In einem Ort in der Ukraine wird eine Familiengeschichte wiederentdeckt. Obwohl 70 Jahre vergangen sind, scheint es, dass die Zeit dort stehengeblieben ist. Eine emotionale Reise durch Ostgalizien und die Vergangenheit.
Von Erwin Javor
Mein Vater wurde in Ostgalizien geboren. Damals war es ein Teil Österreich-Ungarns, später gehörte es zu Polen, dann zu Russland, war Teil des Deutschen Reiches und schließlich der Sowjetunion. Heute liegt es in der Ukraine. Mein Vater war polnischer Ulan, mein Großvater noch k. u. k. Soldat in kaiserlichen Diensten. Mein Vater weigerte sich nach der Shoa, je wieder dorthin zurückzukehren. Alles, was blieb, waren seine höchst abenteuerlichen Geschichten. Viele davon waren so unglaublich. Er war unglaublich. Ich habe ihn mein Leben lang bewundert, verehrt, und seit seinem Tod vergeht kaum ein Tag, an dem ich ihn nicht vermisse. Vermisse ich ihn? Oder ist es die sehnsüchtige Fantasie, die ich mir von meinem viel zu früh verstorbenen Vater zurechtgelegt habe? Glorifiziere ich mein Wunschbild von ihm oder wünsche ich mir, für meine Kinder so ein Vater zu sein, wie er es für mich war? Mittlerweile bin ich selbst schon Großvater, und es wurde mir immer wichtiger, nicht nur zu fühlen, sondern ganz objektiv zu wissen, ob mein Vater so war, wie ich ihn immer gesehen habe. Ich fühlte mich sogar schuldig wegen dieses immer wieder aufflammenden Verlangens, mit Sicherheit wissen zu wollen, ob er mir Heldensagen erzählt hatte oder ob er nicht nur mein, sondern wirklich ein Held war. Ich hatte Angst davor, mich dieser Wahrheit zu stellen. Ich wollte nichts herausfinden, das mein Bild, meine Liebe zu meinem Vater auch nur im Geringsten schwächen könnte. Aber ich wollte auch abschließen und die im logischen Teil meines Gehirns immer wieder aufblitzenden Zweifel so oder so aus dem Weg räumen.
Meine Reise
Im Sommer 2012 flog ich hin. Zunächst nach Lemberg, das heute Lviv heißt. Von dort aus, in einer Odyssee über Stock und Stein, zweieinhalb Stunden über Straßen, die den Namen kaum verdienen, von einem Schlagloch zum anderen, suchte und fand ich Stanislau. Heute heißt es Iwano Frankiwsk. Circa 150 km weiter lag schließlich Jablonica, das ostgalizianische Schtetl, das kleine Dorf meines Vaters in den Karpaten, das heutige Yablunytsia. Im Vorfeld hatte ich eine lokale Wissenschaftlerin und Museumsmitarbeiterin, Frau Flys, und eine Dichterin aus Stanislau, Halya Petrosanyak, ausfindig gemacht, die meine Entdeckungsreise sprachlich und als intime Kennerinnen der lokalen Gegebenheiten begleiten sollten. Als mich Halya abholte, um mit mir nach Stanislau zu fahren, wusste ich dank der beiden schon, wo wir die Synagoge und das einstige Grundstück meiner Familie in Jablonica finden würden, sogar, dass meine Familie einen ganzen Berg besessen hatte, Wald- und Grundbesitz, den die Familie gemeinsam mit einer anderen geerbt hatte. Halya ist, wie sie mir später erzählte, Huzulin, und war ebenfalls in einem Dorf, dem Schtetl meines Vaters nicht unähnlich, aufgewachsen. Mein Vater hatte immer voll Verachtung von den Huzulen und Ruthenen und ihrem primitiven, ungebildeten, gewalttätigen, versoffenen, frömmelnden Judenhass gesprochen …
Von Stanislau nach Jablonica
Stanislau hat heute etwa 200.000 Einwohner und ähnelt einer zwar im post-kommunistischen Sinn freien, aber verschlafenen, sicher nicht westlichen und schon gar nicht modernen Stadt. Die Spuren der Vergangenheit waren wie eingefroren, die Stadt noch kaum renoviert, es gibt kaum Geschäfte, keine Werbung oder sonstige Symbole einer florierenden Marktwirtschaft.
Ich stieg in einem eigenartigen Hotel gleich neben der Synagoge ab. Es war von einem Juden, der nach dem Krieg in die „judenreine“ Stadt gezogen war, renoviert worden und wird, ungeachtet der Tatsache, dass es, außer Leuten wie mir auf der Suche nach der Vergangenheit, praktisch keine jüdischen Gäste hat – woher auch – streng koscher geführt. Die Wände sind mit Stürmer-artigen Karikaturen „dekoriert“, deren bittere Ironie an die meisten Gäste vermutlich verschwendet ist.
Meine erste Anlaufstelle war der Rabbiner, ein Lubawitscher, der mir von vielen zerstörten Friedhöfen und von zumindest einigen wenigen Gedenksteinen, die an Erschießungen erinnern sollten, erzählte. Heute gibt es vielleicht noch drei Dutzend Juden in Stanislau, wo früher 35.000 lebten. Aber mitten im Nichts, wo es kaum noch Juden gibt, hat der Rabbiner koscheres Fleisch auf dem Tisch – importiert, und zwar ausgerechnet aus Wien. Das gefiel mir wieder. Letztlich sind wir unschlagbar!
In Jablonica schließlich riet mir Frau Flys, die ich ebenfalls in meine Recherchen eingebunden hatte, den katholischen Feiertag, der gerade stattfand, zu nutzen. „Alle Alten werden da sein, die können wir ansprechen.“ Vorbei an der orthodoxen Kirche kamen wir zur griechisch-katholischen Kirche und dem Friedhof, wo auf eine dicht gedrängte Menge, vor allem Frauen, aus Lautsprechern die Sonntagspredigt herunterprasselte. Dort versuchten wir unter den in festlicher Tracht aufgeputzten Huzulen, die mein Vater so verachtet hatte, Ansprechpartner zu finden. Dialoge kamen in dem herrschenden Grundverständnis „was war, war, darüber wollen wir nicht reden“ rasch ins Stocken. Angespannt in Angst, dass die Umstehenden dieses Gespräch oder den Versuch, dieses Gespräch zu führen, bemerken würden, wandten sie sich schneller ab als wir Gelegenheit hatten, eine Basis dafür aufzubauen.
Was mir erst dort bewusst wurde, war die Komplexität der Unterdrückungspraktiken in diesen Dörfern. Ich wusste natürlich von der Unterdrückung und Verfolgung der Juden. Was mir erst dort klar wurde, war die Perfidie, dass unsere Unterdrücker, diese Ruthenen und Katholiken, die mit so viel leidenschaftlichem Hass auf uns Juden herunterblicken wollten, selbst – erst von den Polen, später den Deutschen, den Ungarn und dann den Russen – eine lange Unterdrückungsgeschichte erlebt hatten. Das veränderte etwas in mir – und machte es mir nicht leichter, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen.
Väter
Dann sahen wir einen uralten Mann den Berg herunterkommen. Wie sich später herausstellte, war er etwas jünger als ich. Viel gesprächiger als die anderen war er auch nicht, aber er zeigte auf Häuser, die ehemaligen „jüdischen Häuser“ unten am Berg, von denen ihm seine Eltern erzählt hatten, und er verwies uns an einen anderen, diesmal wirklich alten Mann. Der hieß Mazalak, war Jahrgang 1930. Ich fragte ihn nach meinem Vater und meiner Familie. Engelstein? Kannte er nicht. Unter anderem deshalb, weil es im Dorf nicht üblich war, sich beim Nachnamen zu nennen. Ich fragte ihn schließlich, ob er überhaupt Juden gekannt hätte. Wie aus der Pistole geschossen meinte er: „Pokusch und Ksil.“ Mir blieb das Herz stehen. Der Spitzname meines Vaters, den ich bisher niemandem gegenüber erwähnt hatte, war Pokusch. Er hatte mir auch erzählt, dass er unter Juden „der Lange“ genannt wurde, weil er der Größte in der Familie war. Und „Pokurcz“ bedeutet auf Polnisch „Winzling“, was immer die Zusammenhänge sein mögen. Ksil war sein Bruder Karol. „Pokusch hat meinem Vater das Leben gerettet!“ rief Mazalak aus und brach in Tränen aus. Das war das Wesentliche, was er sich von meinem Vater gemerkt hatte, aber dem ging viel voraus: Mazalaks Vater hatte im Straßenbau gearbeitet. Er hatte Pokusch 1942 in Worochta, als die Deutschen begannen, mit Hilfe der Einheimischen die dortigen und aus Ungarn deportierten Juden zu erschießen, im richtigen Moment das Richtige gesagt: „Geh nicht in dein Haus. Sie erschießen Juden.“ So hatte mein Vater es mir erzählt. Er und sein Bruder waren daraufhin geflohen. Mit falschen Papieren, über Rumänien, landeten sie schließlich in einem Arbeitslager in Ungarn, dem sie mit Hilfe einer sich polnisch fühlenden Gräfin ebenfalls entkamen. Diese Zeit alleine würde Bücher füllen, aber ich halte sie kurz, um den Faden in Jablonica wieder aufzunehmen, wohin mein Vater, sein Bruder und meine Tante in einem unglaublichen, abenteuerlichen Fußmarsch zurückkehrten, da sie dachten, das Kriegsende wäre nicht mehr weit und unter den Russen würden sie bessere Lebens- und Überlebensbedingungen vorfinden. Sie hatten sich allerdings zeitlich verkalkuliert, denn als sie im Ort ankamen, waren die Russen noch nicht dort, und sie saßen abermals in der Falle. Und das war der entscheidende Moment, von dem Mazalak erzählte: „Vasylyna Tynkaljuk hat Pokusch in diesem Erdloch versteckt.“
Vasylyna
Wir suchten nun diese Frau, von der Mazalak berichtet hatte. Wir gingen in das Haus, eher eine Hütte, das er uns gezeigt hatte und fanden eine alte Frau vor. Vasylyna Motruk, geborene Tynkaljuk, lebte hier mit ihrem einzigen Sohn, einem Alkoholiker, lag im Bett und hörte kaum noch. Als wir sie nach versteckten Juden, zwei Männern und einer schwangeren Frau, fragten, schrie sie sofort „Pokusch!“ und zeigte in die Richtung, wo das Erdloch wäre, in dem sie ein halbes Jahr lang vergraben gewesen waren. Vasylyna begann zu weinen und Psalmen zu singen. Die alte Frau war das Pflegekind des Ehepaars, das Pokusch und die beiden anderen einst gerettet hatte. Wie sie die Geschichte erzählte, hatte Pokusch ihre Pflegemutter, Kateryna Mysjuk, gebeten: „Rette mich!“ Sie hatte zuerst geantwortet: „Ich muss Mychajlo, meinen Mann, fragen.“ Aber dann hätte Vasylyna von ihren Pflegeeltern den Auftrag bekommen, zwischen einem Apfelund einem Birnbaum das Erdloch zu graben. Das bedeutete damals akute Lebensgefahr auch für sie. Sie hatten auch keine Zweifel daran, dass ihre Nachbarn sie sofort angezeigt hätten, wenn sie draufgekommen wären, und die Gestapo hätte auch mit ihnen kurzen Prozess gemacht. Sie brachten den Versteckten, ausschließlich nachts, in einem Kübel Essen zum Apfelbaum und taten dabei, als ob sie Wasser holen wollten. Sie hatten schreckliche Angst davor, erschossen zu werden, aber sie taten es. Mein Vater, sein Bruder und seine schwangere Frau konnten dieses Erdloch sechs Monate lang so gut wie nie verlassen, nur bei Neumond, im Schutz der Dunkelheit.
Ich wollte es sehen. Vasylynas Sohn bot an, es uns zu zeigen, aber sie wehrte zunächst ängstlich ab. „Die Leute werden reden.“ Sie hatte immer noch Angst. Wir sahen es schließlich doch. Reste einer Erdgrube waren zu erkennen, der Apfelbaum stand noch.
Ich fragte Vasylyna: „Hat sich mein Vater revanchiert?“ Ja, das hatte er. Er hatte später der Familie ein Haus, Grund und Geld geschenkt. Vasylyna hatte dann einen Mann geheiratet, der der anti-russischen Ukrainischen Aufstandsarmee UPA angehörte und später zu 25 Jahren Sibirien verurteilt wurde. Die ganze Familie verbrachte daraufhin zehn Jahre in Zwangsarbeit in Sibirien. Dann wurde er begnadigt, und die Familie kehrte zurück. Zu Hause wurden sie dann als Verräter oder Russenschweine beschimpft und ihr Haus, das sie von Pokusch bekommen hatten, war zerstört worden. Daraufhin hatten sie diese Hütte gebaut, in der wir Vasylyna als alte Frau mit ihrem Sohn vorfanden. Der Mann hatte sie kurz nach ihrer Rückkehr aus Sibirien wegen einer jüngeren Frau verlassen. „Mein langes Leben verdanke ich Pokusch“, sagte sie mir ohne Bitterkeit, zu der sie jede Berechtigung gehabt hätte, „er hat für mich gebetet.“
Pokusch wird Bürgermeister
Dass mein Vater nach dem Krieg überhaupt in die Lage kam, sich bei Vasylynas Familie zu revanchieren, kam so: Sein Bruder und er hatten zu Kriegsende nach sechs Monaten im Erdloch lange Bärte wie Rabbiner – oder Popen, und Popen waren den Russen zu diesem Zeitpunkt genauso suspekt wie die Juden den Nazis. „Wir sind Juden“, mussten sie nun nicht verbergen, sondern beweisen. Um den russisch-jüdischen Offizier zu überzeugen, der in diesem Moment ihr Schicksal in der Hand hatte, begannen sie auf Hebräisch zu beten. Es half – und da zu diesem Zeitpunkt, 1944, nicht allzu viele glaubwürdige Nicht-Nazis in der Gegend zu finden waren, machten die Russen meinen Vater im mittlerweile „judenreinen“ Jablonica zum Bürgermeister. Das hatte er mir oft erzählt und ich gestehe, ich hatte Momente, für die ich mich nach dieser Reise schäme, wo ich mir nicht sicher war, ob das wahr oder eine Räubergeschichte war, wie sie ein Vater seinem Kind eben erzählt.
Wie ich nun erfuhr, stimmte es. Der Bruder meines Vaters und dessen hochschwangere Frau waren inzwischen wieder in Ungarn und mein Vater, der Bürgermeister von Jablonica, ging von Haus zu Haus und lieferte den Russen die Nazis aus. Er zeigte Mörder und Plünderer an, die „wie bei den Juden“, wie Mazalak sich sehr wohl erinnerte, auf einen Sammelplatz gebracht wurden. Die nächste Station der mordenden und plündernden Ukrainer war allerdings Sibirien, nicht wie für die Juden der Massenerschießungsplatz im benachbarten Wald. Mazalak erzählte von dem Moment, wo sein Vater für den Zug nach Sibirien fällig gewesen war. Aber Pokusch, mein Vater, hatte gesagt: „Der nicht.“ Pokusch hatte sich revanchiert. Er hatte nicht vergessen, was „der“ für ihn getan hatte. Er hatte sein Leben gerettet, nun rettete er ihm das seine. Der alte Mann vor mir weinte.
Die Ära meines Vaters als Bürgermeister von Jablonica endete wieder, nachdem er auf die Abschussliste der UPA, der Ukrainischen Aufstandsarmee, geraten war und ihm bewusst wurde, dass er hier allein unter Feinden, wo er nicht einmal mehr die Gräber der Seinen finden konnte, kein Leben hatte. Abermals von Bauern, diesmal in einem Heuwagen, versteckt, floh er wieder nach Ungarn. Der alte Mann hatte mir bestätigt, was mein Vater erzählt hatte.
Die anderen Juden
Ich fragte nach den anderen Juden. Da waren keine mehr. Angeblich waren einige wenige ebenfalls „versteckt“ gewesen. „Ich weiß es nicht“, hörten wir oft. Oder „kann mich nicht erinnern“. Aber das Stichwort „Pokusch“ löste immer wieder Reaktionen aus. „Er war ein guter Mensch“ oder „er war reich“. Einige meiner ängstlichen und zögerlichen Informanten waren nach dem Krieg auch zu Geld gekommen. Fürs Judenretten? Sie erzählten es nicht.
Es hatte Massenerschießungen gegeben, soviel stand fest, auch wenn hier nicht einmal eine Gedenktafel darauf hinwies. Das hatten die Russen mit der Begründung verweigert, dass hier keine Juden, sondern, wie anderswo auch, sowjetische Bürger erschossen worden waren. Eine Frau erzählte wieder von Pokusch. „Er hat meiner Mutter Tücher verkauft, auf Raten“, berichtete sie. Und wir hörten, dass die Erschießungskommandos um 17 Uhr aufhörten. Bürozeit Ende. So wurde ein junges Mädchen noch einmal nach Hause geschickt. „Geh nach Hause, schönes Kind.“ Ihre Familie war schon erschossen worden.
Vom ehemaligen jüdischen Friedhof, in Tatarow, wo einst meine Vorfahren begraben wurden, war keine Spur mehr zu sehen. Nur noch ein einziger großer, verwaister Grabstein, den die Bauern noch nicht zum Bauen ihrer Häuser geholt hatten, erinnerte an den Friedhof. Dieser eine Stein war wohl zu schwer zu transportieren. „Es hat Erschießungen am Fluss gegeben“, erzählten zwei alte Frauen, die mit einem Hund durch den ehemaligen Friedhof marschierten. Im ehemaligen Gestapo-Haus lebt nun ein Oligarch. Wo einmal die Synagoge war, steht jetzt ein Trafo.
In Jeremce fanden wir ein Antiquitätengeschäft, das Judaica, unter anderem Kiddusch-Becher und Dutzende Schabbes-Leuchter führte. Ich kaufte zwei ganz einfache. Wer weiß, vielleicht hatte einer meiner Verwandten irgendwann einmal gerade die in der Hand gehabt. „Im Winter ist Saison“, meinte der Besitzer, „da habe ich mehr Ware.“ Ich dachte nur: „Bis heute verkaufen sie die Juden, obwohl sie sie schon längst alle ausgerottet haben.“
Im Grunde genommen ist dort die Zeit stehengeblieben. Viele sind heute, wie sie damals waren. Gewaltbereit, primitiv, patriarchalisch, ängstlich hinter ihrem Wirtshausgebrüll versteckt. Aber einige von ihnen sind trotzdem fähig, in Extremsituationen aus ihren Glaubenssystemen andere, nämlich ethische Schlussfolgerungen zu ziehen – und unter Einsatz ihres eigenen Lebens den einen oder anderen Juden zu retten.
Danach
Ich fuhr wieder nach Hause. Selten war mir so bewusst, wie wenig selbstverständlich das war. Ich fuhr nach Hause, zu meiner Frau, meiner Familie, zurück in mein Leben. Was ich erlebt habe, hat mich nicht verändert, aber es hat mich doch verändert. Es war meine emotionalste und anstrengendste Reise. Unbändige Wut, Trauer und Glücksgefühle ließen mich für eine Weile nicht mehr schlafen. Und Dankbarkeit, dass es immer wieder, auf allen Seiten, doch ein paar Menschen, wirkliche Menschen gibt.
Ich habe mich nie als Opfer gefühlt. Ich kann Opfergeschichten nicht ausstehen. Es verletzt meinen Stolz, ein Opfer sein zu sollen. Ich fände es auch obszön, mich als Opfer zu fühlen, denn mir selbst ist nichts geschehen, das auch nur annähernd mit dem Schicksal der Generation meiner Eltern verglichen werden darf. Ich wollte mich nie mit dem Leid meiner Vorfahren „schmücken“. Es wäre zu leicht. Nach dieser Reise will ich es noch weniger. Ich will nie – nie! – Opfer sein.