Sand und Subversion

Vogels Privatbibliothek mit mehr als 8000 Büchern, Zeitschriften und Juvenilia ist im Österreichischen Filmmuseum öffentlich zugänglich. © Eszter Kondor

Der aus Wien gebürtige Amos Vogel (1921–2012) erkannte das subversiven Potenzial des Kinos als Mittel der Gesellschaftskritik. Zum 100. Geburtstag des legendären Kritikers, Autors und Kurators, den die Viennale und das Filmmuseum im Oktober mit einer Retrospektive würdigen.

Von Michael Pekler

Als Amos Vogel für die Neuauflage seines 1974 erschienenen Buchs Film als subversive Kunst zwanzig Jahre später ein neues Vorwort schrieb, hatte der Kritiker, Autor und Kurator keine Ahnung von Streamingdiensten und der kompletten Digitalisierung des Kinos; von Online-Handelsketten als Filmproduzenten und der manipulativen Bilderflut auf Smartphones. „Die Homogenisierung der Kultur scheint unser Schicksal zu sein“, schrieb Vogel mit präziser Weitsicht, „eine universelle Nivellierung, eine betäubende, bösartige Fadesse.“

Sätze, die man – will man es sich leichtmachen – entweder als die übliche linke Kulturkritik abtun kann oder – will man ihre Aktualität erkennen – ebenso gut auf das Jahr 2021 datieren könnte. Denn dass sich Kritik am sogenannten US-Kulturimperialismus oft schal liest, liegt nicht darin, dass sie seit Jahrzehnten gleich klingt, sondern dass sie seit ebenso langer Zeit nicht weniger wahr geworden ist.

Dass Amos Vogels harsches Urteil über den scheinbar unpolitischen Mainstream der US-Kultur und die Disneyfizierung der Welt mit einem grundlegenden Skeptizismus gegenüber Staat und Politik zusammenfällt, hat jedenfalls mit der Biografie des gebürtigen Wieners zu tun. Geboren 1921 als Amos Vogelbaum, erlebte er als Jugendlicher den Austrofaschismus und das repressive Klima der Zwischenkriegszeit am eigenen Leib: „Meine Jugend wurde geprägt vom Bürgerkrieg in Österreich 1934 und dem erstickenden Konservativismus von Dollfuß und Schuschnigg“, schreibt Vogel. „Ich erinnere mich, dass ich heimlich illegale politische Schriften und Die Neue Weltbühne las und nachsitzen musste, weil ich es gewagt hatte, mit einem Schulkameraden – der mich pflichtbewusst meldete – über den Sozialismus zu diskutieren. Aber das war ein Kinderspiel verglichen mit dem März 1938, als ich plötzlich erfuhr, dass ich ein Krebsgeschwür sei, das ausgerottet werden musste.“

Kein Ersatz für Träume

Als Sohn eines assimilierten jüdischen Anwalts interessiert sich Vogel bereits als Schüler für Literatur, liest Goethe, Brecht und Shakespeare. Mit zwölf Jahren macht er seine ersten Kinoerfahrungen als Mitglied des Wiener Filmclubs in der Urania und schreibt in sein Tagebuch Miniaturen über die gesehenen Filme. Doch es sollte die Erfahrung der Vertreibung und des Exils sein, die sich in seinem Denken und Schreiben über das Kino manifestieren wird: Das Kino ist für Vogel keine Flucht aus dem Alltag und kein „Ersatz für die Träume“, wie von Hofmannsthal noch im Geburtsjahr Vogels beschrieben, sondern ein Instrument. Eine Möglichkeit zur Subversion und zum Widerstand gegen die gesellschaftspolitischen Normen. „Wir glauben alle, dass der Staat zu unserem Schutz existiert“, sagte Vogel, als er 1993 für ein Symposion zum Exil österreichischer Filmschaffender – nach 54 Jahren – wieder seine Geburtsstadt besuchte. „Nicht unbedingt. Ich habe schon sehr früh herausgefunden, dass es auch der Staat sein kann, der darüber entscheidet, ob ich ausgelöscht werden soll.“

Statt nach Palästina – für die Ausreisegenehmigung war er um wenige Monate zu alt – emigriert Vogel über Kuba, wo er ein halbes Jahr warten muss, nach New York. Doch der demokratische Traum ist für den Neuankömmling nicht zu erkennen: „Ich fand in Amerika nicht die Welt, die ich erwartet hatte“, wird er später erzählen. „In Wien hatten sie Schilder, auf denen stand ,Für Hunde und Juden verboten.“ Unten in Georgia, wo ich zur Schule ging, stand auf den Schildern ,Für Hunde und Neger verboten.ʻ Das schockierte mich zutiefst.“

Respektvolle Kompromisslosigkeit

Dennoch beginnt für Vogel in Amerika ein neues Kapitel. Am Tag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima heiratet er seine Frau Marcia, in der er fortan eine auch berufliche Wegbegleiterin findet. Angeregt durch Vorführungen von Arbeiten der Avantgardefilmerin Maya Deren in New York beschließen die beiden, in einem gepachteten Theater ihre ersten Filmprogramme zu zeigen – der Grundstein des legendären Filmklubs Cinema 16.

Gezeigt werden Filme, die man in anderen Lichtspielhäusern vergeblich sucht: Kurzfilme, Avantgarde, Dokumentar- und Animationsfilme, aber auch didaktische Lehrfilme. Die Programme sind so erfolgreich, dass man ins Central Needles Trades Auditorium an der West 24th Street mit über 1700 Sitzplätzen übersiedelt. Die Archivbilder erinnern – abgesehen von der bewussten Schmucklosigkeit des Saals – an heutige Eröffnungen großer Filmfestivals.

Um die strengen Zensurbestimmungen für öffentliche Vorführungen zu umgehen, ist Cinema 16, benannt nach dem 16mm-Filmformat, als privater Verein organisiert. „Films you cannot see elsewhere“ verspricht das Poster, und Vogels Programm hält dieses Versprechen. Seine Vermittlungsarbeit ist gekennzeichnet von respektvoller Kompromisslosigkeit, von Neugierde und vom unbedingten Glauben an den gesellschaftspolitischen Fortschritt durch Kultur und Ästhetik. In seinem Arbeitszimmer, vollgestopft mit Büchern, Fotos und Zeitungsausschnitten, hängt ein Zettel mit einer Zeile aus dem Gedicht Wacht auf von Günter Eich, das als Motto für Vogels Denken und Schaffen stehen kann: „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“

Pionierarbeit

Vogels Programme loten, so wie seine Vorträge und Texte, die gesamte Breite des Mediums Film als Kunst aus – aber stets mit der Betonung der randständigen Formen. Dazu konnte das zu jener Zeit in den USA noch unbekannte europäische Autorenkino ebenso zählen wie das Undergroundmovie, Experimentelles und Avantgardistisches, ja sogar der pornografische Film. Als Amos und Marcia 1963 ihren Filmklub aufgrund von Finanzproblemen schließen müssen – obwohl die Anzahl der Mitglieder sehr hoch ist, decken die Einnahmen nicht die Organisationskosten –, beginnen zum ersten Mal in der Geschichte des US-Kinos urbane Programmkinos jene Filme zu zeigen, die Cinema 16 seinem Publikum bereits präsentieren konnte.

Stattdessen gründet Vogel das New York Film Festival und wird Leiter des Lincoln Film Center. Dass Film als subversive Kunst heute völlig zu Recht als eines der besten Bücher über das Kino gehandelt wird, liegt weniger an Vogels Interpretationskunst als an seinem Verständnis für die Wirkkraft des Kinos – weshalb das Titelregister den verbotenen Film Aber erlöse uns von dem Bösen (1971), der „Geschichte zweier gutbürgerlicher Nymphchen, deren Sexualität in der bedrückenden Atmosphäre einer Klosterschule erwacht“ ebenso umfasst wie Leni Riefenstahls Triumph des Willens und Filme über die Grausamkeit und den Tod.

In den vergangenen Jahren wurde Vogel auch in Österreich wiederentdeckt. Einer Programmschau bei der Viennale 2004 folgte die vorzügliche Publikation Be Sand, Not Oil, und zuletzt übernahm das Filmmuseum die „Amos Vogel Library“, Vogels Privatbibliothek mit mehr als 8000 Büchern, Zeitschriften und Juvenilia, und machte sie öffentlich zugänglich. Die Retrospektive der heurigen Viennale setzt die Neuentdeckung fort.

In einem ausführlichen Gespräch mit dem Filmhistoriker Scott MacDonald erklärte Vogel, warum er trotz seines Skeptizismus – man könnte es auch Wachsamkeit nennen – ein grundsätzlich optimistischer Mensch geblieben sei: „Wenn mich Leute fragen, wie ich optimistisch sein kann, was die Möglichkeiten für progressive Politik oder subversive Kunst angeht, habe ich einen Spruch: ,Ich habe mehr Vertrauen in meine Feinde als in meine Freunde.ʻ Ich bin davon überzeugt, dass meine Feinde weiterhin die ungeheuerlichsten repressiven Dinge tun werden und damit zwangsläufig wieder eine Revolte derjenigen hervorrufen werden, die gewaltsam draußen oder unten gehalten werden.“

www.filmmuseum.at/amosvogel

Seine ersten Kinoerfahrungen macht Amos Vogel in der Urania und schreibt Film-Miniaturen in sein Tagebuch. © Österreichisches Filmmuseum
Im legendären New Yorker Cinema 16 mit 1700 Sitzplätzen werden Filme gezeigt, die man woanders vergeblich sucht: Kurzfilme, Avantgarde, Dokumentar- und Animationsfilme. © Österreichisches Filmmuseum
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