Der Versuch, eine jüdische Identität nur durch positive Inhalte zu leben, ist weniger leicht als es klingt.
Wenn man rechte Österreicher fragt, was eigentlich ihre Identität ausmacht, die sie mit so viel Kraft verteidigen, so bekommt man meist all das zu hören, was sie nicht sind und nicht tun: Wir sind nicht faul und unzuverlässig, wir wollen keinen Gottesstaat, wir unterdrücken unsere Frauen nicht. Identität definiert sich hier vor allem durch Abgrenzung zu anderen und Betonung des Negativen.
Seit ich als Jugendlicher begonnen habe, mich mit der Frage meiner Identität auseinanderzusetzen, habe ich genau das versucht zu vermeiden. Wer ich bin, soll sich durch positive Werte und Traditionen definieren und nicht über die Abgrenzung von anderen, die leicht in Verachtung und sogar Hass umschlagen kann. Und so wie viele andere säkular aufgewachsene Juden wollte ich mein Judentum über die schönen Seiten der Tradition erleben und nicht unbedingt über Verzicht und Verbote.
Doch gerade beim Judentum ist dieser zeitgeistgerechte Vorsatz nicht leicht umzusetzen. Schließlich bilden die 613 Gebote und Verbote den Kern der Religion, und von denen sind die Mehrzahl Verbote, nämlich 365. Die Speisegesetze der Kaschrut, die Regeln für den Schabbat, die Traditionen der meisten Feiertage beruhen auf jenen Handlungen, die man als frommer Jude nicht setzen darf. Und das berührt auch das Leben von traditionellen Juden, die es mit dem Gesetz nicht so genau nehmen. Natürlich kann man Pessach feiern, indem man eine Woche Mazzes isst. Aber Sinn ergibt diese Tradition erst dann, wenn man auf Brot und Teigwaren in dieser Zeit verzichtet. Und wer die Stimmung eines echten Schabbats erleben will, der muss an diesem Tag gewisse Dinge unterlassen. Ohne Fasten ist Jom Kippur ein Tag wie jeder anderer.
Und vergessen wir nicht: Judentum ist eine Religion und eine Kultur, die von Anfang an auf eine Abgrenzung gegenüber anderen Völkern ausgerichtet war. Das war historisch und soziologisch gesehen der Zweck der Speisegesetze: Wer nur koscher essen darf, kann nicht mit anderen speisen. Und gemeinsame Mahlzeiten waren und sind die Grundlage für Beziehungen. Auch heute noch gilt: Je orthodoxer ein jüdisches Leben, desto stärker wird die gesellschaftliche Abschottung.
Und auch in einem nicht durch Religion geprägten jüdischen Leben ist eine gewisse Abgrenzung stets präsent. Das Gefühl, anders zu sein, ist ein entscheidender Bestandteil jeder jüdischen Identität. Meine erste Erinnerung in dieser Hinsicht geht zurück auf meine Zeit in der öffentlichen Volksschule in Wien, als ich beim Morgengebet die Hände nicht faltete und mich dafür nicht schämte und im Dezember stolz erklärte, dass das Christkindl zu mir nicht kommen wird, weil wir nicht Weihnachten feiern. Weihnachten nicht zu feiern war das Entscheidende, denn Chanukka, das wusste ich damals schon, war kein echter Ersatz für das größte christliche Fest.
Ich bleibe dennoch dabei, Identität als positive Erfahrung im mehrfachen Sinn anzustreben. In meiner Familie leben wir ein liberales, progressives Judentum, das wir mit Inhalten zu füllen versuchen – Schabbat-Kerzen, Feiertage, jüdische Kultur und bei meiner Tochter jiddische Musik –, ohne uns im Leben einzuschränken. Fasten zu Jom Kippur und Mehlverzicht zu Pessach sind die Ausnahmen. Und wir grenzen uns von der nichtjüdischen Welt nicht ab, weder von den Menschen noch von den Werten oder Traditionen. Diese Art der Identität entspricht einem modernen, aufgeklärten Ideal. Ich denke, das kann gelingen. Aber so wie Tewje der Milchmann in Anatevka macht uns das auch zu Geigern auf dem Dach. Und die können abstürzen.