Der deutsch-russisch-jüdische Klaviervirtuose der jüngeren Generation, Igor Levit, ist einer der besten Pianisten der Gegenwart.
VON MARTIN RUMMEL
Igor Levit wird von vielen als „Jahrhundertpianist“ bezeichnet.
Ausgerechnet an einem Freitag, dem dreizehnten Tag des Monats Dezember 2013, schleuste mich Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, in die zweite Hälfte des Klavierabends von Igor Levit. Ich wusste zwar, wer er war, hatte aber bis dahin weder ein Konzert besucht noch eine Aufnahme gehört.
Wir erleben derzeit eine Flut an jungen „Star“-Interpreten, über die die Generation der großen Instrumentalisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur wenig Positives zu sagen hätten: Die Tugenden von makelloser Intonation bei Streichern oder Bläsern, differenzierte Farben der Interpretation, das Durchdringen von ganzen Werkzyklen und ganz einfach das Befolgen der Anweisungen des Komponisten in der Partitur scheinen generell gegenüber der Bühnenshow, wehenden Haaren, fliegenden Bögen und schulterfreien Kleidern unwichtig zu sein. Luciano Pavarotti, Itzhak Perlman, Daniel Barenboim, Montserrat Caballe, Jessye Norman, James Galway und viele andere würden heutzutage als junge Künstler wahrscheinlich keine Karriere mehr machen, ganz einfach, weil sie nicht der optischen Norm entsprechen und sich nicht auf den Showeffekt der Musik konzentrieren, sondern, um Jessye Norman zu zitieren, ganz einfach „Klappe auf, singen“.
Scharfer Geist eines Musikers voller Leidenschaft
Allein die Programmwahl von Igor Levit am 13. Dezember 2013 in Köln (Beethovens Hammerklavier-Sonate, eine Passacaglia von Muffat, zwei Liszt-Werke in Busoni-Fassungen, eine Klavierversion eines Wagner-Stückes sowie ein kleines Stück von Frederic Rzewski) deutet auf dessen Nonkonformismus mit dem Markt hin – üblicherweise hört man bei solchen Gelegenheiten eher Mozarts Alla turca oder die Mondschein-Sonate, etwas Chopin und eine der Ungarischen Rhapsodien von Liszt. Zu hören war an diesem Abend ein junger Künstler (Levit ist Jahrgang 1987), der auf der Bühne das Risiko zum extremen Ausdruck nicht scheut, sich keine Sorgen macht, wie er aussieht, während er spielt, und für den ganz klar die Musik im Vordergrund steht. Ich war selten so fasziniert und voller Bewunderung für die zur Schau gestellten instrumentalen Fähigkeiten in Kombination mit einem so hörbar scharfen Geist eines Musiker voller Leidenschaft, von seltener rhetorischer Intensität und intellektueller Kontrolle über das musikalische Geschehen. Und doch hat sein Musizieren auch eine ungebremste Wildheit, die sich in Worten kaum fassen lässt.
All das war dann auch beim anschließenden Abendessen zu spüren; Levit sprach mit großer Begeisterung von vielen unterrepräsentierten Werken Busonis, von der Pflicht, solche Werke aufzuführen und in einen Kontext zu bringen. Die Gespräche drifteten rasch zu Literatur, Architektur, Politik und Kunst. Igor Levit ist ein umfassend gebildeter, neugieriger und interessierter Künstler, der seinen Beruf als Vermittler zwischen all diesen Sparten und vor allem von Mensch zu Mensch sieht. Und dann sind da die ganz „normalen“ menschlichen Aspekte des Menschseins, die in großer Emotionalität besprochen werden.
Die richtigen Töne zur richtigen Zeit
Seine jüngste CD-Veröffentlichung ist, nach den letzten drei Beethoven- Sonaten und den Bach-Partiten, ein Dreierzyklus der großen Variationsreihen von Bach (Goldberg), Beethoven (Diabelli) und Rzewski (The People United Will Never Be Defeated). Nun könnte man zwar mit der Martin-Stadtfeld- Keule kommen, aber die ist in diesem Falle vollkommen unangebracht. Bei Igor Levit (der übrigens keinen der großen Klavierwettbewerbe gewonnen hat) hören wir keine willkürlichen Entscheidungen über Wiederholungen und nicht nur technische Perfektion in Hinblick auf richtige Töne. „Es ist nicht so schlimm, einen falschen Ton zur richtigen Zeit zu spielen, wie einen richtigen Ton zur falschen Zeit“, war vor hundert Jahren einmal eine vielbeachtete Devise.
Igor Levit spielt, und hier ist das Wunder, die richtigen Töne zur richtigen Zeit. Die Darstellung eines Dreigestirns der Musikgeschichte, mit einer Durchdringung, die ihresgleichen sucht. Wann immer Sie demnächst etwas über Wölfe im Zusammenhang mit Klavierspiel lesen, nehmen Sie Igor Levits Aufnahme der Bach’schen Goldberg-Variationen zur Hand, schalten Sie zu Track 21 (der 20. Variation) – und vergessen Sie die Wölfe. Igor Levit gehört nicht nur die Zukunft, für mich gehört ihm schon die Gegenwart.