Ein Jude aus Baku schuf das Nationalepos eines moslemischen Volkes und suchte letzte Zuflucht in Mussolinis Italien.
Von Axel Reiserer, BAKU
Öl! Ein Schrei hallt durch die Welt. Heute ebenso wie vor knapp 140 Jahren, als der erste große Ölboom der Geschichte das Provinznest Baku am Westufer des Kaspischen Meers innerhalb weniger Jahre in eine der großen Metropolen einer sterbenden Welt verwandelte. Was wir heute in einem Film wie „There Will Be Blood“ im Kino bestaunen, damals hat es sich hier so zugetragen: Buchstäblich aus der Erde schoss das Schwarze Gold, und es dauerte nicht lange, bis es sich in klingende Münze verwandelte.
Im Jahr 1872 beginnt die kommerzielle Nutzung der ungeheuren Ölvorräte der Region um Baku. Nicht nur ein Landwirt wie Aga Musa Nagijev, dem buchstäblich der Pflug umfällt und der dabei auf eine Ölader stößt, die ihn zu einem der reichsten Männer seiner Zeit machten sollte. Es dauert nicht lange, bis die Familien Rothschild und Nobel als Besitzer der größten Förderbetriebe jene prächtigen Palais errichten, die der Stadt bis heute ihren ganz besonderen Charakter verleihen.
Die europäischen Prachtbauten – nach Jahrzehnten des Verfalls heute vorwiegend in Reparatur oder wieder hergestellt – treffen im Zentrum von Baku auf die weitgehend erhaltene mittelalterliche Burganlage, die ab dem 15. Jahrhundert von der Dynastie der Schirvanschahs errichtet wurde. Baku wird damals zu einem Fokuspunkt, wo Ost und West zusammenstossen und einander bereichern oder abstossen.
Nach Jahrzehnten Krieg gelang Russland erst Anfang des 19. Jahrhunderts die Eingliederung des Kauskasus in das Zarenreich. Zur Ruhe ist das Gebiet bis heute nicht gekommen: Vom Konflikt um Nagorno- Karabakh zwischen Armenien und Aserbaidschan über sezessionistische Gebiete in Georgien bis zu der gewaltsamen „Befriedung“ Tschetscheniens durch Moskau spannt sich der Bogen ungelöster und vielfach unlösbar scheinender Konflikte.
Dafür gibt es viele Gründe, vielleicht aber ist keiner bedeutender als dieser: Die Landbrücke des Kaukausus ist nicht nur geographisch die Verbindung zwischen Ost und West, Asien und Europa, Islam und Christentum (und ein traditionell Antisemitismus-freier Siedlungsort des Judentums). Der Kaukasus ist ein Gebiet, an dem sich Ost und West so eng begegnen wie kaum anderswo auf der Welt. Gerne erzählen sich die Kaukasier ihre Variante der Schöpfungsgeschichte, wonach Gott jedem Volk ein Gebiet zuwies, als aber die Kaukasier endlich an der Reihe waren, er alles schon verteilt hatte. Da, so will es die Legende, gab er ihnen sein Paradies. Wer einmal die Schönheit und den natürlichen Reichtum der Region sehen durfte, kann nur zustimmen.
Wie ein Brennglas bündelte das Baku des späten 19. Jahrhundert alle Entwicklungen. Von 6000 Einwohner im Jahr 1832 stieg die Zahl auf über 120.000 zur Jahrhundertwende. Armenier, Russen, Juden und Europäer gemeinsam übertrafen die lokale Bevölkerung, multikulturell war die „Stadt der Winde“ (so die Bedeutung des Namens Baku auf Alt-Persisch) Generationen bevor der Begriff geprägt worden war.
In diese Stadt wurde 1905 Lev Nussimbaum geboren. Schon seine Geburt ist Legenden umwoben, und so sollte sich sein ganzes Leben gestalten. Ein Geburtsdokument, so es jemals existierte, ist verschwunden. Er selbst behauptete, an Bord des Schnellzugs Tiflis-Baku das Licht der Welt erblickt zu haben. Sein Vater Abraham war Ölmillionär und stammte aus Tiflis, seine Mutter Berta Slutzkin kam aus Litauen und unterstützte aktiv die Todfeinde ihres Mannes: Die kommunistischen Revolutionäre und Aufrührer unter der Führung jenes polizeilich gesuchten Mannes, der sich später Stalin nennen sollte (nachzulesen bei Simon Sebag Montefiore, „Young Stalin“, Weidenfeld, London 2007).
Vater und Mutter Levs sind Juden, keiner von beiden ist religiös, beide streben nach einer besseren Existenz, in der sie von der Verfolgung, die beide Familien als Juden erlitten hatten, für immer frei sein würden: Der Vater durch Reichtum, die Mutter durch die Revolution. Auf das scheinbare Scheitern all ihrer politischen Träume reagiert Berta Slutzkin, indem sie 1911 oder 1912 auf qualvolle Weise Selbstmord begeht. Stalin ist in dieser Zeit in Sibirien in Verbannung, Lenin lebt als isolierter Fanatiker im Exil, die kommunistische Revolution scheint zerschlagen.
Nach dem Tod der Mutter wachst der junge Lev unter strengster Obhut eines d e u t s c h e n Kindermädchens auf. Jedes Verlassen des Hauses wird auf Befehl des Vaters zu einem Generalstabsmanöver, um möglichen Entführern keine Chance zu lassen (so beschreibt es Tom Reiss in seinem Buch „The Orientalist“, das dieser Tage auch auf Deutsch im Osburg-Verlag Berlin erscheint). Lev besucht das russische Gymnasium, die meiste Zeit aber verbringt er alleine in der Bibliothek seiner Mutter. Über ihren Tod sollte sein Vater niemals mit ihm sprechen.
Reagiert Abraham Nussimbaum auf die Proklamation der Unabhängigkeit Aserbaidschans 1918 noch enthusiastisch, hat er keine Illusionen, als sich das Blatt im Russischen Bürgerkrieg zu wenden und die Rote Armee die Oberhand zu gewinnen beginnt. Als 1920 die Revolutionäre in Baku die Herrschaft übernahmen, machte er sich mit seinem damals 15- jährigen Sohn auf eine abenteuerliche Flucht, die sie unter anderem über Persien nach Konstantinopel, Paris und schliesslich Berlin führen sollte.
Eigentlich hatten die Nussimbaums ja gehofft, in der Hauptstadt des untergehenden Osmanischen Reichs verbleiben und rasch in die Heimat zurückkehren zu können. Doch die Herrscher am Bosporus erwiesen sich alles andere als gastfreundlich, schon rasch wurde den Nussimbaums bedeutet, sich um die Weiterreise zu bemühen. Dennoch hatte Lev genug Gelegenheit, um bei einem Mufti seinen Übertritt zum Islam zu vollziehen und als solcher künftig den Namen Essad Bey zu führen.
Was in unseren Tagen schwer vorstellbar ist, war im 19. Jahrhundert durchaus keine Seltenheit: ein fruchtbarer, konstruktiver und friedlicher Austausch zwischen Judentum und Islam, oft getragen von einer gemeinsamen Faszination für den Orient. Einer der prominentesten Protagonisten dieser Denkschule war Benjamin Disraeli, der als erster Jude britischer Premierminister werden sollte. Er sagte: „Was sind denn Araber schon anderes als Juden auf Pferden?” Einer der größten Islam-Gelehrten aller Zeiten war Muhammad Asad, der 1900 als Leopold Weiss in Lemberg in eine traditionsreiche Rabbiner-Familie geboren worden war.
Lev Nussimbaum spielte von nun ab unablässig mit seinen Identitäten, treu blieb er aber Zeit seines Lebens der Liebe zum Orient. Noch als Schüler erschwindelte er sich in Berlin die Aufnahme an die Universität, wo er orientalische Studien belegte. Mit nur 24 Jahren veröffentlichte er sein erstes Werk unter dem Namen Essad Bey, es wurde begeistert aufgenommen. Lev wurde rasch zum „Ost-Experten“ der Zeitschrift „Die Literarische Welt“, in der er neben Alfred Döblin, Robert Musil und Walter Benjamin veröffentlichte.
Glühender Hass gegen den Bolschewismus und Bewunderung des Orients blieben bestimmenden Motive seines Schaffens. Nussimbaum legte in ihrer Hellsichtigkeit Jahrzehnte nicht übertroffene Werke über Lenin, Stalin oder den sowjetischen Geheimdienst vor. Das brachte ihn in der Weimarer Republik in die Nähe mit Nazi-Kreisen, ebenso wie mit obskuren russischen Emigrantenzirkeln.
Die politische Vereinnahmung scheint freilich seiner Wahrnehmung gänzlich entgangen zu sein. Er trat in der Öffentlichkeit als moslemischer Edelmann in buntem Kostüm und Säbel auf und erfand ständig neue Details seiner schillernden Biographie. Andererseits war er krankhaft schüchtern und lebte mit seinem Vater Abraham viele Jahre in bitterer Armut, die erst durch Einnahmen aus seinen Büchern gelindert wurde. Zugleich schrieb und las Nussimbaum wie ein Besessener: Bis zu seinem Tod veröffentlichte er 16 Bücher und hunderte Artikel, Aufsätze und Essays.
Das wohl bedeutendste ist jenes Buch, das heute als Nationalepos Aserbaidschans gilt: Der Roman „Ali und Nino“, der 1937 unter dem Namen Kurban Said veröffentlicht wurde, und der die Geschichte einer (un)möglichen Liebe zwischen einem aserbaidschanischen, moslemischen jungen Mann (Ali) und einer georgischen, christlichen jungen Frau (Nino) im Baku um die Jahrhundertwende schildert (Kurban Said, Ali und Nino, List Taschenbuch, Berlin 2002). Zu recht gilt das Werk, das eine orientalische Romeo und Julia-Geschichte ist, heute als Teil der Weltliteratur, von den Titelfiguren bis zu den kleinsten Details gelingt Nussimbaum in dem Roman jedes Wort.
Die Geschichte der Autorenschaft des Werks ist freilich, als wäre sie auch von Nussimbaum erfunden worden. Als „Ali und Nino“ 1937 erschien, lebte er in Wien (nach einer gescheiterten Ehe war er zuvor aus den sicheren USA nach Berlin zurückgekehrt, wo ihm die Nazis rasch den Boden heiß machten), und bei der Veröffentlichung war die österreichische Gräfin Elfriede Ehrenfehls als Trägerin des Urheberrechts für den deutschen Sprachrraum bei der Nazi-Schrifttumkammer in Berlin eingetragen worden. Von den Nazi-Behörden wurde das angeblich „rassisch unbedenkliche” Buch bald „dringend zur Lektüre empfohlen”, während Ehrenfehls offiziell die Tantiemen zustanden.
Es war eine Chuzpe, die Nussimbaums würdig war. Doch wie für alles in seinem Leben musste er auch dafür teuer bezahlen. Nachdem Österreich 1938 Teil des Großdeutschen Reichs geworden war, kam es rasch zur Arisierung seines Verlags, und er ergriff die Flucht nach Italien. Die Autorenschaft an „Ali und Nino” reklamierten in den nächsten Jahrzehnten aber einerseits die Erben der Gräfin Ehrenfehls für sich, andererseits wollte das moslemische Aserbaidschan mindestens ebenso lange nicht wahrhaben, dass das Nationalepos ausgerechnet von einem Juden verfasst worden sein sollte. Erst die jahrelange Recherche von Tom Reiss hat dazu geführt, dass auch hier heute das Werk nicht mehr dem 1943 verstorbenen großen Dichter Jusuf Vasir Tschamanzaminli zugeschrieben wird.
Nussimbaum aber versuchte in Mussolinis Italien ein letztes Mal, seinem Schicksal einen Streich zu spielen. Über Umwege diente er sich der Umgebung des faschistischen Diktators an und machte sich erbötig, die Biographie des „Duce” zu schreiben. Für Nussimbaum ging es nur mehr um das nackte Überleben. Erkrankt an der schlimmsten Form der Raynaud’schen Krankheit musste er sich das Morphium zur Bewältigung der unerträglichen Schmerzen nach der Amputation seiner Beine buchstäblich erbetteln.
Lev Nussimbaum starb 1942 mit nur 37 Jahren in Positano. Der Totenschein lautet auf Essad Bey. Die Spur seines Vaters verliert sich etwa zur selben Zeit: Abraham Nussimbaum soll im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden sein, während Hitlers Armeen scheinbar unaufhaltsam in Richtung Baku vorstiessen. Lev Nussimbaums erstes Buch aber hieß 1924 prophetisch: „Öl und Blut im Orient“.