Die Österreichische Nationalbibliothek ist Vorreiterin bei der Restitution. NU sprach mit ihrer Generaldirektorin Johanna Rachinger über Gerechtigkeit und ihre Pläne, den Heldenplatz zum „Platz der Bücher“ zu machen.
Von Peter Menasse (Interview) und Peter Rigaud (Fotos)
NU: Sie sind seit 2001 Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek. Macht die Arbeit auch nach Jahren noch Spaß?
Rachinger: Meine Tätigkeit hier bereitet mir nach wie vor große Freude – vor allem auch, da sich durch die Vielfältigkeit der Aufgaben keine Alltagsroutine einschleicht. Mein Vertrag geht bis 2011 und ich habe noch sehr viel vor bis dahin. Wir haben Strategiepläne entwickelt und da wollen wir noch einiges umsetzen. Zum Beispiel planen wir, einen großen Bücherspeicher unter dem Heldenplatz zu bauen. Und wir brauchen einen zusätzlichen Lesesaal, weil die Anzahl unserer Leserinnen und Leser stetig steigt.
Erstaunlich, wo doch andere Büchereien über sinkende Besucherzahlen klagen.
Ja, es ist sehr erfreulich, dass die Bibliothek vor Ort immer mehr genutzt wird, obwohl wir zunehmend Inhalte ins Netz stellen, das heisst, dass vieles auch schon von zu Hause über das Internet abrufbar ist. Wir haben einfach sehr viel Energie und Ressourcen in den Servicebereich investiert, zum Beispiel die Öffnungszeiten wesentlich ausgeweitet. Wir haben bis neun Uhr abends geöffnet, wir haben auch am Samstag Vormittag geöffnet und wir denken jetzt darüber nach, die Öffnungszeiten noch einmal auszuweiten, auch auf den Samstag Nachmittag und möglicherweise auch auf den Sonntag. Damit nähern wir uns amerikanischen Verhältnissen, wo es schon üblich ist, dass man auch am Sonntag die Bibliotheken besuchen kann.
Wie viele Bücher liest die Direktorin der Nationalbibliothek denn selber?
Also, ich würde sagen, das ist unabhängig von meinem Job. Auch wenn viele Leute denken, dass eine Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek im Dienst sehr viele Bücher lesen kann. Das ist natürlich nicht so. Ich habe eine Managementaufgabe, aber ich lese privat sehr viel, weil ich einfach eine große Affinität zu Büchern immer schon hatte und die ist natürlich geblieben, wiewohl ich, wie viele andere Leute auch, die voll im Job stehen, meist nur im Urlaub wirklich zum Lesen komme. Aber ich halte mich zurück mit den Worten: „Ich hab zu wenig Zeit zum Lesen.“ Weil, der Doderer hat das, glaube ich, gesagt: „Wer zu wenig Zeit hat, der verblödet.“
Und was lesen Sie also derzeit?
Ich habe zuletzt das Buch von Lisa Fischer über das Leben von Lina Loos gelesen, ich mag Biographien.
Kommen wir zur Restitution: Im Jahr 2002 haben Sie Ergebnisse der Provenienzforschung veröffentlicht, die von Ihrem Vorgänger Hans Marte beauftragt worden war. Es waren dies jedoch halbherzige Untersuchungen, so dass Sie dann beschlossen, eine externe Historikerin, Margot Werner, zu beauftragen. Woher kam Ihr Antrieb, nochmals von vorne zu beginnen?
Ich kannte sowohl als Leserin, aber vor allem auch als Österreicherin die Institution der Nationalbibliothek sehr genau, weil sie einfach ein Identität stiftendes Symbol unseres Landes und seiner Geschichte ist. Ich wusste daher auch schon ganz zu Beginn meiner Tätigkeit, dass es in der Nationalbibliothek viele geraubte Objekte gibt, die nicht restituiert wurden. Nun sehe ich es aber als ganz wesentliche Verantwortung meiner Generation, dass diese dunklen Schatten, die über uns, über Institutionen oder über unserer eigenen Geschichte schweben, aufgearbeitet werden. Als ich hier ins Haus gekommen bin, habe ich erfahren, dass eine Bibliothekarin aus den eigenen Reihen beauftragt war, an der Provenienzforschung zu arbeiten. Ich habe dann die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, wenn man keine Bibliothekarinnen oder Bibliothekare aus dem Haus beauftragt, weil sie oft einfach wegen ihrer Liebe zum Sammeln und Zusammenhalten Objekte nicht verlieren wollen. Dahinter steckt keine politische Motivation. Deshalb war für mich sehr schnell klar, dass ich Externe dazuholen muss. Ich war ständig mit Diskussionen im Haus konfrontiert, warum man etwas nicht zurückgeben soll, weil das angeblich gar kein Restitutionsfall wäre. Ich brauchte also jemanden mit einem objektiven Zugang zu all diesen Themen und vor allem auch zu den Beständen. Und ich wollte eine unabhängige Historikerin und so ist es schließlich Margot Werner geworden. Sie hat dann in eineinhalb Jahren die Suche nach geraubten Objekten im Haus umgesetzt und einen dreitausend Seiten umfassenden Bericht vorgelegt. Sie wurde, das muss auch gesagt werden, von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Haus bei der Aufarbeitung sehr unterstützt. Ohne Mithilfe wäre es auch nicht gegangen. Als einmal entschieden war, dass wir die Rückgabe mit voller Kraft angehen wollen, als das auch im Haus als Wille der Generaldirektion kommuniziert wurde, ist es dann auch angenommen worden.
Es gab so viele Chancen, sich mit den gestohlenen Büchern, Autographen, Inkunabeln und Musikhandschriften zu befassen. Warum ist das nach 1945 und auch noch nach Inkrafttreten des Kunstrückgabegesetzes 1998 nur halbherzig gemacht worden?
Es gab sicher eine Grundstimmung, die das schwierig gemacht hat. Wir haben bei unserer relativ frühen, aber doch viel zu späten Aufarbeitung schon auch Erlebnisse gehabt, die für sich sprechen. Leute haben zu mir gesagt: „Sie werfen ja denen alles wieder in den Rachen.“ Solche Reaktionen hat es gegeben. Das heißt, es gibt schon noch diese antisemitische Haltung in Österreich, und wir erleben es ja auch in der aktuellen Diskussion, dass man gewisse Dinge einfach nicht zurückzugeben braucht. Ich persönlich sehe jedenfalls die Restitution nicht nur als eine gesetzliche Verpflichtung, sondern auch als eine moralische Aufgabe.
Sie haben also dann Ende 2003 einen Bericht vorgelegt, der mehr als fünfzigtausend Erwerbungen aus der NS-Zeit enthielt, die als bedenklich gelten mussten und zu restituieren waren. Was ist inzwischen geschehen?
Es ist schon sehr viel geschehen und zwar auch aufgrund unseres Engagements, aber vor allem aufgrund der großartigen Unterstützung durch die Israelitische Kultusgemeinde und den Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Schwierigkeit war, für die zu restituierenden Objekte die Erben ausfindig zu machen. Das waren umfangreiche Recherchearbeiten, die wir alleine von uns aus, obwohl wir alle Möglichkeiten auch hier infrastrukturell zur Verfügung gestellt haben, nicht hätten so rasch umsetzen können. Wir haben insgesamt 52.403 Objekte als in der NS-Zeit geraubt identifiziert, und ich beziffere sie wirklich ganz genau, denn es geht um jedes einzelne Objekt, von denen insgesamt 32.994 Objekte den Erbinnen und Erben der ehemaligen Eigentümer zurückgegeben werden konnten. Es handelt sich dabei um rund fünfzig Sammlungen. Das ist der Stand Oktober 2008. In allen anderen Fällen konnten wir trotz erheblicher Recherchen die früheren Besitzer nicht mehr ausfindig machen. Es handelt sich um sehr viele Einzelbücher, die keinen Provenienzvermerk tragen. Das heißt, wir wissen einfach nicht mehr, wem diese Objekte gehören und hier warten wir nur mehr auf eine Entscheidung der zuständigen Bundesministerin, dass diese Bücher, so wie es auch das Kunstrückgabegesetz vorsieht, dem Nationalfonds übergeben werden. Wiewohl aber auch der Wunsch der Kultusgemeinde verständlich ist, dass man noch etwas zuwartet und vorerst diese Objekte in einer gemeinsamen Online-Datenbank veröffentlicht, was wir auch getan haben, weil es doch sein könnte, dass sich noch jemand meldet, bevor die restlichen Objekte dann an den Nationalfonds gehen.
Gibt es da Wertgrenzen? Waren denn alle Bücher so wertvoll, dass es sich wirklich gelohnt hat, die Eigentümer zu suchen?
Also zum einen würde ich sagen, unabhängig vom materiellen Wert, lohnt es sich in jedem Fall, weil wir nicht beurteilen können, was ein Buch, das vielleicht einem Großvater oder der Mutter gehört hat, für die einzelne Person an persönlichem Wert hat. Man muss in jedem einzelnen Fall suchen, unabhängig vom finanziellen Aspekt. Auf der anderen Seite gab es viele wertvolle Objekte, die zu einem Teil auch bereits in der Nachkriegszeit restituiert worden sind, da bei diesen Handschriften, den Autographen, den großen zusammenhängenden Bibliotheken anhand von Akten, Inventaren und Besitzzeichen auf den Objekten die Provenienz feststellbar war. Jene Objekte, die bislang noch nicht restituiert wurden, würden wir unter dem Begriff „geringfügige Wirtschaftsgüter“ einreihen. Alles, was unter einem Wert von rund 500 Euro liegt, das sind einzelne Bücher, die vielen einfachen Menschen geraubt wurden, die kein Exlibris ins Buch hineingeklebt hatten, und wo es uns jetzt nicht mehr möglich ist, Vorbesitzer zu ermitteln.
Sie haben im Jahr 2005 im Prunksaal eine Ausstellung unter dem Titel „Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit“ gezeigt. Kamen viele Besucher?
Ja, wir hatten viele Besucher. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Menschen an dieser Ausstellung Anteil genommen haben. Selbst die zweite Auflage des gleichnamigen Ausstellungskatalogs, der übrigens mit dem Antiquaria-Preis zur Förderung der Buchkultur ausgezeichnet wurde, war innerhalb kurzer Zeit vergriffen. Ich denke, es ist uns hier gelungen, mit dieser Ausstellung und vor allem mit der Aufarbeitung gegenüber anderen Bibliotheken eine Vorbildfunktion einzunehmen. Es hat zum Beispiel jetzt die Universitätsbibliothek Wien auch dieses Thema aufgegriffen. Unsere Aktivitäten waren Thema beim Bibliothekartag vor drei Jahren. Und in Deutschland, wo es kein Kunstrückgabegesetz gibt, blickt man auf unser Haus und sagt: „So, wie das in Österreich gemacht wurde, das wäre auch beispielgebend für uns.“
Reden wir über einen Ihrer Vorgänger, über Paul Heigl. Ein Mann, der die Bücher liebte und dennoch bereits ab 1934 Mitglied bei der NSDAP war. Ein Besessener des Sammelns, dann des Raubens von Kulturgütern. Wie geht das zusammen?
Ich habe auch immer geglaubt, Menschen, die Bücher lesen, oder Menschen, die musizieren oder sich den schönen Künsten widmen, könnten keine schlechten Menschen sein. Aber die Erfahrung zeigt uns, und nicht nur am Beispiel von Paul Heigl, dass das kein Grund ist, nicht doch auch in so eine Richtung abzudriften. Heigl war ja schon, bevor er Generaldirektor der damaligen Nationalbibliothek wurde, ein Illegaler, war eingesperrt, ist dann nach Berlin geflüchtet. Er ist dort in die Staatsbibliothek von Berlin gekommen und hat sehr schnell Karriere gemacht. Nach dem Einmarsch wurde er sofort zum Generaldirektor der Nationalbibliothek ernannt. Er war ein Besessener – soweit ich das aus der Geschichte rekonstruieren konnte –, besessen davon, diese Nationalbibliothek zur größten Bibliothek des Deutschen Reichs zu machen und möglichst viel an geraubten Büchern hierher zu bringen.
Was würden Sie denn Herrn Rudolf Leopold raten, der erbittert gegen die Restitution ankämpft? Die Nationalbibliothek hat Briefe aus der Sammlung Duschinsky restituiert. Dieselben Erben kämpfen gleichzeitig erfolglos um Rückgabe von zwei Egger-Lienz-Bildern, die im Leopold Museum hängen.
Ich denke, dass der österreichische Staat Möglichkeiten hätte, die Sammlung Leopold zu verpflichten, dass sie geraubte Objekte restituiert. Dass man sich da so Zeit lässt, dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Man sollte nicht argumentieren, dass man nichts tun kann, weil die Sammlung Leopold kein Bundesmuseum ist. Das Museum wird vom Staat gestützt und es lässt sich finanzieller Druck ausüben oder ein Gesetz schaffen. Da braucht es einfach den Willen und ich wundere mich, dass man heute noch immer nicht den Mut aufbringt, eine Lösung zu erarbeiten. Ich habe da überhaupt kein Verständnis und ich bin einfach der Meinung, dass jede Institution ihre Geschichte aufarbeiten muss und dass endlich den Menschen, denen etwas geraubt wurde, ihr Eigentum wieder zurückgegeben wird. Da gibt es keine Entschuldigung und keine Ausreden. Wenn nicht unsere Generation endlich das Unrecht aufarbeitet, wer dann soll es machen?
Sie haben die Hebraica-Sammlung neu geordnet. Was gibt es da zu schauen und zu lesen?
Wir haben an der Nationalbibliothek etwa zweitausend Hebraica aus den Jahren 1500 bis zirka 1850 im Rahmen des Projekts Halev neu katalogisiert. Die Datensätze wurden mit einer neuen Transliteration versehen und durch eine zusätzliche Katalogisierung in hebräischer Schrift angereichert. Dann wurden diese Bücher wieder in unsere Kataloge integriert, so dass man jetzt wirklich gut recherchieren kann.
Was sind Ihre nächsten Pläne?
Wir arbeiten an der Digitalisierung von Beständen und an der Langzeitarchivierung der so gewonnenen Daten. Die Speicherung des Bestands in digitaler Form, also über die physischen Bücherspeicher hinaus, ist allerdings mit enorm hohen Kosten verbunden. Und wir sammeln heute auch Online- Medien, was unglaubliche Speicherkosten verursacht. Da benötigen wir dringend eine Erhöhung der Basisabgeltung. Wir digitalisieren schon sehr viel, so etwa historische österreichische Zeitungen.
Dann wird es die Mikrofilme also nicht mehr geben, über die man mühevoll alte Zeitung lesen musste?
Nein, das ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn Sie heute die Wiener Zeitung von 1703, da ist sie zum ersten Mal erschienen, lesen wollen, dann können Sie dies zu Hause kostenfrei tun. Wir haben auch die gesamte „Neue Freie Presse“ in Kooperation mit der Tageszeitung „Die Presse“ digitalisiert. Sie müssen also nicht mehr in die Bibliothek kommen, um zu lesen und zu recherchieren, sondern können das auch von zu Hause aus machen.
Und der Bücherspeicher, von dem Sie zu Anfang gesprochen haben?
Er soll am Heldenplatz entstehen und da wird immer wieder die Frage an mich gestellt, warum es denn ausgerechnet der Heldenplatz, also ein so teurer Bauplatz sein muss. Für mich gibt es einfach zwei Gründe: Der eine ist ein praktischer, nämlich dass wir den Bücherspeicher deshalb dort brauchen, weil wir auch die Lesesäle am Heldenplatz haben und eine unmittelbare Anbindung brauchen. Unsere Leserinnen und Leser sollen weiterhin die Bücher sofort nach der Bestellung bekommen. Auf der anderen Seite, und das ist für mich auch ein wichtiges Argument, ist der Heldenplatz einer der sensibelsten Plätze dieser Republik und er ist für mich auch ein Platz der Schande. Da ist Hitler gestanden, der später Bücher verbrennen ließ. Die Massen haben ihm zugejubelt und ich denke, dass es diesem Platz gut anstünde, wenn wir dort ein Bücherzentrum errichten würden. Vielleicht wird er ja dann einmal „Platz der Bücher“ heißen. Das wäre für mich auch ein Zeichen der Versöhnung mit diesem Platz.
ZUR PERSON
Johanna Rachinger
geboren 1960 in Oberösterreich. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik, von 1987 bis 1988 Lektorin beim Wiener Frauenverlag, von 1988 bis 1992 Leiterin der Buchberatungsstelle beim Österreichischen Bibliothekswerk. Von 1992 bis 1995 war sie Programmleiterin für den Bereich Jugendbuch beim Verlag Ueberreuter, danach Geschäftsführerin des Verlags.
LITERATUR
Murray G. HALL, Christina KÖSTNER
„… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern“
Eine österreichische Institution in der NS-Zeit
Böhlau, Wien 2006
617 Seiten
ISBN 3-205-77504-X
ISBN-13: 978-3-205-77504-1