Die Stadt Wien hat in jüngster Zeit viele Aktionen unterstützt, die auf das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus hinweisen. NU hat dazu den Wiener SPÖ-Stadtrat Andreas Mailath-Pokorny interviewt und mit ihm über seine persönliche Sicht der Vergangenheit, den Austrofaschismus, seine Beobachtungen in der Leopoldstadt und über den Schädel von Kara Mustafa gesprochen.
Von Peter Menasse (Text) unf Jacqueline Godany (Foto)
NU: In jüngster Zeit gab es viele Aktionen der Stadt Wien, die an die Vernichtung und Vertreibung der Juden erinnern wollten. Warum kommt das gerade jetzt? War die Gesellschaft früher nicht in der Lage, sich mit der Shoah zu befassen, oder sind es die derzeit handelnden Personen, denen die Erinnerung ein Anliegen ist?
Mailath-Pokorny: Na ja, ich glaube es ist wahrscheinlich von all dem etwas. Es ist mit Sicherheit auch eine Generationenfrage. Ich selbst bin insoweit involviert gewesen, als ich die Rede des damaligen Bundeskanzlers Vranitzky mitformuliert habe, die er 1993 am Ölberg gehalten hat. Ich kann mich daran erinnern, dass wir sehr un-sicher waren über die Reaktionen, die es nach der Rede in Österreich geben würde. Das alleine zeigt schon, wie viel sich da in den letzten 15 Jahren im Bewusstsein entwickelt hat. Es stimmt, wenn allgemein gesagt wird, dass die Wahl von Waldheim ein Wendepunkt war. Der Umgang Waldheims mit der Vergangenheit hat offensichtlich etwas ausgelöst, was bis zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war. Nämlich offene Worte zu finden, zu recherchieren, nachzudenken. Nach der Rede des Bundeskanzlers in Jerusalem haben wir wirklich viele berührende, positive aber auch kritische Worte und zum Teil verzweifelte Post von Überlebenden des Holocaust auf der ganzen Welt bekommen, so dass wir damals im ersten Moment gar nicht in der Lage waren, diese teilweise sehr langen Briefe gleich zu beantworten. Wir haben daher in der Folge nach Mitteln und Wegen gesucht, wie man das einmal strukturell erfassen kann und überhaupt in Kontakt tritt zu den Menschen. Wir sind dann darauf gekommen, dass wir nicht einmal wussten, wie viele Überlebende es überhaupt noch auf der ganzen Welt gibt, geschweige denn, dass sie in irgendeiner Weise datenmäßig erfasst gewesen wären. So haben wir also begonnen, ein Büro einzurichten, und haben in Pappkartons eine Art Archiv angelegt. Und das waren für mich wirklich berührende Momente, über die einzelnen Schicksale zu lesen und zu versuchen, sich in die Menschen hineinzudenken. Das Datenmaterial und das Fotomaterial war dann auch der Grundstock für den späteren Nationalfonds. Wir haben erst damals, also Mitte der 1990er Jahre, erstmals an die Überlebenden Briefe geschrieben. Wir Österreicher haben begonnen zu reagieren und endlich zu sagen „Wir wissen, dass es euch gibt.“ Damals sind wir auch darauf gestoßen, wie viele Zwangsarbeiter es gab, und dass das alles überhaupt nicht im Bewusstsein der Menschen war, und ich muss gestehen — ich war damals ungefähr dreißig Jahre alt — auch nicht in meinem.
NU: Warum engagieren Sie sich? Ist das etwas, was Sie von zu Hause mitbekommen haben, oder Resultat einer späteren Sozialisation?
Mailath-Pokorny: Ich muss sagen, die nationalsozialistische Vergangen-heit war im Grunde kein Thema. Es gab in meiner Familie keine Nazis. Es gibt eine angeheiratete jüdische Tante, aber auch mit ihr wurde die NS-Zeit nicht thematisiert. Ich bin dann eigentlich erst im Rahmen der Schule auf die Geschichte aufmerksam gemacht worden, und hatte da das Glück, wahrscheinlich im Unterschied zu vielen anderen Menschen, in ein politisch bewusstes Schulumfeld hineinzukommen, wo wir im Geschichtsunterricht Holocaust und Nationalsozialismus ausführlich behandelt haben.
NU: Was war das für eine Schule?
Mailath-Pokorny: Das Akademische Gymnasium. Ich habe dort in Geschichte maturiert und konnte damals schon eine kleine Seminararbeit zum Thema „Faschismus in Österreich“ verfassen. Da stieß ich auch auf bis heute totgeschwiegene Aspekte des Ständestaats, die meiner Ansicht nach noch der Aufarbeitung harren. Ich glaube, es ist in Österreich gesamtgesellschaftlich eher möglich, über den Nationalsozialismus zu publizieren und öffentlich zu diskutieren als über den Austrofaschismus. So lange wir jedoch diese historische Periode nicht in einer ähnlichen Weise analysiert und kollektiv besprochen und auch Verantwortung übernommen haben, werden wir uns mit dem Verständnis und der produktiven Bewältigung der Geschichte weiterhin schwer tun.
NU: Lässt sich heute noch Verantwortung für eine so lange zurückliegende Geschichte übernehmen?
Mailath-Pokorny: Ich glaube, dass es eine zentrale Frage ist, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich halte nichts vom „Entschuldigen“, denn es wäre absurd zu glauben, man könne sich entschuldigen, wenn man einen Menschen umgebracht oder ihn seines Vermögens beraubt hat. Verantwortung übernehmen heißt, erstens zu wissen, dass es geschehen ist, zweitens zu wissen, wo man lebt und was die Gesellschaft sich angeeignet hat, und drittens natürlich auch so etwas wie eine Kultur der Erinnerung zu pflegen und eben nicht zu vergessen.
NU: Sie haben vor kurzem einen Thora-Mantel, der von der Zerstörung durch die Nazis bewahrt werden konnte und über Umwege an das Jüdische Museum gekommen ist, seinen Besitzern, der New Yorker Familie Bauer-Wesel, zurückerstattet. Wie war die Stimmung bei dieser Übergabe?
Mailath-Pokorny: Es war eindrucksvoll. Ich habe mich familiär aufgenommen gefühlt und war emotional stark berührt, als ich gemerkt habe, dass ein im Grunde materiell nicht sehr wertvolles Stück von 50 oder 70 Nachfahren, Familienmitgliedern, Freunden auf so eine freudige Art empfangen wurde. Es wurde mir auch so liebevoll gedankt, obwohl meine einzige Tat darin bestanden hatte, dass ich das ganze physisch über den Atlantik gebracht habe. Aber es ist auch diese ungeheure Verbundenheit mit der Wiener Kultur, die mich immer wieder anspricht und mich in größtes Erstaunen versetzt. Dass Menschen, die nichts als ihr Leben hatten retten können, Menschen, deren Familien ausgerottet worden sind, sich immer noch kulturell so stark verbunden fühlen, ja sich bemühen Deutsch zu sprechen oder ungeheuren Anteil nehmen an der Kultur. Sie haben mich zum Beispiel gefragt, was im Burgtheater gespielt wird. Diese jüdische Kultur ist ein so wesentlicher Bestandteil des Wiener Lebens. Ich wohne selbst im zweiten Bezirk und erlebe in den letzten Jahren, dass dort eine sehr differenzierte jüdische Kultur entsteht. Sei es, weil das eine oder andere Geschäft aufmacht, sei es, weil auch orthodoxe Jüdinnen und Juden dort selbstverständlich zum Straßenbild gehören und dass es sich auf eine sehr schöne Art und Weise mischt. Fast könnte man den Eindruck haben, man lebe in einem Teil von New York mit all den unterschiedlichen Ethnien, Religionen und Sprachen. Das gibt ein eigenes, freundliches Lebensgefühl.
NU: Apropos Leopoldstadt: Es gibt einen Beschluss, dass die Ichmanngasse zur Wiesenthalgasse umbenannt werden soll. Ein jüdisches Zentrum würde sich ja tatsächlich nicht gut in einer Gasse ausmachen, die nach einem Antisemiten benannt ist. Ein anderer Antisemit und Hassprediger aus dem 17. Jahrhundert, Johann Ignaz Arnezhofer, darf seine Gasse im zweiten Bezirk behalten. Warum ist das so? M
ailath-Pokorny: Na ja, auch bei den Straßennamen gibt es das Problem des mangelnden Wissensstands. Wir machen uns erst nach und nach Dinge bewusst und können dann unsere Konsequenzen daraus ziehen. Bei Ichmann haben wir aus Erkenntnissen deutscher Archivbestände erfahren, dass der Mann ein bekennender Nationalsozialist war. Wir sind in Wien allerdings zurückhaltend, was Umbenennungen betrifft. Es gibt eine langjährige und langwierige Debatte um den Lueger-Ring, wobei ich die Meinung vertrete, dass es bei so vielen Per-sönlichkeiten, die in der Wende zum 20. Jahrhundert politisch tätig waren, auch bei vielen Sozialdemokraten, die eine oder andere antisemitische Äußerung gegeben hat, dass wir, wenn wir das Maß streng anlegen, großflächig Straßen und Plätze umbenennen müssten. Und daher muss man eine Grenze ziehen zu jenen, die bekennende Nationalsozialisten oder Kriegsverbrecher waren. Umgekehrt muss man sagen, dass jemand wie Wiesenthal, der so viel für die Gerechtigkeit getan und der den Namen der Stadt Wien hervorragend vertreten hat, eine Ehrung in dieser Form bekommen muss. Es ist im Übrigen nicht ganz klar, wo diese Simon-Wiesenthal-Gasse sein wird, da sich auch der erste Bezirk um eine Gasse bemüht beziehungsweise auch eine Umbenennung des Albertina-Platzes im Gespräch ist. Allerdings weiß ich, dass Wiesenthal große Vorbehalte gegen das Denkmal dort hatte.
NU: Zum neu erwachten jüdischen Leben in der Leopoldstadt noch eine Frage: IKG-Präsident Ariel Muzicant will mittels Werbeeinschaltungen 8.000 bis 10.000 Juden aus dem Osten nach Wien bringen, um die Gemeinde zu stärken. Was halten Sie von dieser Aktion?
Mailath-Pokorny: Im Grunde bereichert es auf jeden Fall die Stadt, wenn es hier wieder mehr Juden gibt. Als Kulturstadtrat sage ich: Jeder zusätzliche jüdische Impact für Wien ist eine Bereicherung und das hat ja die Geschichte auch schon bewiesen. Daher denke ich, dass das eine unterstützenswerte Idee ist.
NU: Jetzt kommt das Mahnmahl für die homosexuellen und Transgender-Opfer auf dem Morzinplatz. Gibt es dazu aus der Bevölkerung schon Reaktionen?
Mailath-Pokorny: Es handelt sich dabei um das Siegerprojekt eines Wettbewerbs. Es wird im Zuge einer anstehenden Sanierung am Anfang des nächsten Jahrs verwirklicht. Es ist mir deshalb wichtig, weil auch die Verfolgung der Homosexualität während des Nationalsozialismus ein völlig totgeschwiegenes Kapitel ist. Wir haben im Vorjahr dazu eine Ausstellung gemacht, wozu es noch nichts Vergleichbares gegeben hat. Der Titel war „geheimsache: leben“, weil das Schicksal dieser Bevölkerungsgruppe tatsächlich als geheim gehandelt wurde. Mir war beim neuen Denkmal am Morzinplatz auch wichtig, dass das vorhandene nicht tangiert wird.
NU: Und gab es jetzt Reaktionen auf den „Rosa Platz“?
Mailath-Pokorny: Nein, überhaupt nicht. Ich scheue mich hinzuzufügen: zu meiner angenehmen Überraschung.
NU: Gab es Reaktionen auf die Aktion „Blumen der Erinnerung“, bei der Schülerinnen und Schüler 80.000 weiße Rosen vor die Häuser legten, in denen die Opfer der Nazis gelebt hatten?
Mailath-Pokorny: Ich war von dieser Aktion sehr beeindruckt. Ich wusste, dass in dem Haus, in dem ich jetzt wohne, viele Juden gelebt hatten. Aber dann eines Abends nach Hause zu kommen und dort einen ganzen Buschen von weißen Rosen zu finden, das ist schon ein sehr nachhaltiger Eindruck. Und dann fragen die Kinder, was da los ist, und man muss es ihnen erklären. Ich glaube, mit so etwas kann man wirklich Bewusstsein schaffen.
NU: Eine noch nachhaltigere Idee wäre der „Weg der Erinnerung“ (siehe Kasten). Wird es ihn geben?
Mailath-Pokorny: Ja, nächstes Jahr. Ich habe den Initiatoren signalisiert, dass ich daran Interesse habe. Ich halte das für eine sehr gute Idee, die einerseits auf eine wirksame, aber dann doch nicht überplakative Art und Weise zeigt, wo das jüdische Leben, wo die Verfolgung statt gefunden haben. Ich glaube, dass es einen Pfad geben wird, und von meiner Seite aus bin ich auch gerne dazu bereit, das zu unterstützen.
NU: In NU wurde Ende 2003 an Hand von Dokumenten aus dem Österreichischen Staatsarchiv gezeigt, dass Österreichs Kult-fußballer Matthias Sindelar einem Wiener Juden, Leopold Drill, dessen Kaffeehaus zu einem Schandpreis abgekauft, also wie das in der Nazisprache heißt, es „arisiert“ hat. Der Vorsitzende der „Ehrengräber-Kommission“, Kurt Scholz, empfahl dennoch, ihm sein in der Nazi-Zeit verliehenes Ehrengrab zu belassen. Zählt gut kicken mehr als aufrecht leben?
Mailath-Pokorny: Meiner Meinung nach hat Sindelar, soweit mir das von der Aktenlage zugänglich ist, von der „Arisierung“ profitiert, ohne aber ein ausgewiesener Nationalsozialist zu sein, und er war gleichzeitig einer der besten Fußballer, den Österreich je hervorgebracht hat. Ich habe mich, und das sage ich durchaus bewusst, in diesem konkreten Fall der Empfehlung der Kommission angeschlossen, wenn ich auch sehe, dass das ein Grenzfall ist. Man hätte wahrscheinlich auch anders entscheiden können, aber für mich zählt in diesem Fall seine Bedeutung als Fußballer. Ich bin jedoch durchaus froh, dass durch eure Recherche — also ich wusste das vorher auch nicht — im öffentlichen Bewusstsein die Faktenlage bekannt geworden ist. Ich glaube, man kann gleichzeitig jemanden verehren und würdigen, dass er ein hervorragender Fußballer war, und andererseits wissen, dass er Profiteur einer „Arisierung“ war.
NU: Ich möchte noch einen Punkt, der gerade aktuell ist, ansprechen, auch wenn Sie nicht direkt zuständig sind, nämlich diese ganze Integrationsdebatte. Was mir auffällt, ist, dass die große Identität stiftende Geschichte der Stadt Wien immer noch jene der Türkenbelagerung aus 1683 ist. Da hören die kleinen Kinder und unter ihnen auch die türkischstämmigen noch heute, dass die Türken Feinde sind. Könnte man den Unterricht an den Volksschulen in dieser Hinsicht nicht einmal auf die heutige Zeit adaptieren?
Mailath-Pokorny: Das stimmt mit Sicherheit — auch und gerade wenn man weiß, dass es im östlichen Österreich praktisch in jedem zweiten Dorf Türkenstürze und Türkenraubringe und jeweils furchtbare Sagen dazu gibt. Da haben sie die Türken hinuntergestürzt und mit Pech überschüttet und was weiß ich was alles. Das ist sicher eine Anregung, ich muss gestehen, ich weiß nicht, auf welche Weise diese Türkenbelagerung in der Schule behandelt wird. Aber natürlich ist das nach wie vor eine große Geschichte und wird weiterverbreitet. Ich werde das aber gerne aufgreifen und mit der Frau Stadtschulrats-Präsidentin gemeinsam beraten. Ich kann eine kleine Anekdote zu dem Ganzen beitragen. Es gab im Wien Museum über Jahrzehnte, immer wieder von Medien aufs Neue berichtet, die Geschichte eines Schädels, der angeblich jener des Kara Mustafa sein soll. Er wird dort in einem Schrein aufbewahrt und trägt um den Hals geschlungen eine Krause aus goldenem Zwirn. Alle paar Jahre ist diese Geschichte aufgekommen. In wissenschaftlichen Kreisen hat es allerdings große Zweifel gegeben, dass es sich tatsächlich um Mustafas Schädel handelt. Zu diesem Ergebnis kam auch ein Symposium, das zu diesem Thema in der Türkei abgehalten wurde. Ich habe veranlasst, dass man den Kopf würdig im Zug einer ökumenischen Feier beerdigt, um eine weitere Mythenbildung und Zurschaustellung zu verhindern. Ich halte es jedenfalls für wirklich angebracht, dass man zu einer anderen, positiven Form des Umgangs miteinander kommt.
Weg der Erinnerung
Der „Weg der Erinnerung“ ist ein Projekt für die Leopoldstadt. In den Boden eingelassene Steine und an Hauswänden angebrachte Tafeln sollen die Orte des früheren jüdischen Lebens im Bezirk zeigen und die Geschichte der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung dokumentieren. Insgesamt sind drei Etappen geplant, deren erste von der U-1 Station Nestroyplatz bis zum Karmelitermarkt führen wird. Menschen, die ihren ermordeten Angehörigen eine Erinnerung setzen wollen, können sich an dem Projekt beteiligen. Die Eröffnung des ersten Wegs ist für den 12. November 2006 im Hof des Leopold-städter Tempels geplant und wird zusammen mit ESRA gestaltet werden.
WEB-TIPP: www.steinedererinnerung.net