Geschichtsstunde. Besuch bei Rabbiner Jacob I. Biderman, dem religiösen Leiter von Chabad in Wien. Es beginnt mit vermeintlich blöden Fragen und geht in eine kleine Geschichtsvorlesung über, die interessante Neuigkeiten beinhaltet, etwa die Schätzung auf eine weitaus größere jüdische Gemeinde in Wien als man denkt.
Von Rainer Nowak
„Was bedeutet Erfolg in der Religion? Oder besser: Wie misst man ihn?“ Was klingt, als hätte es den Bankberater des Vertrauens in ein Theologie-Proseminar verschlagen, ist eine, beziehungsweise sind zwei ernst gemeinte Fragen an Rabbiner Jacob I. Biderman. Kurz wirkt er verdutzt. Aber nur kurz. Wie jeder sophistisch naturbegabte Gesprächspartner reagiert er mit einer Gegenfrage: „Was wissen Sie?“ Ehrlichkeit und Offenheit sind das Gebot dieser Geschichtsstunde und der beste Rat an jeden Journalisten: Einen Rabbiner kann man nicht bluffen.
„Wenig bis nichts“ weiß ich über die Chabad-Lubawitsch-Bewegung. Nur so viel: Dass sie eben wirklich erfolgreich ist. Auch in Österreich. Gemessen an der Anzahl der zugehörigen Familien, gemessen am Einfluss in der österreichischen und der Wiener Gemeinde. Gemessen am enormen Bildungsangebot in Schulen und einer Universität. Sehr verkürzt würde ich schreiben, sie ist ein Spin-Off des Chassidismus mit starker Fokussierung auf äußere Religions- und Sozialarbeit.
Bekanntlich unterscheidet sich das Judentum vom Christentum in vielem, aber speziell auch bei der Missionierung. Die ist den Juden fremd. Womit das Anwerben eines Gläubigen – um es sehr profan auszudrücken – logischerweise bei Nicht-Chabad-Juden passiert. Was wiederum nicht allen gefällt. Und Kritiker schon einmal von einer Sekte sprechen lässt. Per definitionem ist Chabad in Österreich das keinesfalls, weshalb wir von einer religiösen Bewegung schreiben wollen.
Wikipedia kennt Chabad beziehungsweise Lubawitsch als jüdische Gruppierung, die von Rabbiner Schneur Salman in Ljadi im heutigen Weißrussland im späten 18. Jahrhundert gegründet wurde. Sie ist Teil oder intellektuelle Variante des Chassidismus, einer religiös-mystischen Strömung. Chassidische Anhänger organisieren sich in Gruppierungen oder Dynastien geleitet von deren Rebbes. Zurzeit unterhält Chabad Institutionen und mehr als 5.000 Emissären-Ehepaare, genannt „Schluchim“, in rund 70 Ländern. Ihr heutiges Zentrum liegt im Brooklyner Wohnviertel Crown Heights in New York. So weit, so trocken.
Wesentlich eindringlicher und emotionaler klingt das alles, wenn man auf dem Sofa im Wohnzimmer von Rabbiner Biderman Platz genommen hat und ihm mit Blick auf das Grün des Augartens eineinhalb Stunden lauschen darf. Wobei der Augarten keine unwichtige Rolle spielt, wie Biderman betont. Seine Bäume erzeugen eine sehr kontemplative Wirkung. Zwei Männer, die auf Bäume schauen: Es ist eine sehr exklusive Geschichtsvorlesung, wie sie lebendiger und interessanter nicht sein könnte. Sie beginnt mit dem Chassidismus und dem neuen Selbstbewusstsein von verfolgten Juden vor hunderten Jahren – mehr darüber in diesem NU von berufener Seite als der meinen – und endet in einem Gespräch über das moderne orthodoxe Judentum, das sich auch mit einem neuen Antisemitismus konfrontiert sieht.
Im Wohnzimmer hängt ein Bild des alten, weisen Mannes mit langem Bart. Menachem Mendel Schneerson – nur mehr kurz „der Rebbe“ genannt – war das letzte geistige Oberhaupt von Chabad Lubawitsch. 1994 ist er in New York gestorben, im Alter von 92 Jahren. Er hinterließ mehr als 110 Bücher, in denen er seine Gedanken zu jüdischer Philosophie, Talmud, Bibelkunde und Kabbala zum Ausdruck brachte, wie auch mehr als dreißig Bände mit von ihm verfassten Briefen, in denen er auch zu profanen Wissenschaften Stellung nahm.
„Chabad“ ist ein Akronym für die hebräischen Worte Chochma, Bina und Daat: Weisheit, Einsicht und Wissen. Das klingt rational, ist aber auch eine emotionale und herzliche Strömung, wie Biderman sagt. Das weißrussische Zentrum war Lubawitsch – das Dorf der Liebe. Verfolgt wurden sie nach der russischen Revolution von den neuen Sowjets, die Bewegung ging in den Untergrund, viele andere jüdische Gemeinden gaben schlicht auf. An die hundert religiöse Untergrundzellen wurden genutzt, als Gebetsräume oder Talmud-Schulen. Der damalige Rebbe namens Yosef Yitzchak Schneerson wurde verhaftet und zum Tod verurteilt. In der lettischen Regierung gab es zu dieser Zeit ein Mitglied der Chabad-Bewegung, Mordechai Dubin. Er überzeugte die restliche Regierung, den Rabbiner gegen die Freigabe von Getreideexporten freizubekommen. Der Rabbiner konnte in späteren Jahren, unter Vermittlung des US-Präsidenten Roosevelt mit der Hilfe des legendären deutschen Admirals Canaris – eines hohen Spionageoffiziers im Nazi-Deutschland – über Schweden in die USA reisen. Canaris wurde 1945 wegen Kontakten zum Widerstand hingerichtet. Nicht wenigen Chabad-Schülern gelang es, via Shanghai mit Hilfe des japanischen Konsuls in Litauen, Sugihara, dem NS-Mord zu entkommen, zu überleben und später in die USA auszureisen.
„Aber kommen wir endlich in die Gegenwart!“, fordert Biderman und erzählt: „Es gab eine enorme Veränderung, das europäische Judentum war durch die Nazis zerstört worden. Es waren nicht nur sechs Millionen Juden ermordet, sondern es gab kaum noch Gemeinden, Strukturen und Synagogen“, erzählt der Rabbiner. „,Der Rebbe‘ forderte die Chabad-Chassidim, die vor der Schoa eine eher zurückgezogene und bildungselitäre Gemeinschaft war, auf, am Wiederaufbau des Judentums teilzunehmen. Die ,Schluchim‘ sollten in aller Welt jüdischen Gemeinden dabei helfen. So sind auch meine Gattin Edla und ich 1980 vom Rebben nach Wien geschickt worden. Meine Frau war in Frankreich auf die Welt gekommen, sie kommt aus einer Chabad-Familie. Ihr Vater war in Russland gewesen, war zwei Mal wegen der Führung einer Untergrund-Jeschiwe im Gefängnis und Lagern“.
Biderman betont die soziale Arbeit der Chabad-Einrichtungen weltweit – von Hochschulen, Schulen und Kindergärten, aber eben auch Suppenküchen und einigen Gesundheitszentren. Dreizehn Zentren betreibt Chabad in Österreich. Interessanterweise glaubt Biderman an das Wachstum des Judentums in Österreich. „Die Kultusgemeinde weist 9.000 Personen als Juden aus. Ich treffe ständig Menschen, die jüdischer Abstammung sind und nicht in der Gemeinde sind. Sie wollen nicht auf Listen kommen, sie wollen unter dem Radar bleiben.“ Wie viele Menschen jüdischen Background hätten oder Juden seien? „Nach meinem Gefühl ist nur jeder oder jede Vierte in der Gemeinde. Ich schätze 40.000 Menschen.“
Humorvoll reagiert Biderman auf eine Frage, die nur ein Politik-Journalist stellen kann: Mir war aufgefallen, dass linke israelische Politiker wie Ehud Barak, Jitzchak Rabin oder der ehemalige israelische Präsident Salman Shazar Chabad-Familien entstammen. Diese Tatsache in Kombination mit dem Sozialnetz, das Chabad in den jüdischen Gemeinden knüpft, führt zur simplen Frage: Ist Chabad eine zwar traditionelle, aber doch linke Religionsgemeinschaft? Biderman lacht. „Da war die Linke anders. Nein, Chabad ist definitiv nicht links, sondern konservativ.“ Religionen sind im Idealfall immer sozial, Chabad besonders. Ein Chabad-Haus hat immer drei Aufgaben: soziale Hilfe, jüdische Bildung und die Möglichkeit, zu beten.
Grundlagen der Chabad-Philosophie
Gott
Bezugnehmend auf die Lehre der Kabbala geht die Chabad-Philosophie davon aus, dass Gott alles erfüllt. Das gesamte Universum ist in Gott, und Gott manifestiert sich in der gesamten Schöpfung. Manchmal offen und manchmal verborgen. Er existiert auch jenseits der Natur und menschlichen Wahrnehmung. Immanent und transzendent zugleich (Panentheismus). Er ist die wahre und innere Existenz der Welt, darüber hinaus gibt es nichts anderes. Die Vertiefung darin hebt die Menschen auf ein anderes Niveau und bietet damit eine andere Lebenssicht und Lebensqualität an.
Heiligkeit
Ein heiliges Leben wird nicht dadurch erreicht, dass man sich von der materiellen Welt und der Umwelt löst und ihr entflieht, im Gegenteil: Gott kleidet eine Seele in einen Körper, weil sie eine Mission hat, mit ihrer Inspiration die niedrige Welt zu erheben und sie reiner und besser zu machen. Heiligkeit bedeutet in der Chabad-Lehre, mit spirituellem Licht zu strahlen, so werden wir und unsere Umgebung geheiligt.
Freude
Freude im Dienst Gottes ist nach der chassidischen Schule von grundlegender Bedeutung. Freude und Glücksgefühle sind immer das Ergebnis von Zufriedenheit und Harmonie, wenn Wünsche ihre Erfüllung finden. Die Seele ist ein göttlicher Funke, der danach strebt, sich immer mit der Quelle zu verbinden. Deshalb finden wir inneres und wahres Glück, wenn wir ein Leben führen, in dem wir die Nähe und Harmonie mit Gott spüren. Wenn ein Mensch Gutes tut, findet seine Seele innere Ruhe und Freude, denn so ist sie bei ihrem wahren Element.
Liebe
Liebe ist Verbindung und das Streben danach. Die Menschen sind in ihren Körpern voneinander getrennt, aber ihre Seelen stammen aus einer göttlichen Quelle. Der Körper, das Ego und seine irdischen Bedürfnisse trennen uns, aber wenn wir unser Sein in der Dimension der spirituellen Seele erheben und erfahren, können wir uns wirklich verbinden und vereinen und Nächstenliebe spüren.
Thora
Das Thora-Studium ist nicht wie andere Studien. Und ihr Zweck besteht nicht nur darin, uns Werte und Wissen zu vermitteln. Im Lernerlebnis vereinen sich der Lerngeist und der Lernstoff zu einer Einheit. Gottes Thora ist ein Teil von Ihm, und wenn wir Seine Thora studieren, vereinen wir uns mit Ihm, da dieselbe Thora, in der Er zu finden ist, auch ein Teil von uns wird. Aus diesem Grund nimmt das Thora Studium im Judentum im Allgemeinen und bei Chabad im Besonderen einen so zentralen Platz ein.
Gebet
In Text des täglichen Gebets gibt es Bitten, Lob- und Dankworte, die alle zeigen, dass sich der Betende der Gegenwart Gottes in seinem Leben bewusst ist. Chabad lehrt, wie diese Begegnung mit dem Göttlichen und die Ausgießung der Seele vor ihm eine erhebende Qualität haben und den Rest des Tages inspirieren kann, wenn man sich vor und während des Gebets in Meditation und Gedanken in der Philosophie des Chassidismus vertieft.