Beide waren jüdisch, beide kehrten in den 1920er Jahren Europa den Rücken, beide zählten in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu den bedeutendsten und bahnbrechendsten (Bau-)Künstlern und Visionären. Nun werden Richard Neutra und Friedrich Kiesler mit Ausstellungen in ihrer Heimatstadt Wien gewürdigt.
Richard Neutra, geboren 1892 in Wien-Leopoldstadt als Sohn eines jüdischen Metallgießereibesitzers, studierte Architektur an der Technischen Hochschule, außerdem an der von Adolf Loos ins Leben gerufenen Bauschule, wo er in Publikationen Frank Lloyd Wright entdeckte. In dessen Architekturbüro in Chicago sollte Neutra nach seiner Auswanderung in die USA 1923 sogar kurze Zeit arbeiten, ehe er in Los Angeles die „kalifornischen Moderne“ begründete.
Doch zunächst ging der junge Wiener Architekt in der Schweiz, um seine Tuberkulose und Malaria auszuheilen, die er sich während des Kriegsdienstes bei der Artillerie im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Neutra belegte Kurse an der ETH Zürich, arbeitete im Büro des Landschaftsarchitekten Gustav Amman – und traf seine spätere Frau Dione, Cellistin und Tochter eines Architekten. Mit ihr übersiedelte Neutra nach Berlin, wo er mit dem Architekten Erich Mendelsohn an einem Wettbewerb für ein neues Geschäftszentrum in Haifa teilnahm, das allerdings nicht realisiert wurde.
Den internationalen Durchbruch schaffte der junge Baukünstler 1927 mit dem „Lovell Health House“ in Los Feliz nahe Los Angeles: Das für den Alternativmediziner Philipp Lovell entworfene Wohnhaus war eines der ersten, das in Stahlskelettbauweise errichtet wurde. An die dreihundert lichtdurchflutete Häuser stellte Neutra als „Ankerplätze der Seele“ in die kalifornische Landschaft. Der vielfach ausgezeichnete Architekt erhielt in den USA Aufträge für öffentliche Siedlungsprojekte ebenso wie für Privatdomizile, Schulen, Kranken- und Gotteshäuser. Die organische Natur war ihm Basis allen Bauens: Ein Haus, so sein Credo, sollte dem Menschen und seinen Bedürfnissen dienen und nicht einem dogmatischen Funktionalismus. Neutra gilt als Pionier nachhaltigen, ökologischen Bauens, klimatische Bedingungen bezog er ebenso in seine architektonischen Überlegungen mit ein wie das Bewusstsein, dass Wohnraum eine knappe Ressource ist.
Neutras sich zur Landschaft hin öffnende, lichtdurchflutete kalifornische Wohnhäuser gelten als Luxusdomizile, er selbst sah als seine vordringliche Aufgabe die Schaffung von leistbarem Wohnraum und gesellschaftlich relevanter Architektur.
In seiner Heimatstadt Wien wurde der Baukünstler von Weltrang lange unterschätzt. 1925 wurde ein an Frank Lloyd Wrights radikaler Avantgarde orientierter Entwurf für eine Synagoge in Hietzing zwar ausgezeichnet, aber nicht verwirklicht. Auf Einladung von Josef Frank entwarf Neutra für die Wiener Werkbundsiedlung ein kubenförmiges Haus mit großen Glasfenstern. Es sollte sein einziges in Wien realisiertes Haus bleiben.
Die letzten Lebensjahre verbrachten Neutra und seine Ehefrau in Wien. Er starb 1970, als er auf einer Vortragsreise das von ihm entworfene „Haus Kemper“ in Wuppertal besuchte, an Herzversagen.
Bewohnbarer Schwamm
Zur gleichen Zeit wie Neutra studierte auch der 1890 in Czernowitz geborene Friedrich Kiesler an der Technischen Hochschule in Wien, auch er war fasziniert von Adolf Loos und der Wiener Moderne. Kieslers künstlerische Vision als Architekt, Designer, Bühnenbildner, Künstler und Theoretiker galt „dem Ganzen“, in seinen Manifesten forderte er die Überwindung der Grenzen zwischen den Kunstgattungen und Stilen. Als „Galaxies“ sollte er später die Synthese von Malerei, Bildhauerei und Architektur bezeichnen.
Aufmerksamkeit erregte der nur 1,55 Meter große Polyartist 1923 mit seinem Bühnenbild für ein Roboterstück von Karl Čapek. Für eine Theaterausstellung im Wiener Konzerthaus entwickelte er, um die Wände nicht zu beschädigen, eine neue Präsentationsform: Die Bilder wurden an konstruktivistischen, schwarz-rot-weiß gestrichenen, hölzernen Stellwänden im Raum platziert – dieses Konzept brachte ihm eine Einladung nach New York. 1926 übersiedelte Kiesler mit seiner Frau Stephanie, die er 1920 im Wiener Stadttempel geheiratet hatte, in den Big Apple. Hier etablierte er sich als bildender Künstler, Bühnenbildner und Architekt, lehrte an der Columbia University und wurde zur Integrationsfigur der europäischen Avantgarde und der jungen US-amerikanischen Kunst.
Doch zunächst dekorierte er, um sich finanziell über Wasser zu halten, Schaufenster. Sein biomorphes „Space House“ für den Schauraum einer Möbelhandlung, in dem die Verkaufsmöbel wie in einer realen Wohnsituation präsentiert wurden, sollte als Präsentationsmodell von zahlreichen Möbelhäusern kopiert werden. 1929 entwarf Kiesler das Film-Guild-Cinema, dessen Wände und Decke für ein totales Kinoerlebnis ebenfalls zu Projektionsflächen wurden. Für eine Surrealismusausstellung im Guggenheim Museum entwarf er einen Bunker mit runden Wänden als Gallery Art of this Century, die Bilder schwebten – nicht unähnlich heutigen Flachbildschirmen – rahmenlos an Halterungen. Er entwarf den beinlosen, fliegenden Schreibtisch und „bewohnbare Skulpturen“. Und er lehnte den „Pseudofunktionalismus der Moderne“ ab und träumte stattdessen von einer neuen, einer biomorphen Architektur: „Was sind unsere Häuser mehr als Steinsärge, die aus der Erde in die Luft ragen? Wir brauchen Wohnungen, die so elastisch wie unsere Lebensfunktionen sind.“
Seine lebenslange Obsession galt seinem „Endless House“, einer Art bewohnbarem Schwamm, mit blasenförmigen Nischen, ungerader Wand und unendlichem Innenraum, dessen Modell nun, flankiert von einer Reihe anderer Arbeiten, zentrales Ausstellungsstück im Mumok ist. Das Haus, so Kieslers „Correalismus“ genannte Theorie, sollte eine zweite Haut sein und sich den Bedürfnissen der Menschen flexibel anpassen: „Architektur für das dem Leben verpflichtete Haus gibt es noch nicht. Das Endless House ist ein erster dahin gehender Versuch.“
Sein einziges ausgeführtes Gebäude wurde erst in seinem Todesjahr 1965 eröffnet: Der Jerusalemer „Shrine of the Book“ ist ein Bau von vollkommener Schönheit. „Die meisten Eigentümer wollen etwas Neues und Besseres, was Design, Farbe, Materialien und Lebensbedingungen betrifft. Aber wenn sie mit einer neuen Lösung konfrontiert werden, ziehen sie sich genau in dem Moment zurück, in dem sie ihre Unterschrift darunter setzen sollen“, sagte er einmal. „Ich fühle mich wie ein imaginärer Totempfahl aus Eisblöcken, zusammengehalten durch rotglühende Eisenstangen, eingehüllt in kreischenden Dampf. Muss ich den Auftrag fallenlassen, weil der Kompromiss zu groß ist, oder muss ich weiterkämpfen, um etwas zu retten, das meinen Grundideen mit großer Wahrscheinlichkeit kaum mehr verpflichtet ist?“ Friedrich Kiesler starb im Dezember 1965 in New York.