Schicksal mal vier: 1884 – 1904 – 1984 – 2014

Moshé Feldenkrais (1904 – 1984) revolutionierte die Lehre von der Bewegung. Auf den Spuren seines geistigen Erbes in Wien stößt man auf eine nicht minder bewegte Familienbiografie.
VON UTE ROSSBACHER

Die Geschichte des Feldenkrais Instituts von Verena und Sascha Krausneker in der Taborstraße 71 beginnt vor 130 Jahren mit der Fabrik ihres Ur- Urgroßvaters. Die Tatsache, dass das Geschwisterpaar hier angekommen ist, wo ihre Vorfahren einst lebten und arbeiteten, ist einer Reihe wundersamer Zufälle zu verdanken und nur eine von mehreren Parallelen zum Leben von Moshé Feldenkrais, dessen Bewegungslehre die beiden in diesem Gebäude vermitteln.

Das Gebäude in der Taborstraße
Moritz Moses Brill, der wie so viele im ausgehenden 19. Jahrhundert von Böhmen nach Wien kam, ließ sich 1884 in dem von ihm erbauten Haus mit seiner sechsköpfigen Familie nieder. Als Hersteller von Treibriemen und bald auch Bezirksrat machte er sich einen Namen. Nicht minder sein Sohn Otto, der als promovierter Chemiker im Ausland über Radioaktivität forschte. Dank seiner Riemer- und Sattlerlehre war es ihm auch möglich, das Unternehmen nach dem Tod des Vaters erfolgreich zu leiten. Bis 1938. Nach mehrmonatiger Haft wurden neben dem Vermögen der Familie, darunter Immobilien und Kunstgegenstände, auch das Wohnhaus und die Firma beschlagnahmt bzw. arisiert. Otto Brill und seiner Familie gelang die Flucht nach Großbritannien. Zurück kam nur Tochter Eva, die Großmutter von Verena und Sascha Krausneker, an die sich die beiden gut erinnern: „Sie war glühende Patriotin. Davon konnte sie auch der anhaltende Antisemitismus nicht abbringen.“ Dass das Gebäude in der Taborstraße, das nach zähem Ringen wieder in den Besitz der Familie zurückkam, den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstand, grenzt ebenso an ein Wunder, wie die Tatsache, dass die Geschichte der Krausnekers schriftlich und bildlich so gut dokumentiert ist, wie die liebevoll zusammengestellte Galerie an der Wand der Institutsräume zeigt. Diese zieht die Aufmerksamkeit vieler Besucher auf sich.

Sascha Krausneker erinnert sich besonders an eine Begegnung: „Eine jüdische Trainerin von fast Mitte 80, die alles erlebt hat, was man in Europa erleben kann, fragte bewegt: ,Wo habt ihr diese Fotografien her?‘ Denn viele Familien haben aus dieser Zeit nichts mehr in der Hand.“ Vor drei Jahren schließlich fand das Feldenkrais Institut, das das Geschwisterpaar 2007 gegründet hatte, nach Jahren der Wanderschaft seine eigentliche Heimat. In der ehemaligen Werkstätte des Ur-Urgroßvaters befindet sich heute der lichtdurchflutete Trainingssaal, das einstige Büro umfasst Sascha Krausnekers Einzelpraxis und den Aufenthaltsraum für die Besucher. Die Neu- und Umgestaltung der Räumlichkeiten führte dabei scheinbar zufällig zu den architektonischen Wurzeln des Familienhauses zurück, als durch die Umbauarbeiten etwa die ehemalige Verbindungstür zwischen Büro und Werkstätte freigelegt wurde. Es zeigte sich, dass die Vorstellungen der Geschwister weitestgehend den Bauplänen des Ur-Urgroßvaters entsprachen. Zur großen Überraschung wie auch Freude der beiden schloss sich damit gleich in mehrfacher Hinsicht der Kreis der Familie auf wunderbare Weise. Ob das ihrem Ur-Urgroßvater gefallen hätte? Sascha Krausneker lächelt: „Sein Lebensmotto war, dass die beiden einzig wahren Dinge im Leben Wissenschaft und Kunst sind. Als ich die Familienfotos aufhängte, wurde mir erst klar: Das ist genau das, was wir machen. Und mehr als viele andere Dinge bildet Feldenkrais die Schnittstelle.“

Ben Gurions Therapeut
Wir drehen das Rad um 110 Jahre zurück: 1904 in Russland geboren, zog Moshé Feldenkrais bereits in jungen Jahren nach Tel Aviv, wo er ausgehend von Jiu-Jitsu und Judo die menschliche Bewegung in gewissem Sinne neu erfand. Er litt an Knieschmerzen und suchte nach Wegen, diese zu überwinden. Dabei orientierte er sich an den bereits bestehenden Lehren, aber auch Klassikern aus Physiologie, Neurologie und Philosophie. Bewegungen nach dem Vorbild von Babys und Kleinkindern bewusst zu vollziehen und dabei der Ergonomie des Körpers gerecht zu werden, ohne die natürlichen Krümmungen zu beseitigen, war sein Credo.

Dass über harmonische körperliche Motorik auch die Aktivitäten des Gehirns angeregt werden, war eine erwünschte Nebenwirkung. Für Sascha Krausneker steht fest: „Es handelt sich um eine wunderbare Verbindung von Bewegung und Lernen auf allen menschlichen Ebenen.“

Moshé Feldenkrais, der auch Physiker war, erarbeitete so Ansätze über das Zusammenwirken von körperlicher Bewegung, Erweiterung des geistigen Horizonts und seelischer Balance, die ein Vorgriff auf grundlegende Erkenntnisse der modernen Neurophysiologie waren, was seine Leistung nicht nur in den Augen Krausnekers einmal mehr erhöht: „Seine Stärke war es, abstrakte Ideen in konkret erfahrbares Erleben zu übersetzen. Und das ist vielen anderen nicht gelungen, deren Denkansätze er in seine Methode integriert hat.“

Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 führte Moshé Feldenkrais ein buchstäblich bewegtes Leben – ab den 1960er-Jahren bildete er weltweit zahlreiche Menschen zu sogenannten Practitionern aus, daneben schrieb er zahlreiche Bücher und entwickelte seine Ideen konsequent weiter.

Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien begeben sich in die Hände Sascha Krausnekers – physisch wie psychisch. Für ihn, der vom Judo-Sport über den Tanz zur Feldenkrais-Methode gekommen ist, die er seit 2002 praktiziert, macht das in der Behandlung jedoch keinen Unterschied: „Generell geht es darum, die Handlungsfähigkeit über Bewegung zu verbessern. Ob man am Klavier oder am Computer sitzt, man muss wissen, wie das Zusammenspiel von Skelett, Muskeln und Knochen so funktioniert, dass man frei und virtuos arbeiten kann.“ Diese Erfahrung habe Jahrzehnte vor ihnen auch Israels erster Premier David Ben Gurion gemacht, streut Verena Krausneker ein: „Er war aufgrund starker Rücken- und Kopfschmerzen beinahe arbeitsunfähig. Nachdem Moshé Feldenkrais zwei Jahre intensiv mit ihm gearbeitet hatte, konnte er wieder durchschlafen, sich in der Knesset wieder ohne Hilfe aus dem Sessel erheben.“

„Jüdisches Turnen“
Wer einen Blick in den Trainingssaal wirft und den Teilnehmern bei ihren kontemplativen Übungen zusieht, die im Liegen ausgeführt werden, könnte bei derlei Schilderungen ins Zweifeln geraten. Zu Unrecht, wie die Sprachwissenschaftlerin unterstreicht: „Dieser Prozess des Lernens von Bewegung ist fordernd, auch wenn man dabei nicht sportlich mobil ist.“ Dass sich diesem Umstand der Beiname „jüdisches Turnen“ verdanken soll, ist für sie zweischneidig: „Es unterstellt, dass Juden nicht sportlich sind. Dabei war Feldenkrais genau das Gegenteil.“ Ihr Bruder untermauert: „Ein Ausbildner hat über ihn einmal gesagt: ‚Im Judo hat er die Leute aus der Balance gebracht und sie auf den Rücken geworfen, um ihnen für den Rest ihres Lebens dabei zu helfen, ihre Balance wieder zu finden.‘“

Gilt das auch in Bezug auf jüdische Identitätsfindung? Verena Krausneker wird nachdenklich: „Für Juden in Österreich gibt es nicht viel, bei dem die gesamte Identität anwesend sein kann. Denn an vielen Orten erzeugt das Wissen darum immer noch Unruhe oder Chaos im Kopf. Dabei schwingt ein Aspekt des Sich-Outens mit. Hier eine Methode zu haben, die eine starke jüdische Verbindung schafft, macht den Unterschied zu anderen Lehren aus.“

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