„Mir war wichtig, die Geschichte der Täter aufzuzeigen“

In ihrem neuen Roman „Stillbach oder Die Sehnsucht“ schildert Sabine Gruber drei Frauenschicksale im Spannungsfeld zwischen italienischem Faschismus, Südtiroler Nazi-Faschismus und Resistenza, der italienischen Widerstandsbewegung. NU hat die Autorin zum Gespräch getroffen.
Von Herbert Voglmayr (Interview) und Verena Melgarejo (Fotos)

Die Schriftstellerin Sabine Gruber, geboren und aufgewachsen in Meran, verließ mit 18 Jahren Südtirol, um in Innsbruck und Wien Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaften zu studieren, war 1988–92 Universitätslektorin in Venedig und lebt heute als freie Schriftstellerin in Wien. Für ihre Romane „Aushäusige“, „Die Zumutung“ und „Über Nacht“, den Gedichtband „Fang oder Schweigen“ sowie für ihre Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien.

Ihr neuer Roman „Stillbach oder Die Sehnsucht“ erzählt vom Schicksal dreier Südtiroler Frauen (Emma, Ines und Clara), die aus unterschiedlichen Motiven ihren Heimatort Stillbach verlassen und in unterschiedlicher Weise von historischen Ereignissen geprägt werden. In einer herrlich polyphonen Erzählweise sind reale Ereignisse und persönliche Fantasien, polithistorische Gewalttaten und biografische Brüche und Verwerfungen, elegische Stimmungen und impulsive Lebenslust kunstvoll ineinander verwoben. Die grauenhaften Ereignisse der Vergangenheit kommen dabei offen zur Sprache, gewinnen aber nicht die Oberhand, verlieren vielmehr aus der kritischen Distanz ihren Schrecken und lassen damit Raum für neues Leben.

NU: Frau Gruber, könnten Sie die Schicksale der drei Frauen Emma, Ines und Clara kurz skizzieren?

Sabine Gruber: Emma kommt 1938 nach Rom, um hier zu arbeiten und ihre Familie in Südtirol finanziell zu unterstützen, dabei erlebt sie die deutsche Besatzung im Herbst 1943 nach dem Sturz Mussolinis. Sie ist mit einem Stillbacher verlobt, der bei einem Attentat italienischer Widerstandskämpfer auf eine Südtiroler SS-Einheit stirbt. Als sie später einen Italiener heiratet, wird sie von ihrem Vater verstoßen, es kommt zum Bruch mit der Familie, der nicht mehr zu kitten ist. Emmas Sehnsucht nach dem Heimatort aber bleibt. Die Gymnasialschülerin Ines kommt 1978 aus völlig anderen Gründen nach Rom, sie will Italienisch lernen und bekommt einen Ferienjob als Zimmermädchen in Emmas Hotel. Es ist eine politisch dramatische Zeit, in der ein Riss durch die italienische Gesellschaft geht, geprägt vom Terrorismus der Roten Brigaden und dem antiinstitutionellen Widerstand der autonomen „Stadtindianerbewegung“, der mit Straßenkämpfen und Hausbesetzungen einhergeht. Ines erlebt diese Ereignisse aus der Perspektive einer Schülerin, die diese politischen Verhältnisse nicht wirklich durchschaut. Clara schließlich kommt 2008 nach Rom, um den Haushalt ihrer verstorbenen Freundin Ines aufzulösen. Dabei entdeckt sie ein Romanmanuskript, in dem Ines über ihren Job als Zimmermädchen schreibt und gleichzeitig die Geschichte ihrer Chefin Emma erzählt. Clara wird auch damit konfrontiert, wie die Ereignisse der Vergangenheit in der Gegenwart weiterwirken.

Emma kann ihre traumatischen Erlebnisse lebenslang nicht wirklich auflösen. Sie schnuppert im Alter am Rasierwasser „Alt-Innsbruck“, um die Kühle der Berge zu spüren. Die beiden Frauen der Nachkriegsgeneration hingegen sind auch mit den gewalttätigen Ereignissen beschäftigt, haben aber mehr persönliche Freiheit in ihrer Lebensgestaltung. Kann man das auch allgemein für die Entwicklung in Südtirol sagen?

Ja, natürlich. Die Generation, die den Faschismus erlebt hat, hat ja ein völlig anderes Verhältnis zu den Italienern als die Nachgeborenen, die diese Repressionen nicht erlebt haben. Sie mussten nicht in eine italienische Schule, mussten nicht vor Gericht italienisch reden, haben nicht die Arbeitsstellen verloren. Ich selbst habe die Trennung der Ethnien im Gymnasium erlebt, wo die deutschund italienisch-sprachigen Schüler in verschiedenen Stockwerken untergebracht waren. In den fünf Jahren kamen wir mit den italienischen Schülern nicht in Kontakt, weil es verschobene Pausen- und Schulbeginn-Zeiten gab. Heute gibt es diese Trennungspolitik nicht mehr, das Zusammenleben ist ein angenehmeres geworden.

Passt Ihre persönliche Geschichte noch in anderer Weise zu einer der Identitäten?

Ausgangspunkt für den gesamten Roman waren Anekdoten meiner Großmutter mütterlicherseits, die aus einer sehr kinderreichen, ärmlichen Familie kam und in einem bürgerlichen Haushalt in Bozen arbeitete. Dabei erlebte sie die Entfremdung aus dem bäuerlichen, ärmlichen Kontext zu einer reichen, bürgerlichen Familie. Im Zuge meiner Recherchen entdeckte ich dann, dass in den 1920er- und 30er-Jahren sehr viele junge Frauen aus Südtirol in italienische Städte gingen, um dort als Dienstmädchen zu arbeiten und Geld nach Hause zu schicken, weil sie dort viel besser bezahlt wurden als in Südtirol, wo es unter dem Faschismus so schwierig war, eine Stelle zu kriegen. Sie kamen dabei in bürgerliche und zum Teil faschistische Familien, wo sie den Kindern auch Deutsch beibrachten. Als Mussolini und Hitler noch befreundet waren, war es in faschistischen Familien sogar Mode, ein deutsches Dienstmädchen zu haben. Heute ist Südtirol ökonomisch die zweitstärkste Region Italiens und man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass das mal ein armes Land war.

Die jungen Frauen mussten also den Zusammenstoß zweier Kulturen verkraften.

Natürlich. Man muss ja auch sehen, wie sehr diese Dienstmädchen das Italienbild in Südtirol korrigiert haben, das davon geprägt war, dass man sehr stark mit den sogenannten „Importfaschisten“ konfrontiert war. Das war ja ein ganz anderer Typus von Italiener als der, den die Dienstmädchen beispielsweise in Rom in einer italienischen Familie vorfanden. Sie kamen dann zurück mit Kurzhaarschnitt, Kostüm und schicken Schuhen, als moderne Frauen. Für das Dorf war das natürlich eine Provokation, zum Teil wurde das auch abgelehnt, aber es war eben ein Modernisierungsschub des Dorfes durch diese Dienstmädchen und eine Korrektur des Italienbildes. Natürlich waren nicht alle Erfahrungen positiv, aber Südtiroler Historikerinnen haben die Erinnerungen der ehemaligen Dienstmädchen in Interviews aufgearbeitet und dabei festgestellt, dass die meisten heute noch sehr positiv von diesen Erfahrungen reden.

Bemerkenswert an Sabine Grubers Buch ist unter anderem, dass sehr viel reale Zeitgeschichte eingearbeitet ist, der Roman aber keineswegs mit Geschichte überladen wirkt. Man erfährt die historischen Fakten fast nebenbei und über das ganze Buch verstreut, hat aber am Ende doch ein konzises Bild von den Geschehnissen. Die beiden Hauptereignisse sind ein Partisanenanschlag auf eine Südtiroler SS-Einheit am 23. März 1944, bei dem 33 Südtiroler sterben, sowie der tags darauf folgende Vergeltungsschlag der SS, bei dem für einen getöteten Südtiroler/Deutschen 10 Italiener hingerichtet werden, die man aus den Gefängnissen rekrutiert. Da in der Eile nicht so viele Delinquenten aufzutreiben sind, wird der Rest auf 330 einfach mit Juden aufgefüllt. Das Massaker findet in den Ardeatinischen Höhlen im Süden Roms statt, nach Abschluss der Bluttat werden die Höhlen gesprengt. Am Ende werden 335 Zivilisten getötet. Einer der Mittäter, Erich Priebke, kann nach dem Krieg mit Hilfe eines Bozner Franziskanerklosters (in dem sich auch Adolf Eichmann versteckt) und eines Empfehlungsschreibens der Päpstlichen Hilfskommission nach Argentinien flüchten, wo er unbehelligt lebt, bis er 1995 ausgeliefert wird. 1996 von einem Militärgerichtshof in Rom freigesprochen, wird er (nach weltweiten Protesten) 1998 zu lebenslanger Haft verurteilt, die aus gesundheitlichen Gründen in Hausarrest umgewandelt wird. Er wird in einer geräumigen Wohnung in Nachbarschaft eines Buchenwald-Überlebenden einquartiert und lebt heute in kaum kontrolliertem Hausarrest in Rom. Der rüstige Mittneunziger wird im Mai 2010 – nach dem Rücktritt Horst Köhlers – von der rechtsextremen deutschen NPD als Kandidat für das Amt des deutschen Bundespräsidenten vorgeschlagen.

Beim Lesen Ihres Buches hat man den Eindruck, dass Ihnen die Aufklärung über das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen ein besonderes Anliegen ist.

Das Massaker gilt in Italien als größtes Kriegsverbrechen der Deutschen auf italienischem Boden. Dabei war es mir wichtig, die Geschichte der Täter aufzuzeigen, von denen viele über Südtirol nach Südamerika flüchten konnten und die meisten nie oder erst am Ende ihres Lebens belangt wurden. Man hat die Faschisten und die Nazis alle laufen lassen aus Angst, die Resistenza könnte zu stark und Italien kommunistisch werden. Amerikanische und italienische Geheimdienstkreise ebenso wie die Kirche versuchten das zu verhindern, gemäß der politischen Ideologie des Kalten Krieges. Die Geschichte der Nichtaufarbeitung der faschistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit in Italien zeigt sich ja auch in der gegenwärtigen Politik, es gibt im Italienischen kein Wort für „Vergangenheitsbewältigung“. In Südtirol wurde die Vergangenheit ebenso wenig aufgearbeitet, aber aus anderen Motiven. Man sah sich immer als doppeltes Opfer (zuerst des italienischen Faschismus, dann des Nationalsozialismus) und ließ unter den Tisch fallen, dass es auch viele überzeugte Nazis gab. Es gab einen politischen Schulterschluss zwischen Opfern und Tätern, um eine starke deutschsprachige Minderheit zu haben, die ihre Rechte gegen die Italiener durchsetzen kann.

Sie haben die Geschichte eines der Mittäter an dem Massaker – Erich Priebke – akribisch recherchiert. Wie lange haben Sie dafür gebraucht und wie sind Sie dabei vorgegangen?

Ich habe ein Jahr recherchiert und dabei vieles im Internet gefunden, etwa wo das Haus liegt, in dem er lebt. Dann gibt es ein sehr gut recherchiertes Buch von Gerald Steinacher über „Nazis auf der Flucht“, das vor einigen Jahren erschienen ist und sich sehr stark mit der Fluchthelferrolle der Südtiroler auseinandersetzt, wo eben Priebke auch immer wieder genannt wird. Dann gibt es einen Film von einem Argentinier, der in Bariloche (wo Priebke lebte) aufgewachsen ist und die Biografie sowie die Flucht über Südtirol sehr gut dokumentiert. Es gibt eine Homepage dieses Herrn, die auch nicht uninteressant ist, und jede Menge Artikel von Neonazis. Ich wurde auch einmal von einem Neonazi kontaktiert, der mir vorhielt, ich würde Priebke nicht kennen, sonst würde ich nicht so über ihn schreiben.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum so viele Naziverbrecher über Südtirol geflüchtet sind?

Das hängt sicher mit dem Optionsabkommen zwischen Hitler und Mussolini zusammen, bei dem sich 1939 die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols entscheiden musste, ob sie italienisch bleibt oder ins Deutsche Reich auswandert. Dabei haben 85 Prozent der Südtiroler für das Deutsche Reich optiert, sie waren also dann Reichsdeutsche. Es ist zwar nur ein kleiner Teil tatsächlich ausgewandert, die meisten sind geblieben und haben abgewartet, aber sie haben erst 1948 wieder ihre italienischen Ausweise bekommen. Daher gab es nach dem Krieg in Südtirol eine Situation der Staatenlosigkeit, die es diesen Mengeles und Eichmanns ermöglichte, ungeschoren in Südtirol zu verweilen und ihre Flucht zu organisieren. Aber auch viele jüdische Flüchtlinge sind über Südtirol geflohen. Es gibt da diese Geschichte – das wäre ja ein Roman für sich –, dass es in Meran eine Pension gegeben haben soll, wo in einem Stock die Naziverbrecher untergebracht waren und im anderen die jüdischen Flüchtlinge, die dann über Genua nach Palästina auswanderten.

Frau Gruber, Sie haben einmal gesagt: „Die Heimat darf nicht beschrieben, sie muss bearbeitet werden.“ Ein Zitat von Novalis zu diesem Thema lautet: „Alle Philosophie ist Heimweh.“ Was würden Sie dazu sagen?

Nun, diesen Satz von Novalis würde ich interpretieren als Auseinandersetzung mit der Herkunft. Dazu würde ich noch gern ein drittes Zitat von Jorge Semprun ins Spiel bringen, das sich darauf bezieht, dass für viele Schriftsteller die Sprache die Heimat ist: „Und im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache, wie für die meisten Schriftsteller, sondern das, was gesprochen wird.“

Sabine Gruber
Stillbach oder Die Sehnsucht
Roman
C.H. Beck, München 2011
379 Seiten, 20,60 €

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