Weil ich Jude war

Die jüdische Identität Sigmund Freuds wurde von der Forschung lange vernachlässigt. Doch seine Familiengeschichte, sein Umfeld und die ersten antijüdischen Ausschreitungen in Wien um die Jahrhundertwende beeinflussten auch das Werk Freuds.
Von Inge Scholz-Strasser

Sigmund Freud schreibt 1926 anlässlich seines siebzigsten Geburtstags an die Mitglieder der Loge B’nai B’rith einen für seine Verhältnisse ungewöhnlich langen und sehr persönlichen Brief, der gleichsam als Motto für den folgenden Beitrag stehen kann: „Dass Sie (die Mitglieder von B’nai B’rith) Juden sind, konnte mir nur erwünscht sein, denn ich war selbst Jude, und es war mir immer nicht nur unwürdig, sondern direkt unsinnig erschienen, es zu verleugnen. Was mich ans Judentum band, war – ich bin schuldig, es zu bekennen – nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den ‚ethisch‘ genannten Forderungen der menschlichen Kultur. Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden so unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen ließen, ebenso wie die klare Bewusstheit der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion. Und dazu kam bald die Einsicht, dass ich nur meiner jüdischen Natur die zwei Eigenschaften verdankte, die mir auf meinem schwierigen Lebensweg unerlässlich geworden waren. Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Majorität‘ zu verzichten.“ (Sigmund Freud: Briefe 1873-1939. Zweite, erw. Auflage. Frankfurt/Main: S. Fischer 1968, S. 381f).

Mit diesen Sätzen umreißt Freud ein brisantes Spannungsfeld, nämlich sein Verhältnis zum Judentum, das vor allem in den letzten Jahren eine Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigte. Drei Hauptaspekte scheinen mir dabei verfolgenswert: erstens die Betrachtung der Biografie Freuds („weil ich Jude war“). Seine expliziten Äußerungen zur jüdischen Tradition („denn ich war immer ein Ungläubiger“ und „frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten“) reflektieren seine Erfahrungen im politischen und akademischen Kontext seiner Berufslaufbahn und bilden die Grundlage für sein eigenes internalisiertes Verhältnis zu seinen religiösen und sozialhistorischen Wurzeln. Im Zusammenhang damit ist der sozialhistorische und politische Kontext, in dem Freud in Wien lebte, zu sehen, der den zweiten Bezugspunkt bildet. Schließlich ist ein dritter wesentlicher Bezugsrahmen Freuds Thematisierung des Judentums in seinem Werk, besonders die späte Auseinandersetzung Freuds mit der Figur und der Bedeutung des Moses.

„Ich bin am 6. Mai 1856 zu Freiberg in Mähren geboren, einem kleinen Städtchen der heutigen Tschechoslowakei. Meine Eltern waren Juden, auch ich bin Jude geblieben.“ (Sigmund Freud: Selbstdarstellung. In: Gesammelte Werke XIV. Frankfurt/Main: S. Fischer 1972, S. 34).

1860 kamen der Vater Jakob Freud, seine Frau Amalia und der Sohn Sigmund mit einer Welle jüdischer Zuwanderer nach Wien. Sigmund Freud zog mit seinen Eltern in den 2. Bezirk, einem traditionell jüdischen Wohnbezirk, der umgangssprachlich Mazzesinsel genannt wurde. Freud ist der älteste männliche Nachfolger in der Geschwisterreihe, auf ihn konzentrieren sich die Aufstiegs- und Erfolgswünsche der Eltern.

Maßgeblich für die intellektuelle Entwicklung Freuds war sicherlich das Umfeld des Assimilationsjudentums, mit klarer Aufstiegserwartung und ambivalentem Verhältnis zur jüdischen Orthodoxie. Paradigmatisch ist dabei die Geschichte mit der Pelzmütze: „Ich mochte zehn oder zwölf Jahre gewesen sein, als mein Vater begann, mich auf seine Spaziergänge mitzunehmen und mir in Gesprächen seine Ansichten über die Dinge dieser Welt zu eröffnen. So erzählte er mir einmal, um mir zu zeigen, in wie viel bessere Zeiten ich gekommen sei als er: Als ich ein junger Mensch war, bin ich in deinem Geburtsort am Samstag in der Straße spazieren gegangen, schön gekleidet, mit einer neuen Pelzmütze auf dem Kopf. Da kommt ein Christ daher, haut mir mit einem Schlag die Mütze in den Kot, und ruft dabei: Jud, herunter vom Trottoir! „Und was hast du getan?“ Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben, war die gelassene Antwort. Das schien mir nicht heldenhaft von dem großen starken Mann, der mich Kleinen an der Hand führte.“ (Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Gesammelte Werke II/III. Frankfurt/Main: S. Fischer 1976, S. 202f).

Das Verhalten seines Vaters beschämte den Knaben so sehr, dass er sich den kathargischen semitischen Feldherrn Hannibal zum Lieblingshelden seiner Gymnasialzeit erkor. Mit dieser Geschichte verweist Freud, neben vielen oft gedeuteten Aspekten, nahezu nostalgisch auf das Ritual, schön gekleidet mit einer neuen Mütze in orthodoxer Tradition am Samstag spazieren zu gehen. Sie drückt aber auch Freuds Ambivalenz gegenüber dem orthodoxen Judentum seines Vaters aus. Gleichzeitig thematisiert Freud damit die religiösen und sozialen Spannungen, die sich in solchen Gewaltakten entluden und ihn während seines Studiums in Wien in Form der heftigen antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien einholten. Bereits 1877 wurden jüdische Mitglieder aus deutschnationalen Burschenschaften ausgeschlossen. Der Hintergrund waren massive sozioökomische und soziokulturelle Wandlungen: Wien vollzog in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wandlung zur modernen Großstadt. Der groß- und kleinbürgerlich-jüdische Bevölkerungsanteil stand unter dem Druck, sich zu assimilieren, um auch wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten wahrnehmen zu können: Juden erhielten durch die Verfassung von 1867 die vollen Bürgerrechte. Nicht konvertierten Juden blieb jedoch weiterhin die höhere Beamtenlaufbahn (und damit auch eine Universitätskarriere) verschlossen, wodurch viele von ihnen sich den freien Berufen (Arzt, Jurist, Journalist) zuwandten.

In diesem Spannungsfeld positioniert sich die für Freud spezifische intellektuelle Biografie: Er lehnt jegliche religiöse Bindung ab, identifiziert sich aber gleichzeitig in kultureller und intellektueller Hinsicht mit dem Judentum: „Die Universität, die ich 1873 bezog, brachte mir zunächst einige fühlbare Enttäuschungen. Vor allem traf mich die Zumutung, dass ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. Das Erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen, warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schämen sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel Bedauern.“ (Sigmund Freud: Selbstdarstellung, S. 34).

Hier formuliert sich in nucleo jene Auseinandersetzung, die Freud zeitlebens in seinem gesellschaftlichen Verhalten bestimmen wird: Er fühlt sich ausgestoßen, nicht anerkannt, zurückgewiesen. Dieser Prozess ist unauflösbar mit einem mehrfachen Paradigmenwechsel, den Freud im Laufe seiner medizinischen Ausbildung vollzog, verbunden.

Freuds wissenschaftliche Ausbildung erfolgte im Kontext einer innovations- und experimentierfreudigen naturwissenschaftlich konturierten Psychiatrie, der er zunächst verpflichtet ist. Später erkennt er – nicht zuletzt nach seinen Erfahrungen in Paris – eine völlig neue Ursachenzuschreibung psychischer Krankheiten. Er erlebt – zurückgekehrt nach Wien – wie seine Deutungsversuche als ein Verlassen des naturwissenschaftlichen Paradigmas missverstanden und abgelehnt werden. Diese Situation, die eine der tief greifenden Krisen in der Wissenschaftsbiografie Freuds darstellt, eröffnet ihm gleichzeitig die Möglichkeit, auf eine soziale Gruppe zuzugehen, die eng mit seiner soziokulturellen Herkunft verknüpft ist: der jüdischen Loge „B’nai B’rith.

In dieser Gruppe erfährt er soziale und intellektuelle Einbettung in der Zeit der akademischen Isolation. In der Folge sammelt Freud eine eigene Gruppe, die Mittwochabendgesellschaft um sich, um hier die Erweiterung, Ausformulierung und Modifikation psychoanalytischen Gedankenguts in Rede und Wechselrede zu verfolgen. So sagt er einmal in diesem Zusammenhang: „Die Psychoanalyse ist ein vorzüglich geselliges Unternehmen.“ Unter den Rahmenbedingungen konstanter intellektueller Neugierde, gekoppelt mit Behinderung in der akademischen Karriere und einer um 1900 mehr schlecht als recht gehenden Arztpraxis, erfolgt der Um- und Ausbau der psychoanalytischen Theorie sowie das Ausprobieren von unkonventionellen Therapietechniken, an deren Ende das psychoanalytische Settings in der Form der „talking cure“ steht.

Die Entwicklung der individuellen und wissenschaftlichen Biografie Freuds erschließt sich aber erst vollständig unter Einbeziehung einer Schlüsselfigur des alten Testaments, des Moses: Mit „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (Erstausgabe bei Allert de Lange, Amsterdam 1939) versucht Freud am Ende seines Lebens noch einmal, den Identitätsbegriff im Judentum zu bündeln. Die Figur des Moses des Michelangelo beschäftigte Freud seit seiner ersten Romreise 1901. Entgegen der biblischen Überlieferung, nach der Moses die Gesetzestafeln nach seinem Abstieg vom Berg Sinai zerschmetterte, aus Zorn darüber, dass sein Volk während seiner Abwesenheit erneut die Götzen angebetet hatte, bezähmt und überwindet der Moses des Michelangelo bei Freud seinen Zorn, indem er die Tafeln vor dem Zerbrechen schützt und sie festhält. „Damit hat er [Michelangelo] etwas Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.“ (Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo. In: Gesammelte Werke X. Frankfurt/Main: S. Fischer 1981, S. 198).

Hier setzt, folgt man der gängigen Deutung, nun zunächst die Identifizierung mit Moses als Repräsentant einer Triebsublimierung ein, die ein neues Licht auf die oben zitierte Pelzmützengeschichte wirft: Dessen Verhalten von damals erscheint nun nicht mehr als Zeichen von Schwäche und Wehrlosigkeit, sondern im Gegenteil als Ausdruck von Beherrschtheit, Stolz und Überlegtheit. Am Ende seines Lebens wird er schreiben, der Moses habe ihn „gequält wie ein unerlöster Geist“.

Und so widmet sich Freud in seinem letzten Lebensjahrzehnt dem zentralen mythischen Bestandteil des Judentums, dem Mann Moses und der monotheistischen Religion. Moses, der Religionsstifter und Gesetzesgeber, der sein Volk ins gelobte Land führte, und der, folgt man Freud, ermordet wurde, weil er seinem Volk zu viel Triebverzicht abverlangte. Freud begann die Moses-Arbeit im Sommer 1934, unter dem Eindruck des wachsenden Antisemitismus in Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers. Im Zentrum der Moses-Arbeit steht das Problem der Tradition und damit der Identität, insbesondere der jüdischen, und vor allem im dritten Abschnitt die Frage: Wie sind die Juden zu dem geworden, was sie sind, was ist eigentlich ein Jude?

In dem eingangs zitierten Brief gibt er eine erste Deutung: „[…] viele dunkle Gefühlsmächte, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion.“ Das Heimliche ist aber zugleich das Unheimliche, das Verdrängte, das in Zusammenhang mit Schuld und Triebverzicht die hohen ethischen Forderungen und Vorschriften insbesondere der jüdischen Religion implementiert. Die Moses-Arbeit, geschrieben im hohen Alter, in einer Zeit, in der nicht nur Freuds eigenes Leben, sondern das aller Juden gefährdet war, ist sein Vermächtnis, das erst im Exil seine Drucklegung bei Allert de Lange in Amsterdam fand.

Der Text ist eine gekürzte Fassung des Vortrags, der im Juni 1999 vor dem Consistoire Paris von der Autorin gehalten wurde.

 

 

* Inge Scholz-Strasser ist seit 1987 Generalsekretärin der Sigmund-Freud-Gesellschaft und leitet als Direktorin seit 1996 das Sigmund-F reud-Museum in der Berggasse 19. Neben ihrer internationalen Vortragstätigkeit und Mitarbeit an Ausstellungen h a t sie zahlreiche Publikationen zur Geschichte Wiens und zur Psychoanalyse herausgegebensowie Beiträge zu diesen Themen verfasst.

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