Kommentar von Martin Engelberg
Die politische Situation Israels hat zwei Ebenen: Innenpolitisch herrscht weiterhin Instabilität, könnte es dieses Jahr wieder zu Neuwahlen kommen, und es ist nicht klar, ob sich Israel in der Post- oder gar einer weiteren Prä-Netanjahu-Ära befindet. Außenpolitisch hat sich Israel stabil zu einer, oder wahrscheinlich sogar zu der Regionalmacht des Nahen Ostens entwickelt.
In den vergangenen Wochen hat die „Rak-Lo Bibi“ („Nur nicht Netanjahu“)-Koalition aus acht sehr diversen Parteien von ganz links bis ganz rechts ihre knappe Mehrheit von 61 Mandaten (von insgesamt 120 Sitzen) in der Knesset verloren. Allerdings gibt es auch keine Mehrheit gegen die Regierung, weil zum Beispiel die arabische „Vereinte Liste“ zwar in Opposition zur Regierung steht, aber einen Misstrauensantrag (derzeit) nicht unterstützt. Sie fürchtet, dass nach einer Neuwahl wieder eine rechtsgerichtete Regierung unter Netanjahu an die Macht kommen könnte.
Ohne eine Mehrheit in der Knesset wird es aber für die derzeitige Regierung schwer werden, im Herbst das Budget für 2023 zu verabschieden. Aber wie heißt es so schön: Wer in Israel nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. Vielleicht gelingt es ja doch, das Budget zu beschließen. Oder auch nicht, und das Land wird, wie schon zuvor, nur mit einem Budgetprovisorium regiert.
Schließlich dreht sich in Israel weiterhin alles um Benjamin Netanjahu. Er ist immer noch eine bestimmende Figur der israelischen Innenpolitik, Oppositionsführer und jederzeit bereit, wieder das Amt des Premierministers zu übernehmen. Die gegen ihn laufenden Gerichtsverfahren könnten noch viele Jahre dauern oder zu gar keinem Ergebnis führen. Träte jedoch Netanjahu von der politischen Bühne ab, dann käme es wohl zu einer völligen Neuordnung der israelischen Parteienlandschaft. Israel bleibt also innenpolitisch stabil instabil.
Außenpolitisch hat sich Israel zur bestimmenden Regionalmacht des Nahen Ostens entwickelt, und zwar nicht nur militärisch und sicherheitspolitisch. Auch in allen Bereichen der Wissenschaften, modernen Technologien, der Landwirtschaft, der Energiegewinnung und nicht zuletzt der Wasseraufbereitung durch Entsalzung ist Israel heute nicht nur zur führenden Nation in der Region, sondern teilweise sogar zu einem Weltmarktführer geworden.
Die „Abraham Accords“ – der Friedensschluss mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Bahrain und in weiterer Folge auch mit Marokko – können ohne Übertreibung als historisch betrachtet werden. Und es ist nicht nur ein „kalter“ Friede, wie jener zwischen Israel und Ägypten sowie Jordanien oft bezeichnet wird. Nein, es haben sich binnen kürzester Zeit höchst intensive und freundschaftliche Beziehungen auf allen Ebenen entwickelt. Israel verbindet mit den sunnitisch-arabischen Staaten nicht nur das gemeinsame Interesse, sich dem Expansionismus des Iran entgegenzustellen. Vielmehr haben die Staaten der Abraham Accords und sicherlich auch Saudi-Arabien, das – vorerst – nur im Stillen mit Israel zusammenarbeitet, das gewaltige Potenzial Israels erkannt und offensichtlich verstanden, dass ihr Überleben langfristig nur in einer Zusammenarbeit mit Israel zu sichern ist.
Ende März 2022 fand in Sde Boker in der Negev-Wüste ein historisches Treffen statt: Sechs Außenminister (aus den USA, den VAE, Bahrain, Marokko und Ägypten) trafen einander auf Einladung ihres israelischen Kollegen auf israelischem Boden. Bei unserem Besuch mit dem österreichischen Außenminister Alexander Schallenberg und der damals noch im Amt befindlichen Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck bei Israels Außenminister Yair Lapid unmittelbar im Anschluss an den „Negev-Gipfel“ war die Euphorie über das Treffen noch gut spürbar. Dies, obwohl zur gleichen Zeit Anschläge in Israel stattfanden, die natürlich die Stimmung trübten.
Bemerkenswert auch, dass in persönlichen Gesprächen mit Regierungsvertretern der VAE deren überaus positive, ja freundschaftliche, Haltung gegenüber Israel deutlich hervorkommt. Zuletzt hat auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Israel wieder Avancen gemacht und den israelischen Präsidenten Itzhak Herzog zu einem freundschaftlichen Besuch empfangen. Eine weitere Bestätigung dafür, welch wichtiger politischer, militärischer und strategischer Player Israel geworden ist. Auf dieser Ebene befindet sich Israel – erfreulicherweise – in einer stabilen Entwicklung als Regionalmacht.