Es ist gar nicht so einfach, einen übergeordneten Begriff für die Musik von unter dem Naziregime verfolgten Komponisten bzw. Musikern zu finden. Vertriebene Musik, Musik im Exil, verbotene Musik? Vertrieben oder ermordet wurden Menschen. Manche von ihnen hinterließen bloß Spuren ihres musikalischen Könnens. Viele von ihnen warten noch immer auf Anerkennung. Und es waren nicht ausschließlich rassistische Verfolgungen, die viele in die Emigration zwangen.
Von Peter Weinberger
Opern, Operetten, Kammermusik, Symphonien, Chansons, Wiener Lieder, Schlager: Vertriebene Musik kann sich gefällig anhören oder aber auch fast transzendentale Momente vermitteln. Sie bedient sich spätromantischer Stilmittel, der Zwölftontechnik, des Jazz, spielt mit Tango- Rhythmen und Elementen aus der „Volksmusik“. Sie kann Gewohntes widerspiegeln oder aber auch in Erinnerungen an Verlorenes schwelgen.
Das Ende der silbernen Operettenära
Operetten waren bis zum Anschluss das Unterhaltungsmedium einer letztlich doch nur pseudobürgerlichen Wiener Bevölkerungsschicht. Mit Ausnahme von Franz Lehár (Die lustige Witwe, Der Graf von Luxemburg, Land des Lächelns, Der Zarewitsch, Guiditta), der es offensichtlich genoss, von Nazigrößen hofiert zu werden und dessen jüdische Frau 1938 zur „Ehrenarierin“ erklärt worden war, hatten die meisten der wohlbekannten Operettenkomponisten Österreich schleunigst zu verlassen.
Die nach 1945 versuchte Wiedergeburt der Operette erwies sich im Land des süffisanten Lächelns – wie die wiederentdeckten Steireranzüge und Dirndln – lediglich als eine Intarsie in der Staatsideologie vom ersten Opfer des Nationalsozialismus: Der Operette mangelte es nicht nur an Komponisten, sondern auch am Verständnis für die Welt von gestern. Das Musical trat seinen Siegeszug an.
Emmerich Kálmán (eigentlich: Imre Koppstein) emigrierte 1938 über Zürich nach Paris und von dort 1940 in die Vereinigten Staaten. Nach Österreich kehrte er erst 1949 zurück, wo er sich mit einer Pressekampagne herumschlagen musste, die darauf abzielte, seine Villa in Wien zu enteignen. Seine Werke Die Csárdásfürstin, Gräfin Mariza und Die Zirkusprinzessin machten ihn zu einem der berühmtesten Operettenkomponisten.
Ralph Benatzky (eigentlich Rudolph Josef František Benatzky) übersiedelte zeitgerecht Anfang der 30er-Jahre in die Schweiz. Bereits 1924 hatte er das „hakenkreuzlerische Leben“ in seinem Tagebuch folgendermaßen kommentiert: „‚Urgermanen‘ mit Wampe und Nackenspeck, mit rückwärts rasiertem und oben hahnenkammartig durch eine Scheitelfrisur gekrönte Schädel, […] arischarrogant, provinzlerisch gackernd…“ 1948 ließ er sich nach einer langen Emigrationszeit in den USA endgültig in Zürich nieder. Für das Große Schauspielhaus komponierte Benatzky zwischen 1928 und 1930 die Trilogie der sogenannten „historischen Revueoperetten“, auf denen sein Weltruhm basiert: Casanova, Die drei Musketiere und Im weißen Rößl.
Wiener Lieder, Chansons und Schlager
Chansons und Schlager waren stets Teil der musikalischen Identität aller gesellschaftlichen Schichten, stellten einen Teil jener Volkskunst dar, die die Nationalsozialisten in eine einfallslose Blut- und Bodenmythologie zu pressen versuchten. Verboten wurden Lieder, die jeder kannte und mitsingen konnte, bloß weil der betreffende Komponist ein Jude war. Viele von ihnen, die mit Gebrauchsmusik Zugang zu allen gefunden hatten, überlebten nicht bzw. mussten emigrieren – in ein Land, aus dem die wenigsten zurückkehrten.
Gustav Pick verbrachte seine Kindheit im jüdischen Ghetto von Rechnitz. Sein Fiakerlied, von Girardi erstmals vorgetragen, mutierte infolge der Popularisierung durch die Wiener Schrammeln zur eigentlichen Hymne Wiens. Während der NS-Zeit waren Picks Werke wegen seiner jüdischen Herkunft verboten.
Hermann Leopoldi (eigentlich Hersch Kohn, geb. 1888 in Wien) wurde zunächst ins KZ Dachau eingeliefert und danach ins KZ Buchenwald überstellt („Buchenwaldlied“). Seiner (ersten) Frau gelang es, für ihn ein Affidavit zu schicken. In New York trat er u.a. in „Eberhardts Café Grinzing“ auf, wo er auch seine spätere Partnerin Helly Möslein kennenlernte. 1947 kehrten beide nach Wien zurück. Wie alle anderen hatte Leopoldi unter Heimweh gelitten, ein Gefühl, von dem sein Lied Das Märchen vom Bernhardiner („Jüngst trafen sich zwei Dackel, it happened in Washington Heights, mit fröhlichen Gewackel begrüßten sie sich allseits…“) in transponierter Form erzählt. Seine bekanntesten Chansons sind: Ich bin a stiller Zecher, Schön ist so ein Ringelspiel, Powidltatschkerln und In einem kleinen Café in Hernals.
Fritz Spielmann (geb. 1906 in Wien) emigrierte 1938 über Paris in die USA, wo er ab 1944 vor allem als Filmkomponist große Erfolge errang. Einige seiner Kompositionen, interpretiert von Stars wie Bing Crosby, Doris Day, Nat King Cole und Elvis Presley, erreichten weltweite Bekanntheit. Bekannteste (Wiener) Schlager: I muaß an Doppelgänger hab’n, Schinkenfleckerln.
Walter Jurmann (geb. 1903 in Wien) flüchtete 1933 nach Paris, 1934 wurde ihm dort ein Siebenjahresvertrag in Hollywood angeboten. In Hollywood schrieb er u.a. den Song Cosí Cosa für den Marx- Brothers-Film A Night at the Opera, ein Musikstück, das viele noch immer für ein echtes neapolitanisches Volkslied halten. Seine größten Erfolge in der Filmindustrie waren Die Meuterei auf der Bounty (1935, mit Marlon Brando) und San Francisco (1936, mit Clark Gable und Spencer Tracy). Berühmteste Filmmusik: San Francisco. Dieses Chanson, unzählige Male von Judy Garland vorgetragen, wird wohl für immer ein weltweiter Hit bleiben.
Richard Wagners Vermächtnis
„Als neuesten Witz erzählte Stern: H. eifere seinem Liebling Wagner als Componist nach; er habe eine Operntrilogie geschaffen: Der nie gelungene Ring: 1. Niefried, 2. Die Willkür, 3. Ghettodämmerung.“ Viktor Klemperer, Tagebücher, 1937
Richard Wagners triefender Antisemitismus (Das Judenthum in der Musik, 1850) hat nicht nur Hitler als Ideologie gedient, sondern auch die musikalische Welt des 20. Jahrhunderts in zwei voneinander getrennte Galaxien gespalten. Wagners Siegfried Idyll schien auf viele Komponisten um die Jahrhundertwende wie ein Aufbruch in eine neue Art von Romantik zu wirken. Antiwagnerianer wie z. B. Johannes Brahms wurden in der Folge mitunter als Philosemiten beschimpft. Erst der Erste Weltkrieg gab den Anstoß für neue Kunst- und Kulturformen, Formen, die Jahre später von den Nazis als „entartete Kunst“ bezeichnet wurden. So gesehen diente nicht nur der Antisemitismus Wagner’scher Prägung der Vertreibung und Auslöschung ernster zeitgenössischer Musik, sondern auch „Entartung“ als Argument.
Musik aus Theresienstadt (Viktor Ullmann, Gideon Klein, Hans Krasa), ein ganz spezielles Kapitel im Kontext vertriebener Musik, blieb nach 1945 für viele Jahre vergessen. So hatte Ullmann den letzten Satz seines dritten Streichquartetts nur eine Woche vor dem Abtransport nach Auschwitz beendet – einen Satz, der das Bevorstehende akustisch erahnen lässt und an Dichtheit kaum zu überbieten ist. Aber auch jene, die es in die Emigration geschafft hatten (z. B. Erich Wolfgang Korngold, Arnold Schönberg, Ernst Toch, Erich Zeisl und andere), gerieten in bewusst gewollte Vergessenheit. Lediglich einige politisch Laute kehrten in das Wissen der Öffentlichkeit zurück, nämlich beschimpft als Kommunisten (z. B. Hanns Eisler und Paul Dessau).
Das Loch
Das kulturelle Loch nach 1945 war gigantisch und allumfassend. Es ist bezeichnend, dass die einzigen zwei Theaterstücke, die die ersten Jahrzehnte der 2. Republik am besten charakterisieren, nämlich der Herr Karl und Der Bockerer, von (ehemaligen) Emigranten wie Carl Merz, Ulrich Becher und Peter Preses verfasst worden sind. Die liebevolle Verklärung des Salzkammerguts, tanzende Lichter und grüne Bergschatten auf dem Attersee, die 4. Symphonie von Gustav Mahler, ruhte viele Jahre hindurch in den Notenarchiven. Ungespielt.
Das Kammermusikfestival Schloss Laudon widmet sich insbesondere der Aufführung ausgesuchter Werke von unter dem Naziregime verfolgten Komponisten.
6. Kammermusikfestival Schloss Laudon
20. – 25. August 2013
www.schlosslaudonfestival.at