Symbol der Zerrissenheit

Die Protestbewegung gegen die ultrarechte Regierung unter Benjamin Netanjahu hat sich die Fahne angeeignet. Jede Demonstration gleicht einem Flaggenmeer. Aber auch die Regierung tritt vor derselben Fahne auf. FOTO: ©HANAY/CC BY-SA 3.0

Seit Monaten demonstrieren Hunderttausende gegen die israelische Regierung. Doch auch deren Unterstützer behaupten, für Land und Demokratie zu kämpfen – und werfen ihren Gegnern die Gefährdung Israels vor.

VON MARIA STERKL (JERUSALEM)

„Kauf zwei, nimm eines gratis dazu!“ Ein Händler auf Jerusalems Machane-Jehuda-Markt preist seine neue Handy-Schutzhüllen-Kollektion an: weißes Plastik, bedruckt mit Israels Flagge. Sonnenbrillen, Luftballons, Servietten und Plastikteller, alles in Israels Nationalfarben – der Shop ist voll mit zionistischem Merchandise. Der Staat Israel feiert seinen 75. Geburtstag. Das ganze Land trägt Blau-Weiß. Aber alle wissen: Etwas fühlt sich anders an in diesem Jahr.

Seit wenigen Monaten hat Israels Flagge einen neuen Charakter. Die Protestbewegung gegen die ultrarechte Regierung unter Benjamin Netanjahu hat sich die Fahne angeeignet. Jede Demonstration gleicht einem Flaggenmeer. Aber auch die Regierung tritt vor derselben Fahne auf. Die Demonstranten, die Israel vor seiner Regierung beschützen wollen, benutzen dasselbe Symbol, das auch die Polizisten auf der Brust tragen, wenn sie gegen die Demonstranten vorgehen. Nichts zeigt deutlicher als die Flagge, die eigentlich alle vereinen sollte, wie zerrissen dieses Land ist.

Nur sechs Wochen ist es her, da warnte Israels Staatspräsident Itzchak Herzog in einer emotionalen Rede vor einem drohenden Bürgerkrieg. „Der Abgrund ist zum Greifen nah“, sagte Herzog. „Ich höre es von Menschen aus allen Lagern: Der Gedanke, dass auf unseren Straßen Blut fließen wird, schockiert sie nicht mehr.“ Israel, das Land, in dem junge Menschen jahrelang im Dienst an der Waffe trainiert werden, um das Land vor seinen Feinden zu beschützen, bekämpft sich nun selbst. Wie konnte es so weit kommen?

Nurit, 53 Jahre, Pädagogin aus Tel Aviv, muss nicht lange nachdenken. „Sie vernichten das Land, das unsere Eltern und Großeltern aufgebaut haben“, sagt die selbsterklärte Linke: „Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, aber diese Regierung will sie zerstören.“ Wie Nurit denken Hunderttausende, die auf die Straße gingen, um gegen die Regierungspläne für eine Justizreform zu demonstrieren, die auf eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs hinauslaufen würde.

Dass die Koalition jetzt den Pause-Knopf gedrückt hat in ihrem Demokratieumbauprogramm, ist für Nurit „nur eine erste gewonnene Schlacht, aber der Krieg ist nicht zu Ende“. Sollte die Regierung weitermachen wie geplant, „dann blockieren wir wieder die Autobahn. Nicht weil wir Autofahrer hassen, sondern weil wir Demokratie lieben.“

Die Demokratie liegt auch Emmanuel am Herzen. Nur versteht der Netanjahu-Wähler aus Haifa darunter etwas ganz anderes als Nurit. „Die Demonstranten sagen, Demokratie soll die Minderheiten schützen. Ich sage: Auch die Mehrheit muss geschützt werden.“ Emmanuel hält es für schäbig, dass die Proteste schon bald nach der Regierungsbildung einsetzten. „Ihr habt das Recht zu demonstrieren – ja. Aber sofort nach den Wahlen?“ Natürlich sei das legal, meint Emmanuel. Darum gehe es nicht. „Es ist auch legal, in einem vollbesetzten Aufzug zu furzen. Ist es höflich? Nein!“

Dass die Protestwelle tatsächlich von der Sorge um Israels Demokratie getragen sei, zweifelt der Unternehmer an. „Erzählt mir doch nicht, dass es euch um die Justiz geht. Das ist doch nur ein Vorwand.“ In Wahrheit gehe es den Demonstranten nur darum, „die Regierung zu stürzen“, glaubt er.

Als Emmanuel in Jerusalem aufwuchs, wurde Israel von linken Parteien regiert. Auch er selbst habe sie früher gewählt – bis zu den Friedensverträgen von Oslo in den 1990er Jahren. Danach kam die zweite Intifada, Terror erschütterte Israel. „Heute weiß ich: Die Araber wollen keinen Frieden. Die Zweistaatenlösung interessiert sie nicht. Sie wollen das ganze Land, vom Jordan bis zum Mittelmeer.“

Die Linke sei „zu naiv und zu scheinheilig, um das zu verstehen“, glaubt Emmanuel. Sie denken, wir geben einfach die besetzten Gebiete her, essen Hummus in Ramallah und Damaskus, und die Araber werden uns lieben.“

Auch wenn Emmanuel von Linken und Palästinensern spricht, ist die Protestwelle, die Israel erfasst hat, weder eine linke noch eine Antibesatzungsbewegung. Hohe Offiziere haben sich den Demonstrationen angeschlossen, weil sie die Regierungspläne als Bedrohung für Israels Sicherheit sehen. Selbst in Siedlungen im Westjordanland wurde gegen die Justizreform demonstriert. Aus der Sicht des Pro-Regierung-Lagers sind die Demonstranten jedoch eine uniforme Masse. Auch unter den Demonstranten glauben viele, dass nur sie die wahren Demokraten seien, die Wähler der Koalitionsparteien hingegen nur blinde Gefolgsleute einer autoritären Führung.

Der tiefe Riss, der sich nun durch Israels Gesellschaft zieht, ist auch ein Resultat dieses Schwarz-Weiß-Denkens. Beide Lager sind überzeugt davon, das Beste für ihr Land zu wollen. Beide sind überzeugt, dass das gegnerische Lager den Staat in Gefahr bringt – und sie selbst die wahren Patrioten seien.

In Wahrheit war Israel von Beginn an zerrissen. Immer schon standen Religiöse und Säkulare einander in ihren Bedürfnissen gegenüber. Strengreligiöse sahen Israel als geschützten Raum, in dem sie sich keiner anderen Autorität unterwerfen müssen als Gott und den heiligen Schriften. Säkulare hielten liberale Werte hoch. Dazu kam der Clash zwischen europäischstämmigen aschkenasischen Juden und den sephardischen Juden. Die Sepharden klagen über eine lange Geschichte der Diskriminierung. All diese Konflikte köcheln seit Jahrzehnten unter der Oberfläche, immer wieder brechen sie aus. Man streitet einmal über dies, einmal über das, dann beruhigt es sich wieder. Jetzt aber haben sich die verschiedenen Fragmente in der Gesellschaft zu zwei Blöcken verfestigt.

Die Protestwelle nutzt riesige Transparente mit der Unabhängigkeitserklärung. Demonstranten tragen Anstecker mit dem Slogan „Ich liebe den Obersten Gerichtshof“. Bilder von Höchstgerichtspräsidentin Esther Hayut werden hochgehalten – im Superman-Kostüm. Während sich die Demonstranten als Kämpfer für Recht und Ordnung inszenieren, sehen viele Netanjahu-Anhänger die Justiz als Handlangerin einer imaginierten linken Elite. Der Korruptionsprozess, in dem sich Netanjahu befindet, sei nichts anderes als ein Machtinstrument dieser korrumpierten Justiz, meint Emmanuel: „Die Linken wissen, Bibi (Netanjahu, Anm.) ist zu stark, um ihn in einem fairen Wettkampf zu besiegen. Also spielen sie ein schmutziges Spiel. Wenn man nur weit genug zurückgeht und in der Vergangenheit gräbt, wird man gegen jeden irgendetwas Schmutziges finden“.

Emmanuels Vorfahren kommen aus Polen und Deutschland, seine halbe Familie wurde von den Nazis ermordet. Heute fürchtet er, dass ein Regime, das den Schutz von Minderheiten hochhält, dies auf Kosten der Mehrheit tun könnte. „Was, wenn der Oberste Gerichtshof beschließt, dass das Recht aller Juden in der Welt auf Rückkehr nach Israel rassistisch ist – wer kann uns Juden dann noch beschützen?“, fragt er. Es ist eine rhetorische Frage. Und seine Antwort ist: Netanjahu.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Tageszeitung „Der Standard“.

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