Was ist von der berühmten jüdischen Stadt am Latorca geblieben, welche Bedeutung hat sie für Munkácser Juden und deren Nachkommen heute? NU hat sich unter Wiener Munkácsern umgehört.
Von David Rennert
Kommt ein Reisender nach Munkács, geht ins Cafe und unterhält sich mit einem Einheimischen. Der erzählt aus seinem Leben: „Gebürtig bin ich in Österreich-Ungarn, meine Frau habe ich in der Tschechoslowakei kennengelernt, die Kinder sind in Ungarn zur Welt gekommen, dann haben wir in der Sowjetunion gelebt. Aber heute bin ich Ukrainer.“ Der Reisende staunt nicht schlecht: „Viel herumgekommen in der Welt!“ Antwortet der Munkácser: „Eigentlich habe ich die Stadt nie verlassen.“
Diese bekannte Anekdote, erzählt in unterschiedlichsten Varianten, bringt die wechselhafte Geschichte der heute westukrainischen Stadt pointiert auf den Punkt. Freilich heißt sie inzwischen, nachdem sie im Laufe des 20. Jahrhunderts fünfmal die Nationalität wechseln musste, nicht mehr Munkács, sondern Mukachevo. In der jüdischen Welt aber hat sie stets ihren ungarischen Namen beibehalten und ist zu einem Begriff geworden, der nur noch wenig mit der Realität Transkarpatiens zu tun hat.
Einst war Munkács die größte und bedeutendste jüdische Gemeinde Transkarpatiens. Zwischen den beiden Weltkriegen waren knapp die Hälfte der 40.000 Einwohner Juden, Munkács war das wirtschaftliche und religiöse Zentrum der Region. Bis zur Shoah gab es etwa 30 Synagogen, die chassidischen Jeschiwot erreichten Bekanntheit weit über die Grenzen des Landes hinaus. Besonders unter dem Rabbiner Chaim Elasar Spira, der von 1913 bis zu seinem Tod 1937 der Gemeinde vorstand, erlangte der Munkácser Chassidismus großes Ansehen. Er war vehementer Antizionist, vermochte die Bewegung aber auch in Transkarpatien nicht aufzuhalten: Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten zionistische Organisationen großen Zulauf, bereits 1924 wurde in Munkács das erste hebräische Gymnasium gegründet. Überhaupt war das politische Leben facettenreich: Linke, rechte und religiöse zionistische Gruppen rivalisierten mit sozialistischen, antizionistischen Organisationen, mit Kommunisten und antizionistischen Orthodoxen. Auch innerhalb des Chassidismus gab es heftige Kontroversen, die unter Anhängern des Munkácser und des Belzer Rabbiners bis heute zwischen Brooklyn und Mea Shearim in Jerusalem ausgetragen werden.
Anfang 1944 lebten noch rund 15.000 Juden in Munkács, deren Leben sich seit der Besetzung durch die ungarische Armee im November 1938 deutlich verschlechtert hatte. Als im März 1944 die Nationalsozialisten in Ungarn einmarschierten, fand die traditionsreiche Munkácser jüdische Geschichte ein jähes Ende: Binnen acht Wochen wurde die jüdische Bevölkerung nach kurzer Ghettoisierung großteils nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Heute zählt die jüdische Gemeinde in Munkács etwa 100 Mitglieder, von dem einstigen blühenden jüdischen Leben ist nichts geblieben. Die chassidischen Traditionen existieren weiter, die größten Munkácser Gemeinden befinden sich in Brooklyn, geleitet vom heutigen Munkácser Rabbiner Moshe Leib Rabinovich.
Und abseits der chassidischen Traditionen? NU sprach mit einem geborenen Munkácser und vier Nachkommen über ihre Verbindung zu Munkács, die Bedeutung der Erinnerung in der Familie und was bis heute davon geblieben ist.
Viktor Klein, geboren 1928 in Munkács, lebt seit 1956 in Wien. Er gründete mit seinem Bruder ein Pelzgeschäft und ist im Schmuck- und Art-Deco-Handel tätig. Er ist verheiratet, Vater von drei Kindern und hat zwölf Enkelkinder.
„Ich habe bis 1944 in Munkács gelebt, war 16 Jahre alt, als ich deportiert wurde. Zuerst bin ich nach Auschwitz gekommen, dort war ich ein Jahr. Danach war ich in Mauthausen, Melk und Ebensee. In Ebensee bin ich dann befreit worden. Bei der Deportation waren wir 85 Leute aus der Familie, alle in einem Waggon. Zurückgekommen sind drei. Davon bin ich der einzige, der heute noch lebt. Vor dem Krieg bin ich vier Jahre in die ungarische Schule gegangen, danach in die tschechische Schule. Meine Eltern sind beide in Munkács geboren, unsere Muttersprache ist Jiddisch – mein Vater war Chassid. Die Chassidim waren in Munkács sehr wichtig, der Munkácser Rav hatte viele Anhänger, aber es gab auch eine starke zionistische Bewegung. Zwischen den Gruppen gab es Spannungen, etwa als die zionistische hebräische Schule eröffnet wurde. Da hat der Munkácser Rav gedonnert und einen Fasttag verordnet.
Nach dem Krieg war ich einmal dort, vor vier, fünf Jahren, zusammen mit meinen Kindern. Es gibt zwar jetzt wieder eine Synagoge, aber das ist gar nichts. Es leben heute nur sehr wenige Juden in Munkács, vielleicht hundert. Eine ganz kleine Gemeinde. Munkács ist für mich nur mehr die Erinnerung an den Ort, an dem ich geboren bin. Aber ich bin weiterhin verbunden mit den Leuten, die von dort kommen und die wissen, was es bedeutet, wie wichtig Munkács ist für das Judentum. Vor einigen Jahren hatte ich die Idee, eine große Zusammenkunft von Munkácsern zu machen. Meine Jugendfreunde Jack Reis und Eugen Lipshitz haben das dann organisiert und finanziert, und so sind ungefähr 600 geborene Munkácser aus der ganzen Welt in New York zusammengekommen. Ich treffe auch jedes Jahr Munkácser und deren Nachkommen in Israel, zu Yom Hashoah. Man kann also sagen, trotz aller Flammen, die die Nationalsozialisten entzündeten, haben sie die Munkácer nicht vernichtet. Die Nachkommen, chassidische und zionistische, leben weiter. Munkács lebt weiter im Exil in Israel und Amerika.“
Herbert Langsner, ehemaliger Chefredakteur von NEWS und Format, arbeitet als selbstständiger Kommunikationsberater mit Schwerpunkt Wirtschaft und Recht in Wien. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.
„Für mich war Munkács von klein auf ein starker Begriff. Mein Vater kam aus Munkács, er wurde dort 1922 in eine religiöse Familie geboren. Seine Mutter starb im Munkácser Ghetto an Krebs. Mein Vater ist dann weg und hat es geschafft, in Ungarn unterzutauchen. Ein Bruder und eine Schwester meines Vaters konnten auch irgendwie wegkommen, der Rest der Familie wurde deportiert und ermordet.
Mein Vater kam dann über Prag nach Wien, wo er 1955 meine Mutter heiratete. In Wien hatte er etliche Freunde aus Munkács, auch sein geschäftlicher Kreis bestand, zumindest in den 1950er- und 60er-Jahren, aus vielen Munkácsern. Er war nach dem Krieg noch einmal dort, ich glaube irgendwann in den 1970er-Jahren. Das war für ihn eher enttäuschend, alles war weg, das ganze Leben seiner Kindheit. Der Ort, an dem er aufgewachsen ist, war überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen.
Ich selbst war noch nie dort, möchte aber auf jeden Fall hinfahren. Für mich war Munkács als Kind irgendwie sehr präsent, auch wenn ich keine bildliche Vorstellung hatte. Ich habe es immer mit Eis und Schnee verbunden, damit, dass man um fünf in der Früh einen langen Schulweg hat. Mein Vater sagte ja auch oft: „Ihr seid alle so verwöhnt! Ich war noch dankbar, dass ich in die Schule gehen durfte.“
In meiner Vorstellung habe ich Munkács eigentlich nie als Stadt gesehen, sondern eher als Shtetl. Aber natürlich war es eine Stadt. Ich habe mich erst später ein bisschen mehr damit beschäftigt, dass Munkács ein Zentrum des Chassidismus war. Mein Vater war auch ein sehr jüdisch-belesener Mann, hat aber nicht sehr religiös gelebt. Er hat nicht viel darüber gesprochen, aber ich glaube, es hatte mit dem Tod seiner Mutter zu tun, der ihn sehr getroffen hat. Und natürlich mit dem Krieg. Die orthodoxe Munkácser Tradition hat er jedenfalls nicht fortgeführt. Er hat den Sederabend gemacht, und zu Jom Kippur ist er in die Synagoge gegangen. Er war aber immer stolz, aus Munkács zu kommen, deshalb haben wir auch auf seinen Grabstein geschrieben ‚geboren in Munkács‘.“
Andrea Bronner ist Psychotherapeutin und Fachärztin für Neurologie in Wien.
„Die Familie meines Vaters stammt aus Munkács, er wurde dort geboren. Nach dem Krieg ist er noch einmal zurückgekehrt, hat festgestellt, dass niemand mehr dort war. Er ist dann nach Budapest gegangen und 1956 nach Wien gekommen.
Bei uns zuhause gab es eine starke ideelle Bindung zum chassidischen Judentum, ‚Munkács‘ wurde zur Metapher für Chassidismus. Mein Vater war ein großer Anhänger des Munkácser Rebben, die Stadt selber hat ihn aber nicht angezogen. Munkács war für ihn kein romantischer Ort. Ich glaube, die Erinnerung war zweigeteilt, in einen realen Ort und eine Idee, ein verlorenes Zuhause. Der ideelle Aspekt war natürlich emotional aufgeladen, aber die Erinnerungen an den konkreten Ort waren keine guten. Er verband die Stadt mit schwerem Leben, mit Armut, und wollte damit nichts zu tun haben. ‚Bei uns in Munkács ist auch nicht mit goldenen Löffeln gegessen worden‘, das ist zu einem geflügelten Wort in unserer Familie geworden, auch ich selbst habe es später gegenüber meinen Kindern gebraucht.
In Wien gab es einmal eine Ausstellung zu Munkács, mit alten Fotos, ich war zuerst ganz begeistert, aber mein Vater hat das nicht geteilt. Ich selbst bin nie hingefahren, für mich war es auch nie ein wahnsinnig interessanter Ort. Ich glaube, meine Generation ist ja groß geworden mit dem Gefühl, sich bloß nicht an einen Ort zu binden – denn das kann gefährlich werden. Für mich ist Munkács irgendwie mit Winter assoziiert, kalt, eng, nicht schön – da gibt es keine romantische Verklärung.“
Daniela Segenreich, in Wien geboren und aufgewachsen, lebt seit 25 Jahren in Israel. Sie arbeitet als freiberufliche Journalistin und Kunsttherapeutin, ist verheiratet und hat zwei Töchter.
„Meine Mutter wurde 1923 in Munkács geboren. Ihre Familie hatte dort ein Haus und einen – wie sie es nannte – ‚Kolonialwarenhandel‘, ein Geschäft, wo es alles gab. Sie hat viel erzählt vom jüdischen Leben, immer betont, dass Munkács eine so wichtige Gemeinde war. Sie wusste auch, wer aller aus Munkács kam, wessen Eltern von dort stammten. In ihren Augen war das so etwas wie eine Auszeichnung, fast so eine Art jüdischer Adel.
Bis zum Krieg waren ihre Erinnerungen an Munkács sehr positiv, ihre Kindheit und Jugend scheinen sehr schön gewesen zu sein. Sie hat erzählt vom jüdischen Leben, das aber auch sehr städtisch war, Munkács war eine richtige Stadt. Die Familie hat ein Haus gekauft, wenn ich das richtig verstanden habe, war es das ehemalige Rathaus oder die Stadtverwaltung. Dort haben sie dann gewohnt und das Geschäft gehabt. Im Sommer ist man zum Fluss gegangen zum Schwimmen, man hat Tennis gespielt. Es gab eine große Familie – die Eltern hatten viele Geschwister, es gab Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen. Meine Großeltern waren religiös, haben koscher gegessen und Schabbat gehalten.
Meine Mutter wurde 1944 deportiert, sie ist nach dem Krieg nie wieder in Munkács gewesen. Ich habe ihr einige Male vorgeschlagen, hinzufahren, weil sie eben auch so viel erzählt hat, aber sie wollte nicht. Vor allem wegen der Leute. Sie war sehr enttäuscht von den ehemaligen Nachbarn, die sie fallengelassen haben im Krieg. Sie erzählte zum Beispiel von einem Nachbarn, mit dem sie aufgewachsen ist, der sie dann von einem Tag auf den anderen nicht mehr gegrüßt hat und auf die andere Straßenseite gegangen ist, wenn er sie sah.
Ich war als Kind irgendwie manchmal stolz, dass meine Mutter eine Munkácserin war, ohne genau zu wissen, warum – weil es eben für sie so wichtig war. Ich hätte damals mehr nachfragen sollen, das weiß man leider erst im Nachhinein. Für mich war Munkács jedenfalls immer ein emotional besetzter Ort. Ich habe mir gedacht, vielleicht einmal mit meinen Töchtern hinzufahren.“
Aviv Shir-On, geboren 1952 in Israel, ist seit 2009 Botschafter des Staates Israel in Österreich und Slowenien. Er trat 1978 in den diplomatischen Dienst ein und war unter anderem in Washington, Bonn und Bern tätig. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.
„Munkács war in der Familie meines Vaters immer ein Thema. Es hat ihn bis zuletzt beschäftigt, er hat in Israel auch immer Kontakt gehalten zu ungarischen und tschechischen Juden. Voriges Jahr ist er in Israel gestorben. Als 17-Jähriger überzeugter Zionist hat er Munkács 1937 verlassen, 1938 war er schon in Tel Aviv – er ging mit der Jugend-Aliyah nach Palästina. Seine Schwester und die Eltern blieben zurück, kamen nach Auschwitz. Sie haben überlebt, die Mutter und die Schwester kamen dann nach Israel. Sie sprachen viel von Munkács, wie es dort war, das Leben, die Menschen. Wenn davon die Rede war, von der Jugendzeit, war es immer schön und positiv besetzt. Sie sprachen untereinander aber immer Ungarisch, ich leider nicht, und so habe ich auch vieles nicht verstanden.
Mein Vater ging in das hebräische Gymnasium – das war Teil seiner zionistischen Überzeugung. Er sprach Hebräisch, das war die Unterrichtssprache oder zumindest ein Unterrichtsfach. Als er nach Palästina kam, war das natürlich ein Vorteil. Er schloss sich dort der Jüdischen Brigade der britischen Armee an und ging in den Krieg nach Nordafrika gegen Rommel, dann über Italien Richtung Norden. Schließlich kam er über Holland als Besatzungssoldat nach Köln. Zurück in Palästina, kämpfte er dann von 1946 bis ’48 gegen die Engländer – mit englischen Waffen und englischer militärischer Ausbildung – bis zur israelischen Unabhängigkeit. Nur fünf Stunden später gab es Krieg mit allen arabischen Nachbarstaaten, und mein Vater wurde Soldat in der israelischen Armee. Später ging er in eine Bank und bekam eine Stelle in Ashkelon, dort bin ich dann auch aufgewachsen.
Vor einem Monat war ich in Munkács. Mein Vater hat immer davon gesprochen, ich wollte gerne einmal mit ihm hinfahren, aber er war gesundheitlich nicht mehr in der Lage dazu. Jetzt war ich mit meiner Frau dort. Bei Diplomaten ist es ja so, dass man immer jemanden kennt, und ich habe meinem ukrainischen Kollegen gesagt, dass wir nach Munkács kommen, da mein Vater dort geboren ist. Ich hab von ihm nichts verlangt, aber er hat auf eigene Initiative den Bürgermeister angerufen, und mein Besuch wurde ein semi-offizieller Besuch mit Programm, Empfang vom Bürgermeister, mit allem Drum und Dran.
Ich war eigentlich positiv überrascht. Erst einmal dachte ich, dass Munkács ein kleines Dorf ist, aber es ist eine Stadt mit 85.000 Einwohnern. Das Leben ist dort zum Teil wie vor 40, 50 Jahren, zum Teil aber auch ziemlich modern und schön. Ich habe versucht, die Häuser der Familie zu besuchen, aber ohne meinen Vater konnte ich sie nicht mit Sicherheit finden. Am letzten Tag von Sukkot, Simchat Tora, war ich in der Synagoge – es ist mehr ein Gebetsraum als eine richtige Synagoge. Wir haben gebetet, es war ein bisschen armselig zu sehen, dass an einem jüdischen Feiertag vielleicht 15 Leute kommen. Aber es gibt eine Gemeinde, wenn man so will – wenn auch weit entfernt von dem, was dort einmal war. Man kann sagen, es gibt immer noch jüdisches Leben in Munkács. Nicht das, was ich mir als Jude wünschen würde, aber immerhin etwas.“