Mit 17 Jahren habe ich das orthodoxe Viertel Mea Shearim in Jerusalem verlassen. Jetzt bin ich wieder zurückgekehrt.
Von Tuvia Tenenbom
In letzter Zeit ist er öfter um mich herumgetanzt, ein reizender Knabe von zwölf, dann 13, zuletzt 14 Jahren. Er trägt ein weißes Hemd, schwarze Hosen, schwarze Schuhe, eine schwarze Kippa, und er hat zwei schöne Schläfenlocken. Seine Lehrer bewundern ihn und lassen ihn hie und da eine Klasse überspringen. Als er 14 wird, versucht er es seinen Klassenkameraden gleichzutun, die 18 und 19 sind, und fängt an zu rauchen- Eines Tages bekam er mit 14 eine Lungenentzündung oder etwas in der Art. Er war im Schlafsaal seiner Jeschiwa, des Rabbinerseminars, ans Bett gefesselt und konnte seiner Lieblingsbeschäftigung nicht nachgehen, dem Lernen. Ein Klassenkamerad, 19 Jahre, lieh ihm ein Buch aus, einen Roman über John und Patricia, Namen, die ihm unvertraut waren. Welcher Jude, der noch bei Trost ist, würde sich John nennen, wenn er auch Moishe heißen könnte? Welche Jüdin, die noch bei Trost ist, würde mit dem Namen Patricia die Straße entlanglaufen, wenn sie auch Zisale heißen könnte? Noch interessanter und echt merkwürdig war allerdings, was dieser John und diese Patricia taten. Sie lernten sich, so las er, bei einem romantischen Candlelight-Dinner kennen, das, wie er sich vorstellte, nur an einem Freitagabend stattgefunden haben kann, zu Beginn des Sabbats, ein Abendessen, zu dem John Patricia einlud, oder war es andersherum, Patricia lud John ein. Wie absurd, dachte er, denn welcher Mann, der noch bei Trost ist, würde eine Frau zu sich einladen, eine Frau, die er noch nicht einmal kennt, und welche Frau, die noch bei Trost ist, würde einen Mann zu sich einladen, einen Mann, den sie noch nicht einmal kennt? Wie unzüchtig.
Aber wie merkwürdig auch immer, so war es. Sie aßen ein wenig und tranken ein wenig, aßen ein wenig mehr und tranken ein wenig mehr, als John plötzlich begann, Patricia auszuziehen, und sie lächelnd Gleiches mit Gleichem vergalt. Wie entsetzlich! Der süße Junge von 14 Jahren war geschockt. Nie zuvor war ihm der Gedanke gekommen, eine Person könnte eine andere ausziehen, geschweige denn ein Mann eine Frau. Tun die Leute so etwas, fragte er sich. Ist so etwas in der Natur überhaupt möglich? In seiner Gemeinschaft, dort, wo er aufwuchs, galt es als große Sünde, wenn ein Mann eine Frau ansieht; warum also zog dieser komisch klingende Name von einem Mann diesen komisch klingenden Namen von einer Frau aus?
Als er ein bisschen mehr darüber nachgedacht und versucht hatte, die Sache zu analysieren, verfiel er auf den Gedanken, dass eine Frau auszuziehen – oder von einer Frau ausgezogen zu werden – letztlich ein interessantes Konzept war und weiter erforscht werden musste. Aber wie es erforschen? Das wusste er nicht. Noch nicht.
Krank, wie er war, erhob er sich vom Bett und ging ans Fenster, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Er sah Männer und Frauen vorübergehen, und wie seltsam, zum ersten Mal in seinem Leben wandte er seine Augen beim Anblick einer Frau nicht ab. Ja, so machte er das normalerweise. Wenn ihm eine Frau begegnete, eine Frau, die nicht seine Mutter, Schwester oder Tante war, dann senkte er stets den Blick und schaute in die andere Richtung, sodass seine Augen die Frau nicht sehen konnten, weil sich, wie seine Rabbiner ihm immer erklärten, Satan unter der Kleidung der Frauen verbarg. […] Nun aber schaute er sich die Frauen an. Sie waren schön anzusehen, sagte er sich, und so gar nicht satanisch. Frauen, schoss es ihm in den Kopf, sind viel schöner als Männer. […]
Er wandte sich an einen seiner Rabbiner nach dem anderen und wollte von ihnen wissen, warum er Frauen nicht anschauen durfte. […]. Nein, sagten die Rabbiner. Ein Mann darf keine Frauen anschauen. Punkt. Warum nicht? Es steht so in den heiligen Schriften, sagten sie.
[…]
Diese Geschichte des süßen, wissbegierigen, zähen, vor allem aber süßen Jungen trug sich vor vielen Jahren zu. Wer ist dieser süße Junge? Nun, dieser Junge, dieser süße Junge, das bin ich.
Ja, ich bin es, und ich bin weggegangen. Und als ich wegging, verließ ich nicht nur meine Gemeinschaft. Ich verließ Jerusalem, verließ Israel, und der süße Junge in mir versteckte sich von nun an. In letzter Zeit aber, wie schon erwähnt, tanzt er mir zu oft vor der Nase herum. Um ihn wieder loszuwerden, fliege ich nach Israel und besuche Mea Shearim in Jerusalem.
Mea Shearim bedeutet wörtlich Hundert Tore, hat aber viele Konnotationen, je nachdem, wer man ist. Für manche ist es der heiligste Ort auf Erden; für andere der schmutzigste. Wieder andere, die unabhängigen Denker, sagen, es sei eine Mischung aus beidem.
Bevor ich das Flugzeug nach Israel besteige, haben mir viele Leute entschieden davon abgeraten, als ich ihnen sagte, dass ich vorhätte, eine Weile in Mea Shearim zu leben. „Das hältst du keine Nacht lang durch“, sagte mir einer. „Zwanzig Charedim werden sich um dein Hotel versammeln, sobald du es bezogen hast, Steine nach deinem Zimmer werfen und brüllen: ‚Raus hier, Ungläubiger!‘“ Sie, die Menschen in Mea Shearim, seien „aggressiv und gewalttätig“, wurde mir erklärt. „Halt dich von ihnen fern!“ Tue ich natürlich nicht. Und warum nicht? Weil manchmal, wie Gerüchte besagen, Gott höchstpersönlich kleine Spaziergänge in dem Viertel unternimmt und ich ihm nur zu gerne von Angesicht zu Angesicht begegnen würde. Vielleicht, hoffentlich wird er dem süßen Jungen sagen, dass er aufhören soll, mich zu belästigen.
Anders als Gegenden wie etwa Prenzlauer Berg in Berlin, die mit Cafés und Restaurants geschmückt sind, sind die Straßen von Mea Shearim mit Hinweisschildern geschmückt, auf denen die vorbeikommenden Frauen aufgefordert werden, sich züchtig zu kleiden. Was ist züchtig? „Züchtige Kleidung umfasst: geschlossene, langärmelige Bluse, langer Rock. Keine eng anliegende Kleidung“, so eines der Schilder. Zusätzlich zu den Schildern fällt mein Blick auf zahllose Plakate an den Mauern dieses Viertels. Über ihnen befinden sich seltsam aussehende Balkone, Anbauten, die scheinbar nicht von Architekten, sondern von Mülltonnenherstellern entworfen wurden.
Wenn ich mich recht erinnere, hat man die Balkone für das jährliche Sukkot-Laubhüttenfest gebaut, bei dem die charedischen Juden sieben Tage lang in einer sukka, einer Laubhütte, leben und die Befreiung ihrer Vorfahren aus ägyptischer Knechtschaft feiern, die sich, wie sie glauben, vor Tausenden von Jahren zugetragen hat.
Die Großeltern der charedischen Juden, die hier leben, waren, wenn man von ihren Familiennamen ausgehen kann, Europäer, Belarussen, Ukrainer und Russen, die Jiddisch sprachen, eine vom Deutschen abgeleitete Sprache ohne die Spur eines ägyptischen Akzents. Wann genau sie aufhörten, Ägyptisch zu sprechen, und anfingen, Jiddisch zu sprechen, ist ein Geheimnis, um das nur der jüdische Gott weiß, Der Name.Was ich weiß, ist, dass ich gerne in ein Café gehen möchte. Aber wir sind hier nicht in Prenzlauer Berg, sondern in Mea Shearim.
Statt einer Auswahl an Cafés sehe ich eine Auswahl an Geschäften, in denen ich, so ich wollte, koschere Heringe und Mesusot (Schriftkapsel am Türpfosten) kaufen könnte, Silberbecher und Essiggurken, Plastikteller und teuren Schmuck, Perücken und Kopftücher für verheiratete Frauen, „Chassidi-Gel“ und „Chassidi-Kids“ zur Gestaltung perfekt gerundeter Schläfenlocken, sowie Modeläden und Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien und Buchhandlungen.
Ich spaziere weiter. Auf der Mea-Shearim-Straße kommt ein Auto mit aufmontiertem Lautsprecher vorbei und verkündet: „Der Trauerzug für den gottesfürchtigen Rabbiner Reb Eliohu Steinberger seligen Angedenkens wird um 18 Uhr von Toldos Aharon zum Ölberg aufbrechen.“ Das ist ein Aufruf an die Menschen im Viertel, mit ihrer Teilnahme an einer Beisetzung, die bald stattfinden wird, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Der Wagen fährt langsam, um sicherzustellen, dass alle über das bevorstehende Begräbnis informiert sind und alles unterbrechen, was sie gerade tun, um ihm beizuwohnen.
Was genau sie gerade tun? Ich weiß es nicht recht. Aber sie sollten besser damit aufhören, weil die Teilnahme an einer Beerdigung, so will es die Tradition, eine der entscheidendsten Mitzwot (Gottesgebote) ist, die ein Mensch befolgen kann, und wer es tut, dem wird es der Himmel reichlich lohnen.Worin die Belohnung bestehen wird? Auch das weiß ich nicht recht.
Wenn ich in dieser charedischen Welt bleiben und hier sterben würde, dann würden sie eines Tages für alle, die Ohren haben, auch mein Begräbnis ankündigen: „Der Trauerzug für den gottesfürchtigen Rabbiner Reb Tuvia Tenenbom seligen Angedenkens wird um 18 Uhr von Toldos Aharon zum Ölberg aufbrechen.“ Und einen Moment lang höre ich in meinem geistigen Ohr, wie sie meine Beerdigung ankündigen. Eine Vorstellung, bei der mir fröstelt.
Ich schaue mir das vorbeifahrende Auto an, und für den Bruchteil einer Sekunde scheint mir, als ob hinten etwas drin wäre, das ich nicht ausmachen kann. Ist das Gott? Vielleicht. Werde ich jetzt sterben, da ich ihn gesehen habe, falls ich ihn gesehen habe? Wird meine Beerdigung heute Abend um sechs stattfinden?
Vielleicht. Die Zeit vergeht, und im Handumdrehen ist Freitag.
Ich schaue mich nach Patricia um, nur so, aber sie ist verschwunden. Sie war einmal. Wer weiß, vielleicht ruht auch sie schon tief im Schoß des Ölbergs. Mea Shearims Straßen sind inzwischen frei von Autos, zu Ehren des Sabbats. Nirgends ist ein einziges Auto oder Motorrad zu sehen, und niemand fordert diesen „Ungläubigen“ auf, irgendwohin zu gehen. Leer sind die Straßen darum aber nicht, im Gegenteil: Sie sind voller Menschen, charedischer Juden, die geruhsam auf den Straßen spazieren. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, und jeder und jede von ihnen wünscht den anderen, wenn sie einander passieren, „einen guten Schabbes“, also Sabbat. Ich wandle unter ihnen, Leuten, die gerüchteweise aggressiv und gewalttätig sind, und wünsche ihnen einen guten Sabbat.
Und welch Wunder: Statt mich anzugreifen, antworten sie mir mit gleicher Zunge, und zwar jede und jeder auf eine andere Art, wenn sie mich grüßen. Manche singen es, das „Einen guten Schabbes“, manche sagen es mit einem Lächeln, wieder andere mit einem Kopfnicken.
Einige von ihnen bleiben auf einen Schwatz mit mir stehen, einfach so. Sie sprechen Jiddisch, die Sprache, die ich kaum je gesprochen habe, aber meine verstorbenen Eltern taten es und ihre Eltern auch. Und siehe da, ich antworte ihnen in gleicher Weise. Die jiddischen Wörter strömen aus mir heraus wie aus einem verborgenen Fluss in meinem Geist, und ich bin selbst erstaunt, dass ich meinen Mund diese Sprache sprechen höre.
Ich bin ein Ungläubiger, und sie sind heilig. Warum reden sie mit mir und laden mich zu sich nach Hause ein?
Und was machen sie? Sie fragen mich, wenn sie mein Jiddisch hören, ob ich zu ihnen nach Hause kommen und das Sabbatmahl mit ihnen teilen möchte. Warum ladet ihr mich zu euch ein?, frage ich sie. Ich bin schließlich so ganz anders als ihr. Ihr tragt herrliche chassidische Kleidung, habt große Schtreimel (Pelzhüte) auf dem Kopf, und alles, was ich habe, sind Hosenträger.
Anders gesagt: Ich bin ein Ungläubiger, und sie sind heilig. Warum reden sie mit mir und laden mich sogar zu sich nach Hause ein?
„Wenn du auf Jiddisch mit mir sprichst“, erklärt mir einer, „in deinem schönen Jiddisch, dann sprichst nicht du mit mir, sondern dann spricht dein Großvater mit meinem Großvater. Verstehst du? Willkommen!“ Wow. Ich danke ihnen für die Einladung. Vielleicht schaue ich dieser Tage bei euch vorbei, sage ich ihnen, jetzt aber muss ich draußen sein. Mich umschauen.„Nach den schönen Ladies?“, fragen sie. Wenn meine Rabbis von damals das hören würden, nähmen sie schreiend Reißaus. Die Zeiten ändern sich, vielleicht. Ich schaue mir die Ladies an, die die Straßen von Mea Shearim säumen, und sehe kein Anzeichen von Satan. Diese jüdischen Frauen, wie soll ich sagen, sind viel schöner als Patricia. Als jede Patricia.Wie kommt es, werden Sie sich fragen, dass diese Jüdinnen und Juden so schön sind, eine Eigenschaft, die Juden normalerweise nicht zugesprochen wird, vor allem nicht von ihnen selbst?
Manche Leute, denen ich genau diese Frage stelle, antworten mir, dass Tatsachen Tatsachen sind und man Tatsachen nicht bestreiten kann. Niemand, sagen sie, ist so schön und attraktiv wie die Juden. Es ist der Wille Des Namens, ergänzen sie, dass die Juden die verführerischsten Lebewesen überhaupt sind. Punkt. Andere halten dagegen, dass die Juden von Mea Shearim, durch ihre Bekleidung, die viel mehr bedeckt, als sie preisgibt, einen „Schönheitseffekt“ erzeugen. Wenn man nicht viel zu sehen bekommt, stellt man sich vor, dass das, was man nicht sieht, perfekt ist, und Schönheit heißt, perfekt zu sein.
Wer hat recht? Kommen Sie her und urteilen Sie selbst. Was werden Sie sehen, wenn Sie hierherkommen?
Sie werden Frauen sehen, die züchtig, aber sehr modisch gekleidet sind und wenig Haut, dafür aber haufenweise Charme zeigen. Selbst ihre Kopftücher sehen hinreißend aus! Ganz zu schweigen von ihren Mänteln und Kleidern … Jede Frau, die an mir vorbeikommt, gleicht einer Prinzessin, eine ist engelsgleicher, eine schöner als die andere. Jede von ihnen hat übrigens fünf Kleinkinder im Schlepptau, die wie Prinzen angezogen sind, und sie alle parlieren auf Jiddisch miteinander, der verführerischsten und sexysten Sprache überhaupt, und ihre Ehemänner schreiten voller Bewunderung an ihrer Seite. „Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben“, erzählt mir ein chassidischer Jude, „aber heute ist es Realität: Die Ladies von Mea Shearim sind die schönsten auf der ganzen Welt.“Um die Wahrheit zu sagen, er sieht auch nicht schlecht aus.
Ja, schaut euch mal die jüdischen Männer hier an! Jeder einzelne hat sich in seine feinste chassidische Kluft geworfen und sieht toll aus. Mit dem schönen Schtreimeln auf dem Kopf, den perfekt gerundeten Schläfenlocken neben den Ohren, dem schneeweißen Hemd oben, den adretten weißen Socken unten und erst recht ihrem glänzenden goldenen Kaftan sieht jeder von ihnen alles in allem aus wie ein reines 24-karätiges Juwel.Diese Männer sind, ich schwöre es, die attraktivsten Männer, die Sie je gesehen haben.
Einige Familien sind schon zu Hause angekommen und haben es sich gemütlich gemacht. Ich kann sie hören, sanfte und klare Weisen dringen aus den offenen Fenstern ihrer Wohnungen. „Willkommen, Engel des Friedens“, singen sie als traditionelles Lied zum Sabbatabend, während das Licht ihrer Sabbatkerzen von ihren Wohnzimmertischen erstrahlt.
Es ist Sabbat, die Zeit, wenn die heilige Gegenwart, die weibliche Seite Gottes, zur Erde herabfährt, und das ganze Viertel feiert Ihr zu Ehren. Einige singen, andere spazieren herum, und alle werden sie ihr Sabbat-Abendessen genießen: Challabrot, Gefilte Fisch, Kartoffelkugel, Hühnersuppe mit Matzeknödeln, koscherstes Fleisch und – natürlich – Schokoladen-Babka, heißer Tee mit Zitrone sowie Pepsi Max oder Coca-Cola Zero.
Ich schaue mir die kleinen Kinder an, die um mich herumschwirren und aus vollem Herzen lachen, wenn sie mein Jiddisch hören, und mir so vertraut scheinen. Zu vertraut. Kenne ich sie von irgendwoher? Ja, allerdings. Sie sind ich. Meine süße Wenigkeit. Einen guten Schabbes.
Mit freundlicher Genehmigung des suhrkamp-Verlags, wo im November Tuvia Tenenboms neuestes Buch erschienen ist: „Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“.
Deutsche Übersetzung: Michael Adrian