Der israelische Historiker, Autor und Pulitzerpreisträger Saul Friedländer über sein neues Kafka-Buch, seine Familiengeschichte und die Opferrolle. Ein Porträt.
Von Michael Kerbler
Saul Friedländer lächelt. Ja, sagt er, er habe sich mit diesem Buch, mit dieser Biografie über Franz Kafka einen langgehegten Wunsch erfüllt. Denn Kafka habe ihn von früher Jugend an begleitet. Schon als 15-Jähriger liest Friedländer sein erstes Kafka-Buch. Friedländer, im Dezember feierte er seinen 80. Geburtstag, lehnt sich zurück. Er sei kein Literaturwissenschaftler. Und dennoch, nach der Lektüre von Franz Kafka – und die Rezensenten waren sich in diesem Punkt fast ausnahmslos einig – muss man anerkennend feststellen: Das Auge des Historikers sieht manches, was die Kafka-Forschung bisher nicht wahrgenommen hat. Mit profunder Kenntnis der Werke, mit feinem Humor und präziser Beobachtungsgabe porträtiert Saul Friedländer Franz Kafka als Dichter der Scham und der Schuld. Er geht seinem Leben nach, analysiert die Ironie Kafkas und spürt dem Seelenleben des Dichters nach, das tiefe Spuren in dessen Werk hinterlassen hat.
Parallelen mit Franz Kafka
Im Mittelpunkt des langen Essays, das im Verlag C.H. Beck erschienen ist, steht eine Frage, an der sich Saul Friedländer mit nahezu kriminalistischer Genauigkeit abarbeitet: „Wie kann Schuld und Scham schöpferisch verarbeitet werden?“ Der Beginn der Spurensuche lässt sich im ersten Kapitel festmachen. Dort schreibt Friedländer: „Aus den Tagebüchern und dem Briefwechsel (mit Max Brod) geht mit hinreichender Deutlichkeit hervor, dass die Probleme, die Kafka während des größten Teils seines Lebens peinigten – abgesehen von dem beständigen Grübeln über sein Schreiben, die Quintessenz seines Seins – sexueller Natur waren.“ Was folgt, ist eine Spurensuche, die detailreich und erhellend über zweihundert Seiten führt.
Saul Friedländer und Franz Kafka, es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass beide an der Moldau spazieren gehen. In Prag. Denn beide sind in Prag geboren, die Herkunftsmilieus der beiden sind sehr ähnlich. Und: Es gibt noch einige erstaunliche Parallelen zwischen den beiden Familien Friedländer und Kafka. Friedländers Vater studierte ebenso wie Kafkas Papa an der Karlsuniversität Jus, und auch er wurde Angestellter einer Versicherung. Auch die Familiengeschichten weisen tragische Parallelen auf: drei von Franz Kafkas Schwestern wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet – so wie Friedländers Eltern. „Ich wurde zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, nämlich vier Monate vor Hitlers Machtergreifung, in Prag geboren. Auch mein Vater war in Prag geboren worden, meine Mutter stammte aus den Sudeten. Wir waren keine gläubigen Juden, befolgten auch keine der orthodoxen jüdischen Lebensregeln. Meine Familie war ein typisches Beispiel des assimilierten europäischen Bürgertums.“ Friedländer beugt sich zu mir und bekräftigt, dass von Emigration nie die Rede gewesen sei. „Wir waren nie beunruhigt.“ Wirklich bewusst wahrgenommen habe die Familie die politischen Veränderungen im Frühjahr 1938. „Obwohl die Deutschen noch gar nicht da waren“, erzählt der Historiker, wurden ab dem Schulbeginn im Herbst keine jüdischen Kinder mehr zum Schulunterricht zugelassen.
Das Münchner Abkommen markiert ein wichtiges Datum. Die Eltern beschließen, in die Emigration zu gehen. Nach Frankreich. Mein Vater, sagt Saul Friedländer, hat an die völlige Assimilierung geglaubt; das war falsch. Er hat die Bedrohung durch die Nazis falsch eingeschätzt, und auch, was die Einschätzung der Lage in Frankreich betraf, lag er falsch. „Mein Vater wurde für das verfolgt, was er nicht hatte sein wollen: ein Jude.“
Seine Eltern, die ihn in einem katholischen Internat unter falschem Namen untergebracht hatten, wurden bei einem Fluchtversuch in die Schweiz verhaftet. Diese Verhaftung zählt zu den tragischen Momenten in der Geschichte der Familie, weil sie möglicherweise hätte vermieden werden können. Saul Friedländer zögert etwas. „Wissen Sie, wäre ich bei meinen Eltern gewesen, dann hätten wir vielleicht hinüber gekonnt, denn für eine kurze Zeit im Jahr 1942 haben die Behörden Familien mit Kindern in die Schweiz reisen lassen.“ Und er ergänzt: „Entweder sie haben sich da geirrt oder wussten das nicht und haben mich gerade deshalb zurückgelassen, um mich zu retten.“
Als seine Eltern mit vielen anderen Juden in einen Güterzug nach Osten gepfercht wurden, gab der Vater einem Mann, der aus dem Zug sprang, seine Armbanduhr mit. Der Mann versprach, diese Uhr dem Sohn, also Saul Friedländer, zu bringen.
„Die neue Zeit fing an“
Aus Saul Friedländer war Paul-Henri Ferland geworden, der als gläubiger Katholik daran dachte, Priester zu werden. Aber daraus wurde nichts. Verwandte ließen nach Kriegsende nach ihm suchen und fanden ihn schließlich, trotz falschem Namen. Und auch die Uhr des Vaters erhielt Friedländer damals und trug sie, als er – mittlerweile überzeugter Zionist – im Mai 1948 mit einer Gruppe Gleichgesinnter aufbrach, um in Palästina den neuen jüdischen Staat aufzubauen. Aber während der Überfahrt nach Israel auf dem Schiff, das Menachem Begin organisiert hatte, wurde Saul Friedländer die Uhr des Vaters gestohlen. „Ja, genau, das stimmt, da hat man sie mir wirklich gestohlen.“ Er lacht, es klingt dennoch bitter. „Das hört sich an wie ein Witz, nicht wahr. Aber für mich war damit die Zeit des Krieges zu Ende, und eine neue Zeit, wenn man das so metaphorisch sagen will, fing an. Ja, die neue Zeit fing an, als man mir die Uhr geklaut hat.“
Mit der Geschichte des Holocaust begann sich der Historiker Saul Friedländer intensiv erst Mitte der 1980er- Jahre zu beschäftigen. Auslöser dafür war ein Streit zwischen ihm und dem Historiker Martin Broszat, dem damaligen Leiter des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte in München. „1985 ist ein ganz wichtiges Datum, denn das war 40 Jahre nach Ende des Krieges, und viele sagten damals, jetzt ist Zeit für einen Schlussstrich, nicht wahr. Auch Martin Broszat schrieb damals einen Artikel im Münchner Merkur, den er mit „Ein Plädoyer für die Historisierung des Nationalsozialismus“ betitelte. Was er damit meinte? Das bedeutete, jetzt ist es genug mit diesen emotionalen Ausbrüchen, jetzt soll man das Dritte Reich wie jede andere Geschichtsphase auch behandeln.“
Saul Friedländer reagierte damals ungewöhnlich scharf und forderte von Broszat eine Erklärung. „Wissen Sie, was er mir schrieb? Ja, man müsse die Erinnerung der Opfer, also der überlebenden Opfer respektieren, und ihre Erinnerung an die Nazis, an die Zeit des Krieges und des Holocaust. Man könne vielleicht daraus etwas lernen, aber es stelle eigentlich ein Hindernis für die rationale Geschichtsschreibung der jungen deutschen Generation dar. Das hat mich sehr geärgert, wie Sie sich vorstellen können. Und ich schrieb einen Brief an ihn zurück: ‚Sie meinen, dass wir Juden wegen unserer belasteten Subjektivität dazu nicht imstande sind?‘ und er sagte: ‚Die Überlebenden und ihre Nachfolger, also die Juden, können die Geschichte nicht schreiben, weil sie zu belastet sind.‘ Ich antwortete: ‚Und wenn man in der HJ war – in der Hitlerjugend, wie Sie, dann ist man nicht belastet von der Vergangenheit?‘“
Das war der Moment, in dem Saul Friedländer beschloss, die Geschichte des Holocaust aus der Sicht der Opfer zu schreiben. „Ich dachte, ich muss diese Geschichte aufschreiben, und ich muss auch die Perspektive der Opfer einbringen, ob sie überlebt haben oder nicht. Wie könnte ich diese Sicht darstellen, überlegte ich. Es waren die Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe, Korrespondenzen aus dieser Zeit, die mir diese Perspektive eröffneten.“
„Wissen Sie“, sagt Saul Friedländer, „wissen Sie, die Sicht der Opfer ist ein integraler Teil, ein absolut notwendiger Teil dieser Geschichte, weil man schreibt diese Geschichte ja immer aus der Sicht der Täter, oder vielleicht manchmal aus dem Blickwinkel der Maschinerie, der Nazi-Bürokratie, aber das wird dann ganz abstrakt. Und nur, wenn Sie die Stimmen der Opfer hören, die plötzlich schreien – und zwar nicht nur als bloße ‚Illustration‘ des Narrativs – dann erst spürt man deutlich, worum es geht. Und wenn man die Opfer hört, wahrnimmt, dann wird diese Welt plötzlich eine ganz andere.“
Das Buch Rede an uns liegt vor mir auf dem Tisch. NU-Chefredakteur Peter Menasse, erkläre ich Saul Friedländer, vertrete die Meinung, dass die Shoa keinen Bezug mehr zur Gegenwart der Jungen habe: „Für einen heute Vierzehnjährigen liegen die Taten der Nationalsozialisten so lange zurück wie für einen Rentner der Tod von Kronprinz Rudolf und Mary Vetsera.“ Die heutigen Deutschen und Österreicher seien nicht die Täter von damals, und: „Wir heutigen Juden sind keine Opfer.“ Hat er recht? Die heutigen Juden sind keine Opfer der Shoa? Saul Friedländer (lacht): „Nein, das wäre ein bisschen viel, nein. Sie meinen, ob die heute Geborenen, ob sie Opfer der Shoa sind? Habe ich Sie da richtig verstanden?“ – „Ja, Sie haben mich richtig verstanden.“
In Friedländers Mimik kommt Bewegung. „Ich will dazu etwas sagen. Und zwar: Dies ist eine sehr gefährliche Aussage, dass die heute Geborenen oder gestern Geborenen, also heute vielleicht 20 Jahre alte Juden Opfer der Shoa sind. Das ist sehr gefährlich, weil man das dann politisch … wie sagt man? Man kann es dann politisch ausnützen. Und das machen die Ultrarechten in Israel, dieses Thema ist immer gegenwärtig: ‚Wie in der Shoa ist heute Israel von allen Seiten gefährdet und es wird, wenn wir nicht so und so und so agieren, von der umgebenden Welt vernichtet‘, oder so ähnlich. Und dann wird immer wieder auf den Holocaust Bezug genommen. Das ist für mich unerträglich und politisch sehr gefährlich, weil man eine Vergangenheit ausnützt, die tragisch ist, um dann politisches Kapital daraus zu schlagen. Also deswegen sage ich nein, definitiv nein.“