: Wir haben ein Problem damit.

War Weimar der ideale Ort für Ihr Projekt?

Ich denke schon. Es handelt sich bei Medinat Weimar auch nicht um eine Strafe, sondern um eine Auszeichnung, und das wäre es für jede Region. Was Thüringen aber besonders macht: Das Land braucht junge Leute und neue Ideen, die es wieder voranbringen. In den eigenen Zukunftsstudien von Thüringen steht, dass die jungen, motivierten und gut ausgebildeten Menschen abwandern, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung immer mehr steigt und dass man dagegen etwas tun muss. Ohne Einwanderung wird es nicht gehen und es stellt sich die Frage: welche Einwanderung? Wir bieten dafür eine sehr gute Lösung an. Abgesehen davon ist Weimar natürlich ein sehr gutes Symbol, sowohl für die besten als auch für die schlechtesten Dinge, die die deutsche Kultur und Geschichte hervorgebracht haben: die Heimat Goethes und Schillers auf der einen Seite, das nahe KZ Buchenwald auf der anderen.

Haben Sie je an einen anderen Platz für Ihr Projekt gedacht, etwa an Wien, das ja nicht nur die Heimat des modernen Antisemitismus ist, sondern auch des Zionismus?

Unser Projekt versucht, nicht in die Vergangenheit zu schauen, versucht nicht, sie zu reparieren. Die ostdeutschen Bundesländer mit ihrem Bevölkerungsmangel und ihrer Überalterung sind ein besserer Platz dafür. Dort kann es auch viele andere Probleme lösen, nicht nur die Frage der Autonomie der Juden, die Theodor Herzl versuchte zu beantworten. Aber natürlich ist Medinat Weimar eine demokratische Bewegung. Wenn also jemand Vorschläge macht für eine andere Region, so wird man die diskutieren.

Sie könnten sich also auch ein „Medinat Wien“ vorstellen?

Das kommt auf die Argumente an, aber ich glaube natürlich, dass meine Idee besser ist. Wenn die Wiener Bevölkerung damit einverstanden ist, warum nicht. Entscheidend ist sowieso immer, dass die lokale Bevölkerung so etwas gut findet, das kann nicht mit Gewalt erzwungen werden.

Apropos Wien. Gab es Unterschiede in den Reaktionen zwischen Deutschland und Österreich, wo Sie das Projekt zum ersten Mal vor drei Jahren präsentiert haben?

In Wien wurden meine Ideen sehr herzlich aufgenommen, ich hatte dort auch Treffen mit Vertretern anderer Minderheiten, etwa aus der muslimischen und der Roma- Community. Sie waren sehr angetan von der Idee eines Staates mit ethnischen Minderheiten in Europa. Prinzipiell habe ich bemerkt, dass die österreichische Gesellschaft mit der Nazi-Vergangenheit anders umgeht als die deutsche. Wenn etwa an touristischen Stätten von der „Nazi-Besatzung“ gesprochen wird, als ob das etwas von außen Oktroyiertes gewesen wäre, gegen das man sich aufgelehnt hätte. Deutschland hat sich meines Erachtens sehr gut mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt. Bei den Debatten in Deutschland über Medinat Weimar ist es immer völlig klar, dass es sich um ein gemeinsames Projekt handelt. In Österreich wird mitunter so getan, als ob der Holocaust gar nichts mit einem zu tun hätte. Das hat mich zwar nicht überrascht, denn ich habe schon zuvor gehört, dass das in Österreich so sein soll. Aber das selbst zu erleben, ist doch eine andere Sache. Außerdem habe ich in Deutschland mehrere Jahre lang gelebt und persönlich keinen einzigen Fall von direktem Antisemitismus erlebt. In Wien habe ich diese Erfahrung hingegen gleich an meinem ersten Tag gemacht.

Wobei?

Ich war mit einer arabischen Freundin in einer Bar, wir haben miteinander geplaudert, als ein Fremder an unseren Tisch getreten ist und mit dem Hitlergruß salutiert hat. Die anderen rundherum haben gelacht. Wir haben verstanden, dass wir nicht willkommen waren, und haben das Lokal verlassen. In Deutschland hätten wir vielleicht die Polizei gerufen.

Können Sie sich an den Namen des Lokals erinnern?

Nein, vielleicht hätten wir damals mehr tun sollen, aber ich habe in dem Moment beschlossen, den Vorfall einfach zu ignorieren. Es hatte jedenfalls nichts mit Medinat Weimar zu tun, sondern damit, dass man jemand Fremder ist. Vermutlich haben wir die Lokalbesucher verwirrt. Ich glaube nicht, dass sie gewusst haben, wer wir waren. Meine Begleiterin war Araberin, ich Jude, wir haben ein Gemisch aus Arabisch und Hebräisch gesprochen. Sie wussten wohl nur, dass wir fremd waren und das wollten sie nicht.

Das tut mir persönlich leid, aber das kann in Wien passieren. Um auf Medinat Weimar zurückzukommen: Das ist offensichtlich nicht nur ein Kunstprojekt, sondern auch ein politisches. Ist diese Unterscheidung – Kunst auf der einen, Politik auf der anderen Seite – für Sie sinnvoll?

Nein. Meine Kunst ist auch meine Politik und umgekehrt. Kunst ist jener Ort, wo man auch neue politische Ideen entwerfen kann. Kunst ist vielleicht der einzige Bereich in unserer postmodernen Welt, in der Politik fast schon zu einem Schimpfwort geworden ist, wo das noch geht. Aber natürlich kann die Politik nicht in der Kunst verbleiben. Nachdem man sie geschaffen hat, muss sie in die eigentliche politische Sphäre und Öffentlichkeit. Kunst ist für mich eine Art Schutzhöhle, in der neue utopische Ideen generiert werden können, die in anderen Bereichen sofort untersagt und blockiert werden würden.

Sie haben einmal gesagt, dass jeder Staat ein Desaster ist. Wollen Sie in diesem Sinne tatsächlich auf einen real existierenden jüdischen Staat in Thüringen hinaus? Was wäre, wenn diese Utopie Realität würde?

Sie erwischen mich gerade in Jerusalem, wenn Sie so wollen, im „Plan A“ der Juden. Medinat Weimar ist so etwas wie ein „Plan B“. Wobei es nicht heißt, dass man Plan A Erfolglosigkeit wünscht, wenn man einen Plan B hat. Es bedeutet nur, dass man im Voraus plant. Die Aussicht, dass Medinat Weimar tatsächlich realisiert wird, ist sehr traurig. Es würde nämlich bedeuten, dass sich zuvor eine Tragödie ereignet haben muss, die seine Realisierung nötig macht. Zurzeit ist Medinat Weimar ein Projekt der Imagination und Fantasie, ein Projekt, das Fragen aufwirft und Dinge bewirkt einfach nur als Idee. Ein realer jüdischer Staat Thüringen würde bedeuten, dass die Juden von irgendwo herkommen müssten, etwa weil sie flüchten mussten aus Australien, Buenos Aires, St. Petersburg oder Wien, oder weil Israel unbewohnbar geworden ist. Die Verwirklichung von Medinat Weimar würde für mich zwar eine Lösung sein, aber Folge einer Tragödie. Ich hoffe deshalb, dass das Projekt eine Vorstellung bleibt.

Die Hintergründe Ihres Projekts sind also sehr ernst. Wenn Sie mir verzeihen, das zu sagen, aber beim Lesen der 13 Thesen zu Medinat Weimar musste ich auch immer wieder schmunzeln – etwa wenn der Anspruch gestellt wird, mit dem Projekt gleichzeitig „Antisemitismus, Schuldabwehrantisemitismus, problematische Formen von Philosemitismus, sowohl deutschen als auch jüdischen Selbsthass und den Konflikt zwischen jüdischen, arabischen und muslimischen Gemeinden heilen zu können“. Ist das nur meine Lesart oder beabsichtigt und das Projekt auch ein Beispiel für jüdischen Humor?

Humor ist etwas sehr Ernstes, ich sehe da keinen Widerspruch. Man kann etwas sehr ernst nehmen und humorvoll zugleich sein. Wenn Sie schmunzeln mussten, halte ich das für ein sehr großes Kompliment. Was wäre das Leben ohne Humor? Große Ideen müssen auch ins Absurde gehen, um Strukturen offenzulegen. Dadurch verstehen wir besser, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Es war also durchaus Absicht unserer Thesen, sie bis ins Absurde zu steigern, denn so kann man die unlogischen Ideen vieler Ideologien entblößen und versuchen, durch etwas Besseres zu ersetzen.

Apropos. Wer ist für Sie ein Jude bzw. wer kann Bürger des Medinat Weimar sein?

Dabei geht es nicht um Blut oder Volkszugehörigkeit, sondern um eine Frage der Selbstdefinition. Es ist wie bei Ruth, der Urgroßmutter von König David, die sagte: Ich bin Teil des jüdischen Volkes. Und so ist es im Lauf der Geschichte auch die längste Zeit gewesen. Nicht die Frage nach dem Blut oder der Abstammungslinie der Mutter stand im Mittelpunkt, sondern: Wer will und wer verrückt genug ist, dieser Gemeinschaft beizutreten, der wird akzeptiert. Aber natürlich gibt es auch noch die Definition, dass der Jude ist, der von anderen als solcher betrachtet wird. Das kann ich auch nicht ignorieren. Und für die steht unser Projekt natürlich auch offen. Es gibt also zwei Seiten einer Medaille: auf der einen Seite die freie Wahl, auf der anderen die Fremdzuschreibung. Was mir wichtig ist, hat Bernard Lazare einmal so beschrieben: „Wir lösen uns von der Blutdefinition und bilden eine Identität, die auf Ideen beruht, und werden freiwillige Outcasts, die sich nicht passiv von der Gesellschaft zurückziehen, sondern ein kritischer Stachel im Hintern ist. Wir verwenden unsere Außenseiterposition als Macht, als Mittel für politische Rebellion und Veränderung, wir fordern die Welt heraus mit unserer kollektiven Identität des historischen Anderen.“ Auch Medinat Weimar wäre so ein Stachel im Hintern. Ein radikaler jüdischer Staat mitten in Europa, der sagt: „Hej, wir sind die Anderen“ und der damit dem Rest der Welt einen Spiegel vorhält.

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