Offene Türen in eine dunkle Vergangenheit

„Bald sind wir wieder zuhause“ gewährt aus jugendlicher Perspektive einen Einblick in die Schicksale sechs Schoah-Überlebender in Schweden. © Cross Cult

Comics sind heute mehr denn je Schauplätze für das Grauen des Holocaust. Sie erlauben große Spielräume, um individuelle Schicksale und Zeitzeugenberichte lebendig zu machen – oft aus einer ganz persönlichen Perspektive. Eine Auswahl von Graphic-Novel-Neuerscheinungen zum Thema.

Von Karin Krichmayr

Hilda Dajč ist 19 Jahre, als sie sich freiwillig als Krankenschwester in der jüdischen Krankenstation des KZ Sajmište in Belgrad meldet. Ein Foto aus dieser Zeit, nachgezeichnet von Aleksandar Zograf im Comicband Partisanenpost, zeigt sie mit leuchtenden Augen und einem angedeuteten Lächeln in den feinen Gesichtszügen.

Geboren in Wien in eine jüdische Familie, die später nach Belgrad übersiedelte, ist sie drauf und dran, ein Architekturstudium zu beginnen, als ihr 1941 die Bombardements der Deutschen einen Strich durch die Rechnung machten.

Der Serbe Aleksandar Zograf, einer der bekanntesten Comickünstler Osteuropas, hat Dajčs Briefe, die sie regelmäßig aus dem KZ schmuggelte, in Bilder übersetzt, die illustrieren, wie sich die Situation innerhalb kürzester Zeit in einen Albtraum verwandelt. „Alles auf dieser Welt ist wunderschön, selbst die allerelendigste Existenz außerhalb des Lagers – das hier hingegen ist der Inbegriff aller Untergänge“, schreibt sie. Und weiter: „Das Leben jedes einzelnen da draußen geht weiter, als ob sich nicht einen halben Kilometer entfernt ein Gemetzel an 6000 Unschuldigen ereignet. Wir alle sind uns ähnlich in unserer Feigheit, ihr und wir.“

Seelenvernichter

Es sind abgeklärte und doch aus tiefster Seele verzweifelte Worte, die ihren Weg in das Draußen finden. 1942 wird Hilda Dajč in einem Gaswagen, genannt „Seelenvernichter“, ermordet. Die Briefe der Hilda Dajč ist eine von insgesamt 30 Geschichten, die Zograf in Partisanenpost (auf Deutsch im Wiener Bahoe Books Verlag erschienen) versammelt. Anhand von zum Teil auf dem Flohmarkt aufgestöberten Fotos und Tagebüchern, Briefen, Zeitungsartikeln, Notizbüchern und Propagandamaterial dokumentiert Zograf, dessen Großvater aktives Mitglied der kommunistischen Widerstandsbewegung war, nicht nur die Facetten des Schreckens der deutschen Besetzung Jugoslawiens, der Auflehnung und der Niederlagen, sondern erzählt auch Szenen des Alltagslebens unter wahnwitzigen Bedingungen.

Im heurigen Jubiläumsjahr, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, sind Graphic Novels mehr denn je Schauplätze für das Grauen des Holocaust. Seit Art Spiegelmans Maus vor dreißig Jahren das Eis gebrochen hat für die Darstellung des Undarstellbaren auch in der vermeintlich bloß unterhaltungsorientierten Comickunst, hat sich gezeigt, wie gut sich das Medium eignet, Leserinnen und Leser in den Bann zu ziehen und für ein Thema zu interessieren, das vielen schon längst als überholt erscheint. „Comics rücken Dinge näher“, wie Zograf (in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur) sagt. „Auch jüngere Leser nehmen eher einen Comic als ein Buch zur Hand. Ich wollte zeigen, dass du, auch wenn du Comics machst, nicht unbedingt ein Clown bist und verrückte Dinge in deinen Geschichten passieren lässt. Du kannst auch über schwierige Themen wie den Holocaust sprechen.“

Insbesondere persönliche, biografische, dokumentarische Zugänge finden in Graphic Novels ein ideales Biotop. Der Bahoe Books Verlag, zusätzlich zu seiner politischen Sachbuchschiene mittlerweile der größte Comic-Verlag Österreichs, legt regelmäßig Graphic Novels vor, die einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung des Holocaust leisten. Heuer erschien u.a. Cartier-Bresson, Deutschland 1945, das ein Foto des berühmten Fotografen zum Ausgang nimmt, auf dem er festhält, wie eine Überlebende bei der Befreiung durch die Alliierten eine Denunziantin erkennt, sowie Überleben in Dachau, das Zeugnis von Guy-Pierre Gautier, dem Großvater des Zeichners Tiburce Oger.

Österreichische Comicszene

Der letzte Weg des Wiener Comiczeichners Thomas Fatzinek kam bereits 2019 heraus und dreht sich darum, wie sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im polnischen Białystok im Juni 1941 jüdische Partisaneneinheiten formierten, um der Willkür der mordenden Nazis Widerstand entgegenzusetzen. Der in Grau-Weiß-Tönen gehaltene Band ist bereits die fünfte Veröffentlichung von Fatzinek, der sich wie kein anderer in der österreichischen Comicszene verdrängten historischen Begebenheiten widmet. Die Schönheit der Verweigerung thematisiert die Widerstandsbewegung im Salzkammergut in den letzten Kriegsjahren, davor erschien u.a. der Band Schwere Zeiten, in dem er den Lebensweg der jüdischen Schauspielerin und Schriftstellerin Lili Grün nachzeichnet.

Ein dunkles Kapitel ihrer Familiengeschichte war Ausgangspunkt für den großartigen Comic-Roman Irmina der deutschen Zeichnerin Barbara Yelin, der kürzlich in einer Taschenbuchausgabe im Reprodukt Verlag neu aufgelegt wurde. Auf Basis der biografischen Bruchstücke, die sie im Nachlass ihrer Großmutter fand, hat Yelin die literarische Figur einer Frau zusammengesetzt, die sich von einer nonkonformistischen, weltoffenen und wissensdurstigen Fremdsprachensekretärin zur Nazi-Mitläuferin wandelt, die die Augen vor der Misshandlung und Deportation von Juden und Jüdinnen verschließt. Ein äußerst unbequemes Unterfangen, das Yelin beeindruckend meisterte.

In ihrem neuen Projekt mit dem Arbeitstitel But I live zeichnet Barbara Yelin die Erinnerungen der hochbetagten Holocaust-Überlebenden Emmy Arbel auf. Die Initiative dafür ging von dem einzigartigen internationalen Forschungsprojekt „Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education“ (http://holocaustgraphicnovels.org) aus, das an der kanadischen University of Victoria angesiedelt ist und sich die Frage stellt, wie Graphic Novels Berichte von Zeitzeugen darstellen können. Die daraus entstehenden Arbeiten sollen insbesondere im Unterricht eingesetzt werden.

„Ein Bild ist für mich weniger eine Behauptung, sondern eine Tür, eine Einladung, eine Frage“, beschreibt Yelin (im Bayerischen Rundfunk) den Reiz der Graphic Novels gerade in der Vermittlung komplexer Themen. Die Bahoe-Books-Verlagsleiter Rudi Gradnitzer und Leo Gürtler formulieren es so: „Es gibt eine neue Generation von Leserinnen und Lesern, die sich die diskursive Auseinandersetzung mit langen Texten nicht zutrauen. Wir hoffen, dass wir mit unseren Comics den heutigen Sehgewohnheiten entgegenkommen, die sich durch die ubiquitäre Verbreitung von Monitoren massiv verändert haben.“

Schnörkellos

Bewusst auf junge Leserinnen und Leser zielt auch Bald sind wir wieder zuhause ab, das einen Einblick in die Schicksale von sechs Schoah-Überlebenden gibt, die in Schweden Zuflucht gefunden haben – aus der Kinderperspektive. Eine von ihnen ist Susanna, die mit ihrer Familie im ungarischen Makó lebt, bis sie auf einen Schlag ihrem Leben entrissen wird und in eine Odyssee gerät, deren erste Station das Durchgangslager Strasshof nahe Wien ist. Danach muss sie auf einem Bauernhof bei Bruck an der Leitha Zwangsarbeit verrichten, bis sie ins KZ Bergen-Belsen deportiert wird. Zwei Tage nach der Befreiung stirbt ihr Vater, eine Woche danach ihre Mutter. Sie selbst wird nach Schweden gebracht, wo sie ein neues Leben beginnen kann.

Jessica Bab Bonde, selbst mit ihrer Familie vor den Nazis nach Schweden geflohen, hat viele Interviews mit Überlebenden geführt und gemeinsam mit dem Zeichner Peter Bergting ein Buch gestaltet, das mit einer direkten, schnörkellosen, oft fast nüchternen Sprache arbeitet, ergänzt durch Landkarten, ein Glossar und eine Zeittafel. Die Zeichnungen kehren das Comichafte ebenso hervor wie das infernohafte Grauen – und sind gerade dort am stärksten, wo die Sprache versagt.

Kindliche Sichtweise

Eine kindliche Sichtweise – sowohl im tagebuchartigen Text als auch in den eindringlich krakeligen Zeichnungen – bietet auch Exodus (siehe S. 44). Im September erscheint bei Bahoe Books ein weiteres Buch, das Kinder in den Mittelpunkt rückt: Die Kinder der Resistance schildert, wie sich zwei Buben und ein Mädchen in einem von der Wehrmacht besetzten Dorf in Frankreich dem Feind widersetzen. Die französische Originalfassung, die bereits sechs Bände umfasst, ist in Frankreich und Belgien ein Bestseller.

Unterm Strich geht es in allen Geschichten aber um eines: Die ganz konkrete Erinnerung am Leben zu halten, um auch heute Stellung beziehen zu können gegen Antisemitismus und Entmenschlichung jeder Art. Oder, wie es Emerich, eines der sechs Kinder aus Bald sind wir wieder zuhause, sagt: „Kein menschliches Wesen sollte so etwas je erleben oder sehen müssen, was mir widerfahren ist.“

Karin Krichmayr schreibt regelmäßig über Comics und Graphic Novels in ihrem Blog „Pictotop“ auf https://dST.at/pictotop

Aleksandar Zograf
Partisanenpost
Bahoe Books, Wien 2020, 144 S., EUR 19,–

Thomas Fatzinek
Der letzte Weg
Bahoe Books, Wien 2019, 120 S., EUR 17,–

Barbara Yelin
Irmina
Reprodukt, Berlin 2020, 288 S., EUR 14,90

Jessica Bab Bonde, Peter Bergting
Bald sind wir wieder zuhause
Cross Cult, Ludwigsburg 2020, 104 S., EUR 20,–

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