Seit Elie Rosen, Präsident der jüdischen Gemeinde in Graz, vor zwei Jahren tätlich angegriffen wurde und Anschläge auf die Synagoge verübt wurden, sind die jüdischen Einrichtungen der Landeshauptstadt streng bewacht. Wie schwer ist es, eine jüdische Gemeinde in der Steiermark aufzubauen und zu betreuen? Ein Lokalaugenschein.
Von René Wachtel
Schon von Weitem sehe ich den hohen Zaun. Seit dem tätlichen antisemitischen Angriff auf Elie Rosen und den Anschlägen auf die Synagoge 2020 ist die Liegenschaft, auf dem sich Gotteshaus und Verwaltungsgebäude befinden, streng bewacht. Rosen begrüßt mich in seinem Büro im ersten Stock. Er fühle sich seit dem Vorfall sicher, sagt er. Er hat Personenschutz, die Zusammenarbeit mit Polizei und Verfassungsdienst bezeichnet er als sehr gut. Damit sind wir schon beim ersten Thema: Antisemitismus in der Steiermark beziehungsweise in Graz. Die Stadt an der Mur hat einen hohen moslemischen Bevölkerungsanteil, die Islamistenszene in Graz ist sehr aktiv. „Andererseits pflegen wir sehr gute Kontakte zur Islamischen Religionsgemeinschaft, die sich durchwegs um Ausgleich bemüht. Das sind jedenfalls bessere Kontakte als zur katholischen Geistlichkeit hier in Graz. Aber vermutlich ist hier der Antisemitismus nicht stärker als sonstwo in Österreich.“
Wechselhafte Geschichte
Das zeigt auch ein kurzer Blick in die jüdische Vergangenheit des Landes. Im Mittelalter war Juden vor allem Handel und Geldleihe erlaubt, außerhalb von Graz durften sie in Judenburg, Murau, Bruck/Mur, Hartberg und Voitsberg ihren Geschäften nachgehen. Auch das damals zur Steiermark gehörende Marburg hatte eine bedeutende mittelalterliche jüdische Gemeinde. Doch 1497 kam es zur Vertreibung der Juden durch Maximilian I. Diese „Judensperre“ dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, ehe es im Zuge der Revolution 1848 und durch das Staatsgrundgesetz von 1867 zur Gleichberechtigung der Juden kam.
Bald wuchs die Gemeinde in Graz wieder auf rund 1200 Menschen an, 1887 wurde eine große Liegenschaft am Grieskai erworben, wo sich auch heute noch der Sitz der jüdischen Gemeinde befindet. 1892 wurde auf dem Gelände nach Plänen von Maximilian Katscher die große Synagoge errichtet, der erste Rabbiner, Samuel Mühsam, nahm seine Arbeit auf.
Anfang des 20. Jahrhunderts sollte die Gemeinde mit 2200 Mitgliedern ihren Höchststand erreichen. Doch der Nationalsozialismus bereitete dem jüdischen Leben auch in der Steiermark ein jähes Ende, 1940 erklärte sich die steirische Landeshauptstadt als „judenrein“. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten einige Familien wieder nach Graz zurück, 1946 konstituierte sich wieder eine jüdische Gemeinde. Als einer der Präsidenten fungierte von 1980 bis 2000 der gebürtige Grazer und britische Honorarkonsul für Kärnten und Steiermark, Kurt David Brühl (1929–2014). In seine Amtszeit fiel auch die von der Stadt initiierte Errichtung der neuen Synagoge, die am 9. November 2000 – 62 Jahre nach der Zerstörung des alten Gotteshauses – feierlich eröffnet wurde.
Klein, aber aktiv
Heute gebe es rund 150 Gemeindemitglieder, erzählt Rosen, wobei fast alle in Graz leben. Nur eine Familie wohnt in Hartberg. In Kärnten zähle man fast gar keine Mitglieder. „Wir versuchen ein ganz normales Gemeindeleben zu organisieren. In der Synagoge finden zumindest alle zwei Wochen zu Schabbatot Gebete mit Kidduschim statt, bei denen jetzt auch öfters der Oberrabbiner für Slowenien zu Gast ist, Rabbiner Ariel Haddad aus Triest. Das wird sehr gut angenommen. Und mit koscherem Catering, das aus Wien geliefert wird, versuchen wir, in familiärer Atmosphäre den Freitagabend und Samstag zu begehen. Auch zu Rosch ha-Schana, Jom Kippur, Pessach oder Chanukka gibt es gemeinsame Feierlichkeiten für die Gemeindemitglieder.“ Doch da würden auch die Schwierigkeiten des religiösen Lebens beginnen, so Rosen. „Es gibt derzeit keinen ständigen Rabbiner in der Stadt und natürlich keine koscheren Geschäfte. Letztes Jahr ist auch der Schammes unserer Synagoge verstorben, Freiwillige halten sich in Grenzen.“ Als Landesrabbiner kommt Schlomo Hofmeister aus Wien und bietet etwa Schiurim an. „im Jahr 2016 hatten wir sogar eine dreifache Bar-Mizwa. Das war ein besonderes Ereignis“.
Doch es müsse nicht jede Jüdin und jeder Jude Mitglied der Gemeinde sein, präzisiert Elie Rosen seinen eher pragmatischen Ansatz, nur diese selbst offen für alle. Mittelfristig erachtet er dennoch Migration als einzige Möglichkeit, das Überleben kleinerer Gemeinden zu sichern. Ein anderes Problem seien die Konversionen, bei denen die Nachfrage größer sei als die Möglichkeiten: „Am Land ist es faktisch unmöglich geworden, Übertritte umzusetzen.“ Seitens der Autoritäten sei vielfach die Ansicht vertreten worden, dass man in Österreich nur in Wien jüdisch leben könne. Konversionen von Personen aus der Provinz, die es immer gegeben habe, seien daher überwiegend abgelehnt worden. „Dabei ignoriert man aber das historische Faktum des Landjudentums.“ Immerhin wird in Graz jüdischer Religionsunterricht, organisiert als Sonntagsschule, angeboten. Religionslehrer ist Avi Eliassi, ein gebürtiger Israeli, der seit mehr als dreißig Jahren in Graz lebt und auch Iwrit unterrichtet.
Große Resonanz
Wir besuchen die neue Synagoge, das Prunkstück der Gemeinde, mit der Kubatur des Wiener Stadttempels und zweihundert Sitzplätzen. Nach dem Einbau einer Beschattungs- sowie einer Klimaanlage ist das Gebäude auch im Sommer gut nutzbar. Das Untergeschoß beherbergt das Gemeindezentrum mit eigener Küche. Eine Dauerausstellung im ebenfalls im Untergeschoß gelegenen Foyer erzählt die wechselvolle Geschichte der jüdischen Gemeinde in der Steiermark. Seit Anfang 2017 wird auch ein pädagogisches Programm für Schulen angeboten, das viele Klassen in die Synagoge und die Ausstellung bringt. Zudem hat die Gemeinde eine eigene Lern-App zum Judentum entwickelt.
Dass es ihm gelungen ist, die Wahrnehmung der jüdischen Gemeinde durch zahlreiche Aktivitäten und Initiativen im kulturellen Bereich deutlich zu steigern, erfüllt Präsident Rosen mit Stolz. „Da ist zum Beispiel das mobile Bethaus als Einladung zur Auseinandersetzung mit der jüdischen Gemeinde: Die Installation der Künstler Oskar Stocker und Luis Rivera wurde letzten Sommer am Grazer Hauptplatz präsentiert und kam so gut an, dass sie in der Zwischenzeit auch in Innsbruck gezeigt wurde und nun nach Salzburg gehen soll.“ Auch die Chanukka-Installation des slowenischen Künstler Matic Veler voriges Jahr vor der Synagoge fand viel Beachtung.
Auf große Resonanz stößt auch der jüdische Neujahrsempfang zu den hohen Feiertagen. „Leider war dies in den letzten zwei Jahren coronabedingt nur eingeschränkt möglich, aber heuer wollen wir wieder unser Möglichstes tun. Es ist ein zwangloses Zusammenkommen von Gemeindemitgliedern mit Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft der Stadt Graz.“
Apropos Entscheidungsträger: Auf rund 400 Quadratmetern im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes soll ein jüdisches Kulturzentrum entstehen, wesentliche Eckpunkte wie die Finanzierung sind mit Stadt und Land bereits geklärt. Noch dieses Jahr soll mit dem Umbau begonnen werden, 2024 die planmäßige Eröffnung stattfinden. Neben Konzerten, Ausstellungen und Vorträgen soll auch eine Position für Artists in Residence für junge jüdische Künstlerinnen und Künstler eingerichtet werden.
Am Ende unseres Gespräches äußert Elie Rosen noch einen besonderen Wunsch: „Ich möchte mittelfristig einen hauptverantwortlichen Rabbiner hier in Graz vorstellen. Das könnte die Gemeinde aufwerten und eine magnetische Wirkung entfalten, will aber gut überlegt sein.“
Bei meiner Rückfahrt nach Wien denke ich darüber nach, wie schwer es ist, selbst in einer mittelgroßen Stadt wie Graz eine kleine jüdische Gemeinde aufzubauen und mit Leben zu füllen. Ich werde in den nächsten Ausgaben von NU auch über die anderen jüdischen Gemeinden in Österreich berichten.