In seinem neuen Roman „Was Nina wusste“ rückt der israelische Schriftsteller David Grossman drei Frauen und ein Familiengeheimnis in den Mittelpunkt. Ein Gespräch über den Mut zu einem Friedensprozess im Nahen Osten.
VON MARIA STERKL (TEL AVIV)
David Grossman steht derzeit oft auf Brücken. Jeden Samstag nimmt er mit seiner Familie und anderen Demonstrierenden auf einer Autobahnbrücke Stellung, um gegen die israelische Regierung zu demonstrieren. Er weiß, dass man ihn dort erkennen und ansprechen wird, und vielleicht nicht immer auf freundliche Weise, aber seine Ideale wiegen schwerer als die Mühen der Konfrontation.
Für ihre Überzeugungen lebte auch das historische Vorbild der Heldin seines neuen Romans Was Nina wusste, die jugoslawische Partisanin Eva Panić-Nahir. Diese fesselnde Geschichte über eine komplexe Mutter-Tochter-Enkeltochter-Beziehung ist jetzt auf Deutsch erschienen.
NU: Die Heldin Ihres aktuellen Romans muss eine teuflische Entscheidung treffen: Entweder verrät Vera ihren Mann, oder sie verlässt ihre kleine Tochter. Sie entscheidet sich für den Mann. Die Tochter wird ihr das nie verzeihen, aber Vera scheint keine Schuldgefühle zu haben. Sie, als Autor, stellen sich in diesem Konflikt auf keine Seite. Warum?
Grossman: Ich muss Ihnen sagen, dass ich als Vater ganz anders gehandelt hätte als Vera. Ich hatte Probleme mit ihrer Entscheidung. Aber wenn Sie eine Figur schreiben, müssen Sie den Lesern die Chance lassen, zweifeln zu können. Und es sogar irgendwie zu genießen, nicht eindeutig zu wissen, ob sie sich zu der Figur hingezogen oder von ihr abgestoßen fühlen. Manchmal lese ich einen Roman, und ich spüre, der Autor hasst diese Figur. Das finde ich nicht richtig. Als Schriftsteller muss man einen Standpunkt einnehmen, auf dem man – wenn auch nur für ein paar Sekunden – diese Figur voll und ganz verkörpert. Später kann man sich dann ein Urteil erlauben. Ich versuche das mit jeder Figur. Ich will die Welt mit ihren Händen berühren. Denn vielleicht berühren sie die Welt ein wenig anders als ich.
Fällt es Ihnen manchmal schwer, sich in Ihre Figuren hineinzuleben?
Als ich Eine Frau flieht vor einer Nachricht schrieb, einen Roman über eine israelische Frau namens Ora, da schrieb ich schon drei Jahre lang daran und scheiterte immer noch daran, mich in Ora hineinzuleben. Irgendwann war ich richtig verzweifelt, weil ich das Gefühl hatte, der Roman entgleitet mir, also setzte ich mich hin und begann einen Brief zu schreiben: „Liebe Ora, warum bist du so? Warum bist du nur so stur, warum gibst du nicht nach?“ Und Sie werden es nicht glauben: In dem Moment wusste ich, wie dumm ich gewesen war. Weil es nicht sie war, die nachgeben sollte, sondern ich. Ich musste loslassen und zulassen, dass Ora in mich eindringt. Und als ich das plötzlich verstand, veränderte sich alles. Ora schrieb sich fast von selbst. Das Einzige, was ich tun musste, war, nicht einzugreifen.
Also waren Sie es, der stur war, nicht Ora?
Ja. Und es war so ein Vergnügen, endlich aufzugeben. Im realen Leben sind wir so versessen darauf, unsere Grenzen zu verteidigen. Wir lassen uns von niemandem vereinnahmen, uns nichts vorschreiben. Es kann aber so erfüllend sein, einfach aufzuhören zu kämpfen und sich zu erlauben, den Standpunkt eines anderen einzunehmen, vielleicht sogar den eines Gegners. Ich finde das sehr nützlich, um Probleme zu lösen – von Beziehungsproblemen bis hin zu politischen Konflikten. Für einen Moment zu verstehen, wie der Gegner das Drehbuch unseres Konflikts liest. Das macht einen nicht schwächer, und es führt auch nicht dazu, dass man plötzlich die Version des Gegners übernimmt, überhaupt nicht. Es macht nur den eigenen Bezug zur Welt reicher und tiefer. Und es hilft uns, den Konflikt zu lösen.
Sie sagen, wir sind versessen darauf, unsere Grenzen zu verteidigen. Ist das nicht verständlich, wenn Grenzen so oft verletzt werden?
Das stimmt sicher. Menschen und Gesellschaften, die verletzt wurden, wahren ihre Grenzen auf energischere Weise. Ich sehe das zwischen uns Israelis und den Palästinensern. Es gibt Mauern aus Hass und Misstrauen, die uns daran hindern, den gegnerischen Standpunkt auch nur für eine Minute zu sehen. Die Leute glauben, wenn sie sich kurz für den anderen öffnen, verlieren sie den Krieg. Und sie erzählen sich immer wieder dieselbe Geschichte über sich selbst, irgendwann glauben sie sogar die Teile davon, die gelogen sind. Sie polieren die Geschichte und drängen sie jedem Unbekannten auf, den sie zum ersten Mal sehen, in der Hoffnung auf Mitgefühl. Irgendwann ist aber vielleicht die Zeit, wo es gesünder ist, mit kritischem Blick auf die Geschichte zu schauen, die wir seit Jahrzehnten über uns selbst erzählen. Vielleicht bemerken wir dann, dass sie zu unserem Gefängnis geworden ist.
Wie befreit man sich aus diesem Gefängnis?
Leicht ist es nicht. Ich denke an einen Satz, den Veras Tochter in dem Roman sagt. Als sie plötzlich anfängt, ein wenig Mitgefühl für ihre Mutter zu empfinden, zum ersten Mal in ihrem Leben, sagt sie: „Was passiert da? Höre ich jetzt auf, sie zu hassen? Und wer bin ich eigentlich, ohne diesen Hass auf meine Mutter?“
Was könnte Israelis und Palästinensern helfen, den Gegenstandpunkt zu sehen?
Es braucht mutige Menschen an der Spitze, auf beiden Seiten. In traumatisierten Gesellschaften wie jener der Palästinenser und der Israelis, da braucht es jemanden, der uns ständig dran erinnert, dass wir nicht dazu verdammt sind, mit dem Schwert zu leben und durchs Schwert zu sterben. In Israel hatten wir solche Staatsmänner nie, und als wir einen hatten, (den früheren Premierminister) Jitzchak Rabin, wurde er umgebracht. Auf dem Weg in Richtung Frieden wird es immer Versuche geben, den noch jungen Frieden zu töten. Weil Frieden eben Kompromisse erfordert, und viele empfinden diese Kompromisse als erniedrigend und verletzend.
Wie sollte dieser Frieden aussehen?
Ich meine keinen Hollywoodfrieden, in dem wir und die Palästinenser Hand in Hand gen Sonnenuntergang spazieren, nein. Es wird ein misstrauischer Friede sein. Einer, in dem jede Seite ständig die andere beschuldigt: „Du hast mich betrogen, du hast diesen und jenen Punkt des Übereinkommens nicht erfüllt!“ Solange aber die beiden Regierungen entschieden genug sind, werden diese lauten Stimmen weniger laut sein als die, die für den Frieden arbeiten. Wir brauchen solche Arbeiter für den Frieden. Menschen, die verstehen, wie stark Frieden eine Gesellschaft verändern kann und wie vergiftet wir schon sind durch den vielen Krieg.
In Ihrem Roman fällt der Satz: „Auch was nur beinahe passiert wäre, ist Teil der Wirklichkeit.“ Auf Israel umgelegt, könnte man sagen: Jitzchak Rabin hat nur beinahe nicht überlebt – und auch das ist Teil der heutigen Realität. Ist es dieser Teil der Wirklichkeit, der nun jeden Samstag in ganz Israel demonstrieren geht?
Vielleicht ja. Und ich finde es so wichtig, dass wir diese Proteste haben. Meine Frau, meine Kinder, die Enkeltöchter und ich nehmen auch daran teil. Ich weigere mich zu glauben, dass unser heutiges Leben das Leben ist, das für uns bestimmt ist. Ist ein Leben in Angst und Verzweiflung denn alles, was auf uns wartet? Nein, da ist noch viel mehr möglich. Es wird sich aber nie wirklich etwas ändern, wenn wir unsere problematische Beziehung mit den Palästinensern nicht lösen. Die Leute vergessen das gern, aber für mich ist die Besatzung der Palästinensergebiete die Wurzel allen Übels.
Einige Ihrer Co-Demonstranten würden Ihnen hier womöglich widersprechen und sagen: Wir haben in der Krise unsere Jobs verloren, können die Miete nicht mehr bezahlen, unser Regierungschef ist korrupt, deshalb gehen wir auf die Straße – was soll die Besatzung damit zu tun haben?
Eine Gesellschaft, die eine andere in Besatzung hält, entwickelt eine Gabe zu leugnen, dass sie davon profitiert, auch wirtschaftlich. Vermutlich wären die meisten Menschen schockiert, wenn Sie von ihnen verlangen würden, jemanden unter furchtbaren Bedingungen 53 Stunden lang im Keller ihres Hauses einzusperren. Sie könnten es mit ihrem Begriff von Menschlichkeit nicht vereinbaren. Aber sie akzeptieren es, ohne darüber nachzudenken, ein ganzes Volk von vier Millionen 53 Jahre lang in den Keller zu sperren. Ich bestehe darauf, meine israelischen Mitbürger auch weiterhin daran zu erinnern.
Wenn die Besatzung endet, die Palästinenser ihren Staat bekommen – was passiert dann mit den jüdischen Siedlungen im Westjordanland?
Ja, viele dieser Siedlungen wurden ganz bewusst so platziert, dass sie eine normale Grenzziehung zwischen uns und Palästina unmöglich machen. Aber die Zahl der Siedler ist keine Rechtfertigung, eine Zwei-Staaten-Lösung nicht zu versuchen. Die Siedlungen, die weiter weg sind, wird man räumen müssen. Aber die meisten Siedlungen, und ich sage das mit großem Bedauern, wird man nicht räumen können. Sie werden in irgendeiner Form annektiert werden, und die Palästinenser werden dafür entschädigt werden.
Ist der Friedenspakt zwischen Israel und den Emiraten und Bahrein ein Wendepunkt?
Ich denke schon. Die Führer der Emirate haben verstanden, dass Israel ein wichtiger Teil ihrer Sicherheitspolitik ist. Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass sie jetzt nicht auf Israel zugehen, weil sie Israel lieben – ganz und gar nicht. Sie denken einfach realistisch und wissen, Israel ist wichtig für das Bollwerk gegen den Iran, und darüber hinaus ein gutes Vehikel, um an den US-Präsidenten heranzukommen. Andererseits ist der Pakt auch problematisch, weil er die Palästinenser ignoriert. Die Palästinenser sind deswegen zu Recht wütend. Ich hoffe trotzdem, dass sie es zum Anlass nehmen, auf den Karren Richtung Frieden zu springen und klar zu sagen, was sie fordern – und nicht nur zu betonen, was sie ablehnen.
Teilen Sie die Befürchtung, dass es bei dem Pakt primär um Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen geht – und man die palästinensischen Anliegen unter den Tisch fallen lässt?
Sollte das der Fall sein, ist der Pakt gefährlich. Man kann die Besatzung eine Weile ignorieren, aber sie ist eine Zeitbombe. Ich neige aber zur Ansicht, dass weitere Friedensschlüsse mit arabischen Staaten auch den Druck auf Israel erhöhen, sich der palästinensischen Frage zu widmen.
Apropos Friedensschluss. Die Mutter-Tochter-Beziehungen in Ihrem Roman sind kalt und distanziert. Schließlich wird der Tochter Veras Demenz diagnostiziert. Und dieser schleichende Erinnerungsverlust ist es, der den Beteiligten plötzlich erlaubt, sich gemeinsam zu erinnern.
Demenz ist eine furchtbare Krankheit, wirklich furchtbar, und ich habe einen Verwandten, der daran leidet – aber sie hat einen Vorteil. Man kann das Bewusstsein loslassen. Tatsachen sind nicht mehr in einer zwingenden Folge aneinandergekettet, die Wirklichkeit wird fluide. Natürlich ist das anfangs schrecklich beängstigend. Aber vielleicht gibt es allmählich diesen Punkt, an dem man sich befreien kann, von der Scheinbarkeit des wirklichen Lebens, auch von Verbindungen mit anderen Menschen.
„Man ist erst dann wirklich erwachsen, wenn man akzeptiert, dass die Eltern ein eigenes Seelenleben haben“, heißt es an einer Stelle im Roman.
Ich glaube, wir neigen dazu, unseren Eltern das Privileg ihrer eigenen Psychologie zu versagen. So, als hätten wir das ganze Seelenleben und verdienten es, in einer sehr nuancierten Weise behandelt zu werden – aber umgekehrt fehlt uns manchmal die Geduld, das auch den Eltern zuzugestehen. Und zu versuchen nachzufühlen, warum sie damals mit dem Zeitgeist kollaboriert haben, der aus heutiger Sicht so falsch und dumm ist. Es liegt viel Reife darin zu erkennen: Auch die Mutter hatte eine Mutter. Und sogar Mutters Mutter hatte eine Mutter.
Manche erkennen das, wenn sie selbst Eltern werden.
Als mein ältester Sohn Yonatan geboren wurde, verstand ich meine Eltern plötzlich auf eine andere Weise. Ich verstand, dass man den Wunsch, ein wirklich guter Vater zu sein, praktisch nicht erfüllen kann. Dass du immer nur so glücklich sein kannst wie dein am wenigsten glückliches Kind, und zugleich kannst du es nicht beschützen. Das ist sehr schwer zu akzeptieren. Du siehst eines deiner inneren Organe ganz nackt in einer Welt herumspazieren, die so brutal ist und so dumm. Und du bist absolut unfähig, es vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Was können wir sagen, um diesem Gespräch ein tröstliches Ende zu geben?
Ich glaube, ein optimistischer Gedanke ist, dass wir immer noch Kinder in diese Welt setzen, dass wir immer noch Bücher schreiben. Dass wir in der Regel anderen Menschen helfen möchten. Und dass wir uns weiterhin weigern, uns der Tyrannei bestimmter Regime zu unterwerfen.
Das Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung der Tageszeitung Der Standard.
David Grossman
Was Nina wusste
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hanser Verlag, München 2020
352 S., EUR 25,70