Er war der Erste, der den Titel eines Schachweltmeisters trug – den er acht Jahre lang verteidigte. Der Aufstieg des Wilhelm Steinitz vom Kaffeehausspieler zum Begründer der modernen Schachtheorie.
Von Anatol Vitouch
Kurz vor Ende seines Lebens hegte Wilhelm Steinitz noch den Plan, Gott zu einer Partie Schach herauszufordern. Als ihn jemand fragte, ob es sich dabei nicht doch um ein ungleiches Kräftemessen handle, soll Steinitz erwidert haben: „Nu, so werde ich ihm einen Bauern vorgeben, dann hat er eine Chance.“
Im Allgemeinen wird diese Anekdote als Beleg für die angegriffene geistige Gesundheit des ersten anerkannten Schachweltmeisters vorgebracht, der einige Zeit später verarmt in einer New Yorker Nervenheilanstalt starb. Vielleicht hatte Steinitz sich aber auch in der Not seinen spezifisch jüdischen Sinn für Humor bewahrt.
Schon ein halbes Jahrhundert zuvor stellte er diesen bei einem Zwischenfall in einem Wiener Schachcafé unter Beweis: Als er sich während einer Partie vom Geräuschpegel am Nebentisch gestört fühlte, bat Steinitz sich in herrischem Tonfall Ruhe aus. „Ja, wissen Sie denn nicht, wer ich bin, junger Mann?“, antwortete der Gescholtene empört. „Natürlich weiß ich das“, replizierte Steinitz, „sie sind der Epstein von der Börse. Aber hier bin ich der Epstein!“
Für dieses Selbstvertrauen hatte der junge Schachmeister allerdings Gründe. Geboren 1836 in Prag, als neuntes von dreizehn Kindern des Schneiders Josef Salamon Steinitz und dessen Frau Anna, galt er schon als Jugendlicher als einer der besten Schachspieler seiner Heimat. Nach Wien kam er zunächst, um Mathematik zu studieren. Tatsächlich aber war er bald vornehmlich in den Wiener Schachcafés zu finden und stieg dort rasch zum führenden Spieler der Stadt auf.
Damals war gerade jene lebendige Wiener Kaffeehaus-Kultur im Entstehen, die heute fast nur noch als Touristenattraktion fortlebt. Um den Preis einer kleinen Schale Kaffee konnte sich jedermann Zutritt zu einer Art Club verschaffen, in dem stundenlang gelesen, diskutiert und auch gespielt wurde – neben diversen Kartenspielen und dem Billard vorwiegend Schach.
Dass die Anekdoten über Steinitz ganz ähnlich klingen, wie etwa solche über den jüdischen Wiener Kaffeehausliteraten Anton Kuh, ist dabei kein Zufall: Kaffeehausliterat und Kaffeehausschachspieler waren zwei eng verwandte Arten derselben Spezies von Intellektuellen, die Wien für die Dauer einiger Jahrzehnte jenes kulturelle Profil verliehen, von dessen Glanz es in gewisser Weise noch heute zehrt. Und es waren zumeist Zuwanderer aus allen Ecken der K.u.k.-Monarchie – oft waren sie jüdischer Herkunft –, die sich in Wien niederließen, um hier ihr Glück zu versuchen.
Bis zur Spitze
Typischerweise litten diese „Luftmenschen“ an einem lebensbedrohlichen Mangel an Geld. So ging es auch Wilhelm Steinitz, der sich in den Kopf gesetzt hatte, vom Schachspielen zu leben. Zwar hielt er sich mit Hilfe von Preisgeldern, die er bei Turnieren gewann, recht gut über Wasser, aber Steinitz wollte mehr. Deshalb übersiedelte er 1862 nach London, um dort an seinem ersten internationalen Turnier teilzunehmen, bei dem er den sechsten Platz erreichte.
In den Folgejahren spielte sich Steinitz mit Wettkampfsiegen kontinuierlich an die Spitze. Als junger Meister hatte er noch den vorherrschenden romantischen Schachstil praktiziert: wilde Figurenopfer mit dem Ziel, sich so schnell wie möglich zum gegnerischen König durchzuschlagen. Nun aber entwickelte er die Grundlagen einer neuartigen, positionellen Spielweise. Angriffe unternahm er nur noch auf Basis einer soliden Stellung, die möglichst wenig Schwächen aufweisen sollte. Steinitz formulierte Strategeme, die bis heute gelten – z.B. jenes vom schwachen Läufer, der von seinen eigenen Bauern blockiert wird.
Mit seinem revolutionären Stil, der seinen Zeitgenossen eigentümlich erschien, läutete Steinitz im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Ende der Romantik im Schach ein, die ungefähr zeitgleich auch in der Kunst nach und nach von den Vorboten der Moderne abgelöst wurde.
Steinitz erwies sich bald als nahezu unschlagbar für seine Konkurrenten. Nachdem er 1866 den bis dahin als stärksten Spieler der Welt geltenden Deutschen Adolf Anderssen in einem Wettkampf besiegt hatte, gelang es mehr als ein Vierteljahrhundert lang niemandem mehr, ihn in einem Match zu schlagen. 1886 gewann Steinitz, mittlerweile nach New York übersiedelt, einen als Championship of the World titulierten Wettkampf gegen den jüdisch-polnischen Meister Johannes Hermann Zukertort.
Von diesem Zeitpunkt an bis zu seiner Niederlage gegen den deutschen Juden Emanuel Lasker 1894 trug Steinitz den Titel eines Schachweltmeisters, den er in zahlreichen Zweikämpfen gegen die stärksten Spieler seiner Zeit verteidigte.
Schach als Serie im NU
Nicht weniger als sechs der fünfzehn Weltmeister, aus denen die 1886 mit dem Juden Wilhelm Steinitz begonnene Ahnenreihe der Schachchampions besteht, waren jüdischer Herkunft. Hinzu kommen noch mehrere jüdische WM-Herausforderer sowie unzählige jüdische Großmeister des Spiels. Grund genug für NU, jüdischen Schachgrößen eine Serie zu widmen. In ihr werden wir die wichtigsten jüdischen Schachspieler porträtieren – inklusive eines Schachrätsels.