Kommentar von Andrea Schurian
Die ÖVP unter Karl Nehammer ist bei der Nationalratswahl im September erschreckend tief abgestürzt. Auch die SPÖ ist entgegen der selbstbewussten Vorhersage ihres Chefs, Andreas Babler, den ersten Platz zu erklimmen, auf einen historischen Tiefstand abgesackt. Nun verhandeln die beiden Wahlverlierer, wie eine Polit-Ehe möglichst zukunftsfit gestaltet werden könnte. Eher unwahrscheinlich, aber vielleicht gibt es, wenn Sie diese Chanukka-NU-Ausgabe in den Händen halten, bereits eine stabile Regierungsverpartnerung. NU-Produktionszeiten sind lang; Ende Oktober, als ich diesen Kommentar schrieb, waren rote und türkise Verhandler (m/w/) sowohl miteinander als auch mit grünen oder pinken Regierungsanwärtern, noch in Anbahnungsgespräche verstrickt. Ein Ende war nicht abzusehen, zumal sich der Alt- und vermutlich wohl auch Neukanzler zunächst auf Herbstferien statt in Koalitionsgespräche begeben hatte. Vielleicht stimmen Sie ja Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger zu, die in der ORF-Elefantenrunde vor der Wahl den anderen Parteichefs für eine faire Wahlauseinandersetzung dankte. Ich hingegen fand, wie auch viele Menschen in meinem Freundeskreis, das Herumgebrülle, das gegenseitige Niedermachen, Herabwürdigen, Ankeppeln und Verhöhnen auf Wahlveranstaltungen und in vorwahlzeitlichen TV-Debatten nur eines: furchtbar. Mitunter klang es so gruselig, als sei zum Beispiel SP-Chef Andreas Babler just bei seinem blauen Kontrahenten Herbert Kickl in die Rhetorikschule gegangen. Wäre also echt erfreulich, fänden die Parteien bei diesen Koalitionsgesprächen wieder respektvollere Töne und Lautstärken füreinander. „Ich weiß, wie man Wahlen gewinnt, ich weiß aber auch, wie man sie verliert“, grummelte der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky 1974, als sozialdemokratische Abgeordnete gegen massiven blauschwarzen Widerstand die Fristenlösung durchgesetzt hatten. Doch statt eines Stimmenverlustes kassierte Kreisky als Belohnung für seine Haltung die Absolute. Offenbar wurde geschätzt, dass man wusste, wen man warum wählen sollte. 1970, in seinem ersten Jahr, musste Kreisky noch eine von den Freiheitlichen tolerierte Minderheitsregierung basteln. Ihn schien weder zu stören, dass vier der von ihm berufenen Minister Männer mit Nazivergangenheit waren, noch, dass der blaue Klubobmann Friedrich Peter ein ehemaliger SS-Obersturmführer war, dessen Einheit rund 17.000 Juden ermordet hatte. Auch Kreiskys Wählerinnen und Wähler waren darüber nicht sonderlich irritiert, 1971, 1975 und 1979 errang er die absolute Mehrheit. Simon Wiesenthal, der gegen Ex-Nazis in der Regierung und den FPÖ-Ex-Nazi protestierte, beschimpfte Kreisky übelst und beschuldigte ihn als Nazi-Kollaborateur und Gestapo-Informant. Wiesenthal klagte, Kreisky musste die durch nichts bewiesenen Beschuldigungen zurücknehmen. Dessen ungeachtet wiederholte er in den 1980er Jahren die Beleidigungen, Wiesenthal klagte nochmals, Kreisky wurde wegen übler Nachrede zu einer bedingten Geldstrafe von 270.000 Schilling verurteilt. 1983 wählte nur noch eine relative Mehrheit rot, der kränkelnde Sonnenkönig trat zurück, der in seiner Amtszeit das mitunter erzkonservative Österreich mutig durchgelüftet, mit Frischluft und Kultur aufgepeppt, die Lodenmantelleria durch Intellektuelle ersetzt hatte. Immer wieder aber waren seine Politabenteuer eher suboptimal. So wurde in Österreich 1977 die erste palästinensische Vertretung in einem westlichen Staat eröffnet. 1980 erkannte Österreich, wiederum als erster westlicher Staat, die PLO an. Die Wiesenthal-Beleidigungen, die Berufung ehemaliger Nazis in Ministerposten, öffentlich zelebrierte Freundschaftsbusserln mit PLO-Chef Yasser Arafat begründeten, ebenso wie Kreiskys demonstrativer Kuschelkurs mit Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, eine drastische Klimaverschlechterung in den Beziehungen zu Israel. Kreiskys Reaktion: „Die Juden seien kein Volk, doch sollten sie es sein, wären sie ein „mieses Volk“. Erst den Bundeskanzlern Franz Vranitzky (SPÖ) und Sebastian Kurz (ÖVP) gelang eine Normalisierung der Beziehungen. Lieber blau als türkis: Vermutlich aus Sorge, den türkisen Sunnyboy Sebastian Kurz bei Wahlen nicht besiegen zu können, warfen sich Rot und Blau auf ein Packl. Unter den Blicken eines verblüfften Stimmviehs färbelte die rotblaue Notgemeinschaft – unter tatkräftiger grüner und pinker Mithilfe – den blauen Ibiza-Skandal auf türkis um. Am Ende des Untersuchungsspektakels trafen sich sozialdemokratische, freiheitliche, grüne und pinke U-Ausschüssler (m/w/) zum Abschluss-Umtrunk, Kollegen aus der türkisen Fraktion lud man vorsichtshalber erst gar nicht ein. Die Ernüchterungsübung gelang, Kurz trat zurück, seine Wählerinnen und Wähler schwenkten allerdings nicht auf die SPÖ um. Wenn, dann staubte Kickls FPÖ die ehemaligen Kurz-Stimmen ab. Andreas Babler, bekennender Kreiskyst, der die SPÖ wieder zur stimmenstärksten Partei und sich selbst zum Bundeskanzler machen wollte, sackte stattdessen auf Platz drei ab. Die SPÖ hat sich ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet, das früher ein ÖVP-Markenzeichen war: mit voller Energie gegen eigene Leute statt gegen politische Kontrahenten.
Vielleicht auch deshalb hatte die im Umfragetief grundelnde ÖVP auf SP-Zerfallitis gesetzt. Anders als sein eher im Schreimodus agierender, roter Widersacher gab sich Karl Nehammer als samtpfötiger, verständnisvoller Landespapa und verhinderte so einen noch abgrundtieferen Absturz: Die Türkisen schnitten zwar atemberaubend schlechter ab als unter Sebastian Kurz, aber immer noch marginal besser als in allen Prognosen. Die Neos gaben sich sehr erfreut, obwohl sie deutlich weniger Stimmen dazugewannen als die Grünen einbüßten. Mit rasantem Stimmenzuwachs eilten die Blauen zum Rechtsäußersten. Der FPÖ, die sich ebenso regelmäßig wie zielgenau ins politische und moralische Out manövriert, wurde die aus Ibiza eingeschleppte Rabiat-Strachitis ebenso verziehen wie etliche Verbalentgleisungen. In der Vorwahlzeit bekannte Herbert Kickl beispielsweise, er erachte eine Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe für zulässig. Eventuell sollte er ja nicht nur auf Heimat-Tour gehen, sondern zur Horizonterweiterung nach Japan fliegen. Dort flammte im Herbst – hoffentlich erfolgreich – eine Debatte zur Abschaffung der Todesstrafe auf, nachdem ein 88-jähriger Mann nach 45 Jahren in der Todeszelle freigesprochen wurde. Das Gericht hatte festgestellt, dass mehrere Beweise gefälscht worden waren. Auch in den USA wurden 350 unschuldige Menschen zum Tod verurteilt, tragischerweise wurde die Schuldlosigkeit 97-mal erst nach der Hinrichtung bewiesen. Weder bei den Türkisen noch bei den Roten scheint noch irgendwer zu wissen, wie man Wahlen gewinnen könnte. Selbst die relative Mehrheit ist für beide zum unerreichbaren Wunschtraum geworden. Vielleicht sollten die Koalitions-Unterhändlerinnen und -händler zwecks Erreichung einer stabilen Polit-Ehe jetzt auf ein, zwei Forderungen aus dem BIER-Menü zurückgreifen, etwa Eignungstests für angehende Ministerinnen und Minister abzuhalten sowie ein mit überparteilichen Expertinnen und Experten besetztes Zukunftsministerium zu installieren.
Apropos BIER-Menü: Eigentlich sehr schade, dass Dominik Wlazny mit seiner BIER (Bin in einer Reformbewegung) -Partei nicht in den Nationalrat gewählt wurde. Man wisse zu wenig über seine politischen Ziele, hatten mediale Beobachter moniert, Vater und Sohn Wlazny halbseidene Absichten unterstellt und eine Marco-Pogoistische Juxerei geargwöhnt. Tatsächlich gab es nicht nichts, sondern ein im Internet nachlesbares 28-seitiges BIER-Menü zu Ideologieabbau und Entpolitisierung der Politik; zu Testungen von Ministeranwärterinnen und -anwärtern, zum Zukunftsministerium, zu mehr Bürgerbeteiligung, Gratis-Kindergärten, fairer Mietenpolitik, verpflichtenden Deutschkurse für Migranten sowie deren ausgewogene Verteilung auf europäische Staaten. „Wir sind neu, unabhängig und unverbraucht und kämpfen gegen Korruption, Machtmissbrauch und Postenschacher“, hatte Wlazny, Mediziner, Musiker und Medienprofi, vor den Wahlen in einem Interview mit dem deutschen Magazin „Merkur“ präzisiert.
Wäre schon lässig gewesen, gäb’s im Parlament neben einer mitunter selbstgerechten „Volksfront der Guten“ (©FAZ) auch unverbrauchte „Staubwedel“ (©Wlazny) nach Art des BIER-Chefs. Aber vielleicht wird nächstes Wahl-Mal eh alles besser. Dann sitzt hoffentlich auch Martin Engelberg wieder im Nationalrat. Sein unabhängiges Denken, seine kritischen und mutigen Wortmeldungen, sein mitfühlender Intellekt werden wohl nicht nur ÖVP-Parlamentariern schmerzlich fehlen.