Kommentar von Andrea Schurian
Es waren zutiefst aufwühlende Szenen, als vermummte und schwer bewaffnete Hamas-Monster unter dem Beifallsgejohle aberhunderter Palästinenser die abgemagerten, ausgemergelten Geiseln vor ihrer Freilassung zu Danksagungen an ihre Peiniger zwangen. Yarden Bibas war eine der Geiseln. Nach 470 Tagen verzweifelter Finsternis und unvorstellbarer Folterqualen musste er erfahren, dass seine Frau Shiri und die zwei kleinen Söhne Ariel und Kfir von sadistischen Hamas-Mördern getötet worden waren. Und wieder jubelte der palästinensische Mob, als die mit Hamas-Propaganda beklebten Särge nach Israel überführt wurden.
In jedem Kaffeehaus, bei jedem privaten Treffen wurden auch in Österreich Gedanken über den Krieg im Nahen Osten, über Terror, kollektiven Schmerz ausgetauscht. Nie werde ich die Wortmeldung einer Kulturmanagerin vergessen, die den Vorwurf, ihre Argumentation sei antisemitisch, freilich empört zurückwies. Israel müsse eben ernsthaft mit Vertretern der Hamas verhandeln, sagte sie. Aha. Und wie genau sollen Verhandlungen mit einer Terrororganisation aussehen, deren Charta (für jeden nachlesbar auf der Homepage des Avalon Project der Yale Law School) die Auslöschung Israels, dann die Vernichtung aller Jüdinnen und Juden weltweit und als Endziel den Kampf gegen alle Ungläubigen vorsieht? Die Dame im Kaffeehaus sprach nicht über das von palästinensischen Terroristen verübte Massaker in Südisrael; nicht über die zynisch als Machtdemonstration inszenierten Freilassungen; nicht über palästinensische Zivilisten, die eilfertigst Geiseln, die der Hamas entkommen konnten, wieder einfingen; nicht über vor Vergnügen johlende Menschen, wenn Geiseln wie Vieh durch die Straßen getrieben wurden; nicht über Ärzte, die offenbar akzeptiert haben, dass Spitäler von der Hamas als Waffenlager zweckentfremdet wurden; nicht über Mitarbeiter des Palästina-Flüchtlings-Hilfswerks UNRWA, die bei der Hamas als Terroristen nebenbeschäftigt waren.
Sondern die Kulturmanagerin tat, was seit dem 7. Oktober 2023 erschreckend oft geschieht: Sie plädierte für das Selbstverteidigungsrecht – nein!, nicht der Israelis, sondern der Palästinenser. Ganz im Sinne von Hamas und Hisbollah müsse Israel die Waffen ebenso pronto wie dauerhaft niederlegen. Die Wut der Palästinenser sei nur allzu verständlich, schließlich begehe Israel Kriegsverbrechen, breche das Völkerrecht, begehe an den Palästinensern Völkermord, habe ihr Land besetzt, besatzt, geraubt, allerhand verwirrtes, antiisraelisches Wortkauderwelsch ergoss sich über den Kaffeehaustisch. Sie kritisierte israelische Bomben auf Gaza und Südlibanon; den Raketenhagel, der aus dem Gazastreifen und dem Südlibanon auf Israel niedergeht, fand sie ebenso wenig erwähnenswert wie iranische und palästinensische Vernichtungsfantasien. From the river to the sea: Die Auslöschung Israels steht bekanntlich ganz oben auf der Wunschliste der Hamas, der Hisbollah, des iranischen Regimes. Deshalb spendiert das Ayatollah-Reich seinen islamistischen Schergen im Libanon und im Gazastreifen großzügigst Waffen und Geld. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres schilt zwar regelmäßig Israel, über iranische und islamistische Völkermordfantasien hingegen verliert er kein Wort. Das ist genauso befremdlich wie das universitäre Hamas-Hurra weltweit.
In studentischen Pro-Palästina-Camps fürchten jüdische Studierende um ihr Leben. Ein Beispiel von vielen: Lahav Sh., jüdischer Student an der Freien Universität Berlin, kam mit Knochenbrüchen im Gesicht ins Krankenhaus, nachdem ihn ein propalästinensischer Kommilitone niedergeschlagen hatte. „Judenjagen“ nannten mehrheitlich muslimische Jugendhorden ihre antisemitischen Gewaltattacken in Amsterdam, einer der Teilnehmer trug den Kampfnamen des Hamas-Sprechers Abu Obeida, man hoffte auf „mindestens einen Toten“ unter den „Krebsjuden“ und „Krebs-Zionisten“. Dass sich jüdische Menschen achtzig Jahre nach Ende des Holocaust nicht angstfrei in öffentlichen europäischen Räumen bewegen können, ist ebenso erschütternd wie das Faktum, dass in Amsterdam zunächst keines der islam(ist)ischen Schlägermonster in Polizeigewahrsam genommen wurde. Ahmad Mansour, israelisch-deutscher Extremismus- und Islamexperte arabisch-palästinensischer Herkunft, fand in einem Interview mit der Welt zu dem Pogrom auf Amsterdams Straßen deutliche Worte: „Menschen, die der Meinung sind, sie können in Europa leben und Jagd auf Juden machen, müssen raus aus unserer Gesellschaft. Das sind Szenen, die wir nicht akzeptieren dürfen. […] Ich vermisse Politiker, die jetzt Ideen liefern, wie wir diese Situation wieder in den Griff bekommen.“
Lob, wem Lob gebührt: Österreichs ehemaliger ÖVP-Bundeskanzler, Karl Nehammer, fand jedenfalls zu antisemitischer Hetze und propalästinensischer Hamas-Verklärung stets klare Worte. Er handelte zumindest diesbezüglich sowohl vor als auch hinter den Kulissen vorbildlich. So bedankte sich Gilad Korngold, Vater des österreichisch-israelischen Doppelstaatsbürgers Tal Shoham, ausdrücklich bei Nehammer, weil dieser stets in Kontakt geblieben sei mit Shohams Familie; und er bedankte sich auch bei Peter Launsky-Tieffenthal, Österreichs Sonderbeauftragtem für globale Angelegenheiten im Bundeskanzleramt, sowie bei Nikolaus Lutterotti, dem österreichischen Botschafter in Israel, die sich intensivst für die Freilassung seines Sohnes engagiert hatten.
Im März ließ US-Präsident Donald Trump, basierend auf seinem Dekret zur Bekämpfung von Antisemitismus, einen palästinensischen Studierenden festnehmen und abschieben, weil er bei „pro-terroristischen, antisemitischen und antiamerikanischen Aktivitäten“ (©Trump) auf dem Campus der Columbia-Universität eine führende Rolle gespielt hatte. Es würden, kündigte Trump an, auch weitere „radikale ausländische Studierende“ (©Trump) abgeschoben werden.
„Man darf doch wohl noch Israel kritisieren“, sagte die Kulturmanagerin im Wiener Kaffeehaus auch noch und klang dabei fast wie die US-Philosophin Judith Butler: Die BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) -Aktivistin verharmlost das Massaker in Israel bekanntlich als „Akt des bewaffneten Widerstands“ und die Hamas als „soziale Bewegung einer fortschrittlichen Linken“.
Ja, freilich darf man, wie die Politik jeden Landes, auch Israels Politik kritisieren, dabei aber bitte nicht antisemitische Töne anschlagen oder wichtige historische Tatsachen ignorieren: Etwa, dass die Resolution der UN-Vollversammlung zur Teilung des britischen Mandatsgebiets in einen jüdischen und palästinensischen Staat im November 1947 von der jüdischen Seite sowie 33 westlichen Staaten angenommen, von den Palästinensern und ihren arabischen Mitstreitern aber abgelehnt wurde; oder dass Palästinenser auch danach noch mehrmals – u.a. 1978, 2000 und 2008 – die Chance auf einen eigenen Staat nicht ergriffen; dass 2005 der letzte israelische Soldat den Gazastreifen verließ und die Hamas das Gebiet in Windeseile in ein Freiluftgefängnis herunterwirtschaftete; dass es in Gaza keine Wahlen, aber dafür drakonische Strafen, ja sogar Todesprügel, für Widerspruch gab und wohl immer noch gibt.
Nur einen Tag, nachdem Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit erklärt und den Staat Israel ausgerufen hatte, wurde der jüdische Staat von Streitkräften Ägyptens, Jordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak angegriffen – aber nicht besiegt. Es war der erste von zahllosen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den arabischen Nachbarn. Dass es in den letzten Jahren ernsthafte Annäherungsbemühungen gegeben hatte, Friedensvereinbarungen, Freundschaftsverträge, Aussöhnungen, dürfte Hamas und Hisbollah missfallen haben. Weshalb am 7. Oktober 2023 an die dreitausend schwer bewaffnete Hamas-Kämpfer, palästinensische Mitläufer und gar nicht so wenige UNRWA-Mitarbeiter den Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen überwanden und mehr als tausend Männer, Frauen, Kinder, Babys, Greise vergewaltigten, verbrannten, köpften, quälten, töteten, zerstückelten, verschleppten. Es dauerte überraschend lang, nämlich ziemlich genau ein Jahr, bis der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wenigstens eines der unzähligen Hamas-Terror-Monster zur Verhaftung ausschrieb. Dass der IStGH allerdings auch den israelischen Ministerpräsidenten, Benjamin Netanjahu, sowie Yoav Gallant, den im November 2024 entlassenen israelischen Verteidigungsminister, wegen angeblicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Fahndung ausschrieb, wirkt immer noch wie eine hochpolitische Antisemitismus-Intensivierungsmaßnahme.
So kann man den Umgang der ‚woken‘, postkolonialen, queerfeministischen Linken mit dem Terrorangriff der Hamas kaum anders bezeichnen denn als moralischen Bankrott“, schreibt der deutsche Essayist Jens Balzer in seinem äußerst bemerkens- und lesenswerten Essay After Woke. Inspiriert zu diesem Wokeismus-Erklärungsbuch hat ihn, den bekennenden ex-woken Ex-Linken, der links-woke wuchernde Judenhass bei gleichzeitiger Hamas-Verklärung. Auch die Kulturwissenschaftlerin Anastasia Tikhomirova hat (neofeministische) Wokeness, Entsolidarisierung und Selbstgefälligkeit einmal ebenso bitter wie leider punktgenau zusammengefasst: „#MeToo unless you’re a Jew“.