Corry Guttstadt erzählt die Geschichte türkischer Juden und räumt mit dem Mythos auf, die „judenfreundliche Politik“ der Türkei habe dort lebende Juden vor dem Holocaust gerettet.
Von Mary Kreutzer
Obwohl die türkischen Juden in Europa eine beeindruckende Gruppe bildeten, wurde ihr Schicksal während der Shoah bis heute kaum aufgearbeitet – weder von Seiten der offiziellen Türkei noch von der Holocaust- Forschung. Die Turkologin Corry Guttstadt leistet mit dieser Neuerscheinung Pionierarbeit und räumt mit dem Mythos auf, die Türkei habe durch ihre „judenfreundliche Politik“ unzählige türkische Jüdinnen und Juden vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet. Genährt wurde dieser Mythos durch zahlreiche internationale Publikationen. Hier behauptete man unter anderem, die Türkei sei immer schon durch ihre tolerante Haltung gegenüber ihrer jüdischen Minderheit hervorgetreten und leitete dies sogar – als angeblich logische Konsequenz – von der Aufnahme aus Spanien vertriebener Juden durch das Osmanische Reich nach 1492 ab. Die Konstruktion einer unverbrüchlichen türkisch-osmanischen Toleranz gegenüber Juden hielt Corry Guttstadts umfassenden Recherchen nicht stand. Das Resultat ist ein einzigartiger Band, der eine Unmenge an Dokumenten zitiert sowie unzählige – es sind insgesamt über 30 – Interviews mit Überlebenden und Nachfahren türkischer Jüdinnen und Juden einarbeitet. Die Autorin betrachtet ihre Studie „lediglich als Zwischenergebnis“, da die Archive des türkischen Außenministeriums der Forschung – leider – bis heute nicht zugänglich sind. Die Türkei war bis kurz vor Kriegsende, als sie Deutschland doch noch den Krieg erklärte, neutral geblieben. „Neutral pro-deutsch“, könnte man es auch nennen. Zwar gab es zu keinem Zeitpunkt eine explizit antijüdische Gesetzgebung, jedoch trafen die Maßnahmen gegen Nichtmuslime die türkischen Juden während des Weltkrieges besonders hart: Entlassungen, Berufsverbote, Abschaffung von Minderheitenrechten, Zwangsumsiedelungen, Zwangsarbeit, Sondersteuern. Der Entzug der Staatsbürgerschaft bei Tausenden in Europa lebenden türkischen Juden hatte die katastrophalste Konsequenz all jener Maßnahmen zur Folge: Die Betroffenen waren der NS-Verfolgung nun schutzlos ausgeliefert waren. Es waren zwischen 2.200 und 2.500 Jüdinnen und Juden türkischer Abstammung, die in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor deportiert wurden, weitere 300 bis 400 kamen in Konzentrationslager. Die „Festung Türkei“ machte ihre Grenzen für Flüchtlinge dicht (während deutsche Kriegsschiffe bis Sommer 1944 problemlos die Meerengen passieren konnten) und torpedierte Möglichkeiten der Remigration von Juden in die Türkei. Zusätzlich wurden Rettungsaktivitäten von jüdischen Hilfsorganisationen auf alle erdenklichen Arten behindert, etwa indem man die Durchfahrt und auch das Anlegen von Flüchtlingsschiffen untersagte. Für die 769 jüdischen Flüchtlinge an Bord der seeuntauglichen „Struma“ – darunter etliche Kinder – bedeutete diese Politik am 25. Februar 1942 einen qualvollen Tod vor der Küste Istanbuls, nachdem sie 70 Tage lang geankert und nicht an Land gelassen wurden. Corry Guttstadts Studie beleuchtet präzise einen dunklen Aspekt der kemalistischen Türkei, ihre Verstrickung in die Shoah – und die tragische Geschichte der türkischen Juden.